Wildcat Nr. 66 - Juli 2003 - S. 6-10 [w66super.htm]


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Die zweite Supermacht?

In der Wildcat-Sondernummer zum Krieg endete der einleitende Artikel mit der These, dass auf die im Abstieg befindliche hegemoniale Weltmacht USA nicht wie in früheren Zyklen eine neue staatliche hegemoniale Macht folgen wird, sondern das globale Proletariat die »wirkliche, zweite Supermacht« sei. Diesen Schluß fanden viele überraschend und nicht durch die Argumentation im Artikel gedeckt. Mißverstanden wurde auch der Gebrauch des Hegemonie-Begriffs, weil dieser heute mit einer Debatte verbunden ist, in der ein besserer und sanfterer Weltkapitalismus unter der Führung (griechisch: hegemon) Europas beschworen wird (Todd, Habermas, Derrida usw.). Und schließlich haben einige gefragt, warum wir uns auf die Weltsystemanalyse (Wallerstein, Arrighi, Frank ...) beziehen, ob wir darin eine Alternative zu marxistischen oder operaistischen Ansätzen sehen. Der folgende Beitrag geht auf diese Mißverständnisse und Fragen ein und beleuchtet die Situation nach dem »Sieg im Irak«.

Die Theoriekiste

Revolutionäre Theorie zielt auf kein System und bildet keine Schule - sie kann nur in der beständigen Kritik der Verhältnisse und erstarrter Ideologien und Ismen lebendig bleiben. Das paßt nicht zu dem an Unis und auf dem Markt der Theorien betriebenen Schubladendenken. Wir haben immer unseren Spaß, wenn Leute uns in Kästchen stecken, auf denen »syndikalistisch«, »marxistisch«, »anarchistisch«, »operaistisch«, »rätekommunistisch«, »spontaneistisch« etc.pp. drauf steht. In den letzten Jahren haben wir im Wildcat-Zirkular eine ganze Reihe von theoretischen Ansätzen vorgestellt und diskutiert - aus jedem ließe sich ein weiteres Kästchen zimmern: »hollowayistisch«, »dauvistisch«, »simonistisch«, »bordigistisch«...

Um die Wende- oder Übergangsphase des globalen Kapitalismus besser zu verstehen, haben wir uns Befunde aus der sogenannten »Weltsystemanalyse« angeguckt, weil in ihnen diese Fragen historisch untersucht werden, statt ideologiegeleitet über sie zu spekulieren oder sie kurzschlüssig in ein geschlossenes Weltbild zu überführen (Wallerstein spricht von »Weltsystemanalyse« im Gegensatz zu einer von ihm abgelehnten »Weltsystemtheorie«). An vielen Punkten bleibt ihre Kritik des Kapitalismus theoretisch oberflächlich, und ihre politischen Stellungnahmen sind zuweilen peinlich. Aber was für sie spricht ist, dass sich ihre Thesen und Theorien mit ihren Forschungen weiterentwickeln.

Historisch gesehen ...

Wallerstein zufolge kann nicht ein Land oder der Nationalstaat Ausgangspunkt der Analyse sein, sondern die »Weltwirtschaft«, die durch ein System der Arbeitsteilung miteinander verbunden ist. Die Situation und das Klassenverhältnis in einem Land können nur im Zusammenhang mit dem gesamten Staatensystem, seiner Hierarchie und der zwischen den Regionen stattfindenden Ausbeutung geklärt werden. Entstanden ist diese Debatte in den 70er Jahren aus der Kritik am Begriff »Unterentwicklung«, der unterstellt, die Länder der »Peripherie« könnten und müßten einfach nachholen, was in den westlichen Industrieländern bereits geschehen ist. Aber ihre »Unterentwicklung« beruht auf ihrem Zusammenhang mit den Industrieländern, die ihnen eine beschränkte Rolle als Rohstoff- und Agrarproduzenten in der internationalen Arbeitsteilung aufzwingen konnten: sie sind »unterentwickelt«, weil andere Länder »entwickelt« sind.

Um den produktiven globalen Zusammenhang als Ausgangspunkt stark zu machen, schießt Wallerstein gegen den Begriff der »industriellen Revolution« und damit gegen eine genauere Bestimmung der kapitalistischen Produktionsweise. Er wittert hierin den Versuch, den Wohlstand der reichen Länder aus ihrer eigenen schöpferischen Erfindungskraft zu erklären und damit die Ausplünderung der übrigen Welt vergessen zu machen. Damit handelt er sich aber mehrere blinde Flecken ein: u.a. kann er nicht erklären, wieso ausgerechnet Europa zu einer dominierenden Kernregion wurde, warum es überhaupt kapitalistisch wurde. Robert Brenner hat damals betont, dass die Entwicklung Europas zum Kapitalismus nicht allein aus den Kern-Peripherie-Beziehungen, sondern aus dem Verlauf der Klassenkämpfe vor allem in England zu verstehen ist. Das bestimmte Klassenverhältnis - subsistenzlose, vagabundierende Arbeitskräfte - und später die Entwicklung einer besonderen Technik, sie auszubeuten, - die Fabrik - brachten die kapitalistische Dynamik hervor, die sich dann die Welt untertan machte. Mit dieser neuen Produktionsweise konnte England wirtschaftlich wie militärisch alle anderen Gebiete der Welt in seine Abhängigkeit bringen.

... die wachsende Macht der Arbeiterklasse

Dieser Strang, der Zusammenhang zwischen Dominanz im globalen Staatensystem, Produktionsweise und Klassenkampf ist vor allem von Giovanni Arrighi und Beverly Silver weiterentwickelt worden. Arrighi hat den Zusammenhang zwischen der Weltwirtschaftskrise in den 70er Jahren und der Flucht des Kapitals in Kredit- und Finanzgeschäfte genauer untersucht. Dabei ist er darauf gestoßen, dass es das in der Geschichte schon öfter gegeben hat - und zwar jedesmal, wenn eine Phase starker kapitalistischer Akkumulation an ihr Ende gekommen war. Zyklen der schnellen und stabilen Ausweitung der Produktion und des Welthandels mündeten immer wieder in Überakkumulationskrisen, die zu einer Zunahme der spekulativen Kapitalverwertung führten. Die Expansionsphasen wurden jedesmal von einer dominierenden politischen Macht getragen - Arrighi sieht vier in der Geschichte des Kapitalismus: Genua im 16. Jahrhundert, Holland im 17., Britannien bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, danach die USA. In den Phasen der krisenhaften Überakkumulation können die Träger des vorhergehenden wirtschaftlichen Aufschwungs durch das Ausweichen auf die Finanzebene die Früchte ihrer hegemonialen Stellung einfahren, da sie den Prozeß der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab kontrollieren. Aber sie verlieren damit auch ihre internationale Machtstellung, die sie aufgrund der schnellen quantitativen und qualitativen Entwicklung der Produktion gewonnen hatten. In den früheren Krisenphasen wurde dies am Auftauchen einer neuen Macht sichtbar, die der alten Hegemonialmacht wirtschaftlich und damit auch militärisch überlegen wurde.

Arrighi will präziser ausmachen, was in der heutigen Entwicklung das Neue ist - und was die bloße Wiederkehr der alten Scheiße. Das Auftauchen des Finanzkapitals, der neoliberale Angriff auf alle Einschränkungen der Bewegungsfreiheit des Kapitals, das Phänomen der Globalisierung - all das findet sich schon in früheren Zyklen der kapitalistischen Entwicklung. Das Neue liegt zum einen im Ende der Nationalstaaten - wobei Arrighi (im Gegensatz etwa zu »Empire«) feststellt, dass es noch keinerlei Ansätze für einen neuen Typ von globaler Ordnungsmacht gibt. Radikalisiert wird diese Beobachtung bei Wallerstein (z.B. in »Utopistik«): seit der »Weltrevolution« von 1968 habe es eine breite und langfristige Abwendung der proletarischen Bewegungen vom Staat und von Staatlichkeit überhaupt gegeben. Dies sei eine wichtige Voraussetzung für die kommenden Bewegungen gegen das System, weil alle früheren Bewegungen - Arbeiterbewegungen wie nationale Befreiungsbewegungen - in ihrem Glauben an den Staat steckengeblieben waren.

Zweitens betont Arrighi die historisch neue Rolle des Proletariats im gegenwärtigen Übergang. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus waren die Klassenkämpfe in den Metropolen und in der Peripherie in den 70er Jahren nicht Reaktionen auf die Krise des Kapitals, sondern brachten diese hervor und beschleunigten sie. Die finanzielle Expansion des Kapitals sei als Eindämmung der kombinierten Forderungen und Ansprüche der Arbeiterklassen des Nordens und des Südens zu verstehen. Gegenüber einem vorschnellen Optimismus, der auf ein global einheitliches Proletariat (oder new-speak »multitude«) setzt, betont er die Wirksamkeit der Nord-Süd-Spaltung, die in den letzten 40 Jahren bemerkenswert stabil geblieben sei und sich teilweise noch vertieft habe. Eine Besonderheit ist allerdings die enorme Verlagerung von Industrie nach Ostasien, die dort zu dramatisch zunehmenden Klassenkämpfen geführt hat.

Im Forschungsprojekt »Arbeiterunruhen in der Weltwirtschaft, 1870-1990« (1995) haben Beverly Silver und Arrighi diese Beobachtungen präzisiert. Schon die Herausbildung der Weltordnung unter Führung der USA musste auf den Druck der Arbeiterklasse eingehen und konnte sich neben der Repression gegen alle radikalen Kämpfe nur mit dem Versprechen etablieren, der ganzen Welt einen »new deal« aus Vollbeschäftigung und Lohnsteigerungen in den Metropolen und nationaler Entwicklung in der Peripherie anzubieten. Denn die am Ende des Ersten Weltkriegs zum Vorschein gekommene neue strukturelle Macht der Arbeiterklasse ließ sich nicht rückgängig machen. Sie konnte durch weitere Kriege und Terrorherrschaft eingedämmt werden, aber der Kapitalismus bekam nur dadurch eine neue Chance, dass die herrschenden und hegemonialen Kräfte auf diesen Druck eingingen. »In der Herausbildung der US-Hegemonie wurde die Arbeiterklasse zum ersten Mal in der Geschichte eine Kraft, die das Aussehen des globalen politischen Systems beeinflußte.« (Arrighi/Silver, Workers North and South, in: Socialist Register 2001)

Die Klassenkämpfe und Aufstände der 70er Jahre waren die erste Reaktion darauf, dass der Kapitalismus seine Versprechungen nicht einhalten konnte. In der Folge können die Kämpfe zwar eingedämmt werden, aber der Glaube an den Staat als den Garanten einer Verbesserung der Lebensverhältnisse ist unwiderruflich verloren gegangen. Und strukturell kann das Kapital der gewachsenen Macht der Arbeiterklasse nicht entfliehen. In Kritik an gängigen Globalisierungsvorstellungen zeigen Arrighi/Silver, dass die Schwäche der Klassenkämpfe gerade nicht auf der Internationalisierung der Produktion beruht - sondern auf deren Ausbleiben. Wo es wirklich zu Industrieansiedlungen gekommen ist (wie in Südkorea und China) haben sich sehr schnell dieselben Kampfformen und Lohnforderungen entwickelt, vor denen das Kapital zu fliehen versucht hatte. Was die Kämpfe schwächte und die alten Strukturen zersetzte, war die Flucht des Kapitals ins Geld. Und damit ist die Reichweite dieses Angriffs begrenzt, weil er nicht auf neuen Produktionsstrukturen beruht (wie es die »Postfordismus«-These behauptet), sondern auf der Unfähigkeit des Kapitals, eine neue Produktionsweise zu entwickeln. Arrighi und Silver sehen daher in der »Entmachtung der gesellschaftlichen Bewegungen ... ein konjunkturelles Phänomen«. Sie gehen davon aus, »dass gesellschaftliche Widersprüche bei der Ausprägung sowohl der sich entwickelnden Übergangsperiode wie bei dem, was auch immer als neue Weltordnung aus dem heraufziehenden systemischen Chaos entstehen mag, eine sehr viel entscheidendere Rolle spielen werden als je zuvor«. Aber sie sind keine optimistischen Schwärmer - die Antwort auf die Frage, was daraus hervorgehen wird, »liegt letztlich in der Hand der Bewegungen«. (Arrighi/Silver, Chaos and Governance in the Modern World System, 1999)

Wenn wir diese Überlegungen weiterdenken, kommen wir zur Frage, was denn nach dem »globalisierten New Deal« der US-amerikanischen Hegemonie eine noch stärkere Prägung der nächsten Weltordnung durch den kombinierten Druck des Proletariats bedeuten kann. Keynesianismus und Sozialpartnerschaft hoch zwei? Wohl kaum. Die hatten ihre Chance. Niemand kann ausschließen, dass es noch einmal zu einer erfolgreichen Etablierung einer kapitalistischen Ordnung auf Weltebene kommen kann - die historischen Untersuchungen zeigen uns aber, welche Möglichkeiten und Öffnungen entstehen, wenn sich eine solche Ordnung im Niedergang befindet. In diesem Sinne interessiert uns der Niedergang der hegemonialen Stellung der USA, der Fragen von einer Dimension aufwirft, die auf absehbare Zeit kein anderer Hegemon ausfüllen kann. Und in diesem Sinne steht die Frage nach dem globalen Proletariat als »zweiter Supermacht« auf der Tagesordnung.

muddling through the quagmire

»muddling through« nannten wir das Editorial des letzten Wildcat-Zirkulars (Nr. 65), »fragging« schrieben wir auf den Umschlag der Sondernummer zum Krieg. Und jetzt »quagmire« - wird das hier ein Englisch-Kurs? Ein bißchen Englisch kann nicht schaden: es sind die Begriffe, in denen die Strategen der letzten Supermacht ihre eigenen Probleme fassen:

»muddling through«, Durchwurschteln, kennzeichnet die Wirtschaftspolitik der USA, die sich von einem zum nächsten Bubble hangelt und der Gefahr einer Deflation ins Auge sieht. Der Konsum dieser »Lokomotive der Weltwirtschaft« beruht auf gigantischen Kapitalzuflüssen aus dem Ausland - bleiben diese aus, so würde das die gesamte Weltwirtschaft in den Abgrund reißen. Daher müssen die USA Kriege führen, egal gegen wen, um ihre Macht zu demonstrieren und die Rolle des Dollars als sicherstem Hafen des Kapitals aufrechtzuerhalten. Aber die rein militärische Machtdemonstration stößt auf einen dreifachen Widerspruch: (1) wenn sie nicht von einer allgemein anerkannten gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Perspektive begleitet wird, wie es der »american way of life« einmal war, verkehrt sie sich ins Gegenteil und treibt die USA in die Isolation. Eine solche Perspektive können die USA heute nicht anbieten, weil das Kapital sich nicht mehr als identisch mit gesellschaftlichem Fortschritt darstellen kann. Diese allgemeine Grenze der kapitalistischen Entwicklung drückt sich so aus, dass die USA der ganzen Welt »Freihandel« und »Liberalisierung der Finanzmärkte« aufzwingen, weil sie damit ihre hegemoniale Stellung ausnutzen können (Arrighi).

Die Ausplünderung der Welt durch die USA ist nicht der Grund für die Krise, sondern der letzte Mechanismus, ihr volles Ausbrechen zu verhindern - andererseits beschleunigt diese Ausplünderung den Niedergang der Hegemonialmacht. Den Ökonomen und Wirtschaftsbossen in den USA ist das bewusst, und sie warnten die Regierung nachdrücklich vor den wirtschaftlichen Folgen ihrer militärischen Alleingänge. Am 7. April erschien in business week ein dringender Appell an die Regierung: »Damit wir es nicht vergessen: keine Wirtschaft ist eine Insel. Wenn der Krieg vorbei ist, werden die USA mehr denn je Handelspartner brauchen!« Wenn die Regierung nach dem Krieg die politischen Beziehungen der USA zum Rest der Welt nicht wieder »repariert« (!), werde sie die wirtschaftlichen Konsequenzen ihrer Alleingänge zu tragen haben. Gut gemeint, aber kann die US-Regierung überhaupt etwas anderes tun, als auf die letzte Karte zu setzen, die sie noch hat - ihre militärische Überlegenheit?

Auch nach dem Krieg führt die US-Regierung ihre Politik der (Selbst-)Isolierung weiter. Durch Sonderabkommen mit einzelnen Ländern verhindert sie den Internationalen Strafgerichtshof, Belgien wird befohlen, keine Strafverfolgung von US-Kriegsverbrechern zuzulassen, Rumsfeld fordert die US-Rüstungskonzerne auf, sich bei der Pariser Luftfahrtmesse zurückzuhalten, besessen wird am Raketenabwehrsystem weitergearbeitet... Für besondere Empörung sorgte ein Vorstoß der USA in Mexiko: Kurz nach dem Sieg im Irak wurde in den USA ein Gesetz auf den Weg gebracht, das eine Erleichterung der Einwanderung aus Mexiko davon abhängig macht, dass Mexiko seine verstaatlichte Ölfirma PEMEX für Investoren aus den USA öffnet... Auf der ganzen Welt hat das Ansehen der USA im Gefolge des Irak-Kriegs schwer gelitten - und weltweit wächst die Angst vor den USA.

(2) »Fragging« nannten die Soldaten in Vietnam das Umlegen von Vorgesetzten - der deutlichste Ausdruck des Widerstands der »Proletarier in Uniform« gegen einen Krieg, in dem sie verheizt wurden. Die politische Anerkennung der Arbeiterklasse und ihrer Macht ist geschichtlich eng mit dem Krieg verbunden. Die Notwendigkeit der Nationalstaaten, für ihre Kriegsführung loyale Soldaten aus der Arbeiterklasse rekrutieren zu können, führte zur Anerkennung und Beteiligung von Arbeiterparteien und Gewerkschaften. 1914 erreichten die Gewerkschaften in Deutschland schlagartig, was sie lange gefordert hatten. Aber die Grausamkeit der modernen, industriellen Kriege führte zu breiten proletarischen Aufständen gegen Krieg und Kapitalismus. Zum »globalisierten New Deal« des »amerikanischen Friedens« (pax americana) nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte das Versprechen an die Proletarier, nicht weiter in Kriegen als Kanonenfutter verheizt zu werden. Der Vietnamkrieg markierte auch innenpolitisch den Anfang vom Ende, weil in ihm dieses Versprechen nicht gehalten werden konnte. Die oberste Devise aller Kriege der USA seither war die Vermeidung eigener Verluste. Die Kriege gegen den Irak 1991 und gegen Afghanistan 2001 waren Bombardierungen aus der Luft...

Das »fragging« auf dem Sonderheft zum Krieg haben manche so verstanden, als würden wir in erster Linie auf den Widerstand innerhalb der US-Armee setzen. Aber die US-amerikanischen und britischen Soldaten haben bis auf ganz wenige Ausnahmen mitgespielt, das Morden durchgeführt und verhalten sich wie typische Besatzer im Irak - mit allem was dazugehört: Plündern, Morden, Erniedrigen, Vergewaltigen. Den USA ist es gelungen, in recht kurzer Zeit den Irak zu besetzen und ihre Überlegenheit zu demonstrieren (wobei auch Absprachen mit führenden irakischen Militärs oder möglicherweise Saddam Hussein selbst eine Rolle gespielt haben dürften). Solange es so läuft, werden sich Soldaten entsprechend verhalten. In Vietnam entwickelte sich der Widerstand erst, als es zu hohen eigenen Verlusten kam - das »fragging« wurde zur Überlebensfrage, aber damit wurde auch die Erkenntnis möglich, dass der Gegner nicht der offizielle »Feind«, sondern die eigenen Unterdrücker sind. Für Revolutionäre besteht hier ein Dilemma: wir können uns nicht wünschen, dass es zu langen Kriegen mit hohen Verlusten kommt. Dass die Zahl der zivilen Todesopfer im Verhältnis zu vorherigen Schätzungen relativ niedrig blieb (zu viele sind es allemal!), ist auch dem internationalen Druck und der Angst der USA vor einer völligen Entlegitimierung ihrer Kriege zuzuschreiben. Andererseits werden Soldaten erst dann Widerstand gegen ihre eigenen Führer entwickeln, wenn es um ihr eigenes Leben geht. »Fragging« sollte daran erinnern, dass es in jedem Krieg auch diese Perspektive eines proletarischen Widerstands im Militär gibt - und dass hohe eigene Verluste nach wie vor eine Grenze darstellen, die die US-Strategen nicht zu überschreiten wagen.

(3) Als »quagmire« (Sumpf, Morast) bezeichnete der ranghohe Ex-General William Nash die Situation im Irak (Observer, 22.6.03). Nash, der beim Vietnam-Krieg, beim Golfkrieg 1991, in Bosnien und im Kosovo dabei war, hält der US-Führung vor, sich durch ihre Besatzungspolitik im Irak ihre eigenen Feinde zu schaffen. Man habe völlig unterschätzt, wie unbeliebt die USA nach zwölf Jahren Sanktionen im Irak sind. Eine Studie der NGO International Crisis Group (»Baghdad: A Race Against the Clock«, 11. Juni 2003) warnt davor, dass die fehlenden Bemühungen der Besatzungsmacht zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen im Irak zu einer breiten Opposition in der Bevölkerung führen können. Die ganze Konzeption und Durchführung der Besetzung des Iraks scheint die These zu bestätigen, dass es um eine fast verzweifelte Demonstration von (militärischer) Macht geht - ohne irgendeinen Plan gesellschaftlicher Entwicklung. Und hier kam ein Kommentar auch ohne Englisch aus: »Bush und Blair sitzen in der irakischen Falle und wissen nicht, wie sie wieder herauskommen sollen.«

Der schwedische Friedensforscher Jan Oberg hat die Zusammensetzung der US-amerikanischen Verwaltung im Irak durchleuchtet und kommt zu dem Fazit: Es ist eine rein militärische Verwaltung mit keinerlei Erfahrung im zivilen Bereich. Sie hat sich im alten Präsidentenpalast verschanzt, ist unerreichbar. Anordnungen werden über Radio verkündet, was viele wegen der fehlenden Stromversorgung nicht hören können. Eine der ersten Anordnungen war die Auflösung der Baath-Partei am 16. Mai. Ähnlich wie die Auflösung der Armee bedeutet das für Zigtausende die Arbeitslosigkeit. Dabei war die Mehrheit der zivilen Angestellten, der Polizisten und Ingenieure des irakischen Staatsapparats formal Mitglied der Baath-Partei und begrüßte die Beseitigung Saddam Husseins. Die US-Verwaltung bringe damit laut ICG die Masse der kleinen Beamten gegen sich auf, statt die regimeloyalen Kräfte der Baath-Partei zu isolieren. Mehrfach haben US-Soldaten auf Menschenmengen geschossen und Leute getötet, die ausstehende Löhne oder Arbeitsplätze forderten. Verprellt hat die Militärverwaltung mittlerweile auch die gesamte bürgerliche Opposition aus Exil-Irakern und kurdischen oder schiitischen Lokalfürsten. Sie werden auf absehbare Zeit nichts zu sagen haben und mit einem Alibi-Beirat abgespeist.

Auch sonst haben sich die USA bemüht, sämtliche Vorwürfe, die gegen ihren Einmarsch im Irak erhoben wurden, zu bestätigen: es gehe ihnen um ihre eigenen wirtschaftlichen Vorteile, im Vordergund stehe der Zugriff auf das Öl und die Zerschlagung der OPEC, es werde zu keiner Demokratisierung, sondern einer langfristigen Besatzungsverwaltung kommen, der Zugriff auf den Irak sei wichtig für ihre geostrategische Festsetzung in der Region, die Verfügung über das Öl sei auch ein wichtiges Mittel, um die Dominanz des Dollars zu sichern und neue Finanzmittel in das US-amerikanische Bankensystem zu spülen. Dazu ein paar Beispiele:

Ein letzter amerikanischer Fachbegriff:

Imperial Overstretch

All das heißt keineswegs, dass die USA in absehbarer Zeit tatsächlich Gewinne aus der Besatzung des Irak einfahren werden. Im Gegenteil kommen enorme Kosten auf sie zu. Während der erste Krieg gegen den Irak fast vollständig von Saudi-Arabien, Kuwait, Europa und Japan bezahlt wurde, müssen die USA nun den wenigen Ländern, die sie militärisch unterstützen wollen, dafür Geldmittel anbieten. Die Einnahmen aus irakischen Ölexporten werden bei weitem nicht die Kosten des Wiederaufbaus, ganz zu schweigen von den Kosten der Besatzung, decken. Anfang Mai mussten die USA Benzin aus Nachbarländern einführen, um die angespannte und zu Konflikten führende Versorgungslage zu beruhigen.

Die USA haben 146 000 Soldaten im Irak und 67 000 in Kuwait stationiert. Zusammen mit den Soldaten in Afghanistan kostet sie dies schätzungsweise 54 Mrd. Dollar jährlich. Wenn die Anschläge auf Soldaten der Besatzungsmächte zunehmen, wird die Forderung nach einer Aufstockung der Kräfte laut werden. Am 10. Juni trat der Heeres-Stabschef der USA Eric Shinseki zurück, weil er Rumsfelds Vorstellungen zur Heeresreform nicht folgen wollte. Shinseki hatte erklärt, für die Befriedung des Irak nach dem Krieg seien »mehrere hunderttausend Soldaten« erforderlich - was Rumsfeld als weit übertrieben zurückweist.

Afghanistan und der Irak zeigen, dass die USA nur noch in einer Art Hit-and-Run-Strategie »Siege« vorweisen können, die keine sind. Sie können technologisch militärische Überlegenheit demonstrieren, aber der gesamte Westen, inklusive Europa und der BRD, können keine Befriedung der explosiven sozialen Spannungen erreichen. Mit ihrem Einsatz im Kongo soll die Entwicklung einer europäischen Militärpolitik vorangetrieben werden. Versuchen die europäischen Staaten, sich ihr eigenes »quagmire« zu schaffen?


Literaturhinweise

:

Giovanni Arrighi, Capitalism and the Modern World-System: Rethinking the Non-Debates of the 1970s (1997)

Giovanni Arrighi, Entwicklungslinien des Empire: Transformation des Weltsystems, in: Thomas Atzert / Jost Müller (Hrsg.): Kritik der Weltordnung, ID Verlag Berlin 2003, S. 11-28

Giovanni Arrighi / Beverly J. Silver, Workers North and South, in: Socialist Register 2001

Im Juni 2003 ist ein neues Buch von Beverly Silver erschienen: Forces of Labor. Workers Movements and Globalization since 1870 (Cambridge University Press 2003, ISBN 0521520770, 21 Euro), in dem sie die hier skizzierten Forschungen genauer darstellt, insbesondere an der Entwicklung der Arbeiterkämpfe in der weltweiten Textil- und Automobilindustrie - in der nächsten Ausgabe werden wir es ausführlicher besprechen.


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