Wildcat Nr. 66 - Juli 2003 - S. 39-41 [w66telef.htm]


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Studentinnen sind
Praktikantinnen sind
Arbeiterinnen

Bislang findet der Klassenkampf in Argentinien überwiegend auf der Straße und in Pleitebetrieben statt. Arbeitslose ArbeiterInnen verleihen als piqueter@s mit massiven Straßenblockaden ihren Forderungen Nachdruck. ArbeiterInnen besetzen Betriebe, die pleite gegangen sind oder kurz davor standen, und bringen die Produktion selbstorganisiert wieder in Gang. 180 Betriebe sollen mittlerweile besetzt sein, mit etwa 20 000 Beschäftigten. Piqueter@s [1] und BetriebsbesetzerInnen sind zum Bezugspunkt der Bewegungen geworden. Aber sie sind eine kleine Minderheit, angesichts von immer noch acht Millionen Menschen, die in Argentinien als Staatsangestellte und in »normalen« kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen arbeiten. Die Masse der ArbeiterInnen in Argentinien steht weiterhin unter Kontrolle der staatstragenden Gewerkschaften. Zu größeren Streiks ist es in den anderthalb Jahren seit dem Aufstand nicht gekommen. An der Arbeitsfront herrscht weitgehend Ruhe. Weitgehend, aber nicht überall. Es gibt Oppositionslisten, die versuchen, aus der gewerkschaftlich verordneten Lethargie auszubrechen, vor allem im Öffentlichen Dienst. Und es gibt Ansätze autonomer Organisierung, wie bei den sogenannten »PraktikantInnen« in den Call Centern der Telefónica. Nach mehreren Jahren untergründiger Organisierung machen sie im Dezember 2001, kurz vor dem argentinischen Aufstand, ihre erste Kampferfahrung. Sie bestreiken zwei Call Center und halten fünf Tage lang die Gebäude besetzt.

Die spanische Telefónica gilt als Symbol für den Ausverkauf des Landes und die Folgen der Privatisierung: entlassene ArbeiterInnen und überteuerte Gebühren. Nachdem die staatliche Telefongesellschaft ENTEL 1990 privatisiert und an die Multis Telefónica de España und France Telecom verkauft wurde, sind von den ehemals 42 000 Beschäftigten nur noch die Hälfte übrig. In den fünf Call Centern, die Telefónica in Buenos Aires betreibt, arbeiten seit zehn Jahren fast nur Prekäre. Festangestellte sind allenfalls in der Verwaltung und in der Hierarchie anzutreffen. An den Telefonen wird 80% der Arbeit von »PraktikantInnen« erledigt, der Rest von LeiharbeiterInnen. Die meisten sind Frauen. Mehr als tausend StudentInnen arbeiten hier, in Teilzeitschichten von viereinhalb oder sechs Stunden. Diese »Praktika« dauern bis zu vier Jahren. Sie sind keine Pflicht, sondern eine mit der Universität geregelte Jobmöglichkeit in Institutionen und Betrieben. PraktikantInnen gelten nicht als ArbeiterInnen. Ihr Lohn bei Telefónica ist mit 600 pesos (200 US$) für eine 30-Stunden-Woche relativ gut, aber sie sind nicht sozialversichert, Lohnbestandteile wie Prämien oder Weihnachtsgeld werden ihnen vorenthalten, und sie können sich nicht auf das Arbeitsrecht berufen oder sich gewerkschaftlich organisieren. Weder für den Betrieb noch für die Gewerkschaft gelten sie als ArbeiterInnen.

Festeinstellung für alle und sofort!

1999 haben sie angefangen, sich selbst zu organisieren. Das war wegen ihrer besonderen Situation nicht einfach. Für viele StudentInnen ist es der erste Job; sie haben keine Arbeits- und Kampferfahrung. Manche Studis betrachten sich selbst nicht als ArbeiterInnen und sehen keinen Sinn darin, sich in einem Übergangsjob für irgendetwas einzusetzen. Der erste Ansatz war die Zeitung »Der nützliche Idiot«, die an alle PraktikantInnen verteilt wurde. Die PraktikantInnen mobilisieren an der Uni und nehmen Kontakt zu ansprechbaren Leuten innerhalb der Gewerkschaft auf. Im März 2001 beginnen sie eine Öffentlichkeitskampagne: »Schluss mit den Scheinpraktika. Sofortige Festeinstellung aller PraktikantInnen«.

Im Laufe des Jahres 2001 steigt die Wut, im Land allgemein und auch in den Call Centern. Als Telefónica im November ankündigt, dass sieben StudentInnen nach Ablauf ihres »Praktikums« entlassen werden sollen, diskutieren die PraktikantInnen zwei Wochen lang und beschliessen dann, aufs Ganze zu gehen. In zwei Call Centern erklären die Versammlungen am 7.12. den unbefristeten Streik, mit Besetzung und permanenter Versammlung. Der Streik ist selbstorganisiert, ohne Gewerkschaft. Vor den besetzten Gebäuden sammeln sich UnterstützerInnen. Nach fünf Tagen haben 116 BesetzerInnen die Festeinstellung der sieben PraktikantInnen durchgesetzt - ein erster Erfolg gegen die Prekarisierung in einem der mächtigsten Unternehmen des Landes.

Die Arbeit macht verrückt und krank

Im Laufe des Jahres 2002 knüpfen sie weitere Kontakte und machen gemeinsame Aktionen mit ArbeiterInnen aus besetzten Betrieben, mit piqueter@s und asambleas. Sie demonstrieren mit den U-Bahn-ArbeiterInnen, die im Oktober 2002 versuchen, die Reduzierung ihrer täglichen Arbeitszeit auf 6 Stunden durchzusetzen. Diese berufen sich darauf, dass ihre Arbeit offiziell als gesundheitsschädlich eingestuft ist, weswegen ihnen in früheren Zeiten bereits die Arbeitszeitverkürzung zugestanden wurde. Auch die Arbeit an den Telefonen gilt als Gesundheitsgefahr. Das können die Telefónica-ArbeiterInnen nur bestätigen. Sie haben alle mit Hör- und Sehproblemen und mit psychosomatischen Erkrankungen zu kämpfen. Viele nehmen sogar Psychopharmaka, um die wahnsinnige Arbeit auszuhalten. Die PraktikantInnen planen eine Untersuchung der Arbeitsbedingungen, mit Unterstützung der Organisation CeProDH (AnwältInnen, PsychologInnen etc, die sich für Arbeiterrechte und -kämpfe einsetzen). Da die schädlichen Folgen der Arbeit im Call Center sowieso ständiges Gesprächsthema sind, wollen sie es als Punkt für die Mobilisierung aufgreifen. Mit einer Befragung sollen alle TelefonarbeiterInnen in die Untersuchung ihrer Arbeitsbedingungen einbezogen werden. Dieses Projekt könnte über den Bereich der Telefónica hinaus Bedeutung bekommen, denn Call Center boomen zur Zeit in Buenos Aires. Microsoft z.B. lässt dort neuerdings für den weltweiten Support arbeiten.

Dezember 2002: Versammlungen statt Kundenbetreuung

Im Oktober 2002 sollen wieder dreizehn PraktikantInnen nach vier Jahren gehen. Auch in ihrer Abteilung wird die Versammlung der PraktikantInnen gegründet. Sie erklärt, dass sie alle notwendigen Maßnahmen einleiten wird, um die Kündigungen zu verhindern. In drei weiteren Call Centern beschließen die Versammlungen Solidaritätsaktionen. Asambleas, mit denen die »PraktikantInnen« in Kampagnen gegen die hohen Gebühren der Telefónica zusammengearbeitet hatten, kündigen eine Blockade des Gebäudes an, unterstützt von piqueter@s. Unter diesem Druck rückt Telefónica 13 Festverträge raus.

Da sie mit den Entlassungen nicht durchkommen, bieten sie im November Abfindungen an, 3 000 pesos (1 000 US$) nach drei Jahren »Praktikum«. Dies führt zu weiteren Mobilisierungen.

Mariana, »Praktikantin« und Aktivistin im Call Center der Telefónica, berichtet [2]:

Angesichts dieser Kampagne für Abfindungen tauchte die Gewerkschaft auf. Sie erklärte, dass das verkappte Kündigungen wären, und dass sie diese Entlassungspolitik nicht weiter zulassen würde. Sie machte in allen Gebäuden Versammlungen. Bei uns arbeiten in der Frühschicht 300 Leute. Es gab dann eine Versammlung im Hof mit 300 Leuten, die die Gewerkschaft einberufen hatte.

Wir hatten angefangen, uns von unten her zu organisieren. Bevor die Gewerkschaft auftauchte, hat sich das aber noch nicht sehr verbreitet. Die Gewerkschaft wollte einerseits etwas eindämmen, was von unten am Entstehen war, um das in ihre Kanäle zu leiten, aber andererseits ist ihnen das aus dem Ruder gelaufen. Sie wollten mit diesen grossen Versammlungen das freiwillige Ausscheiden stoppen und Druck machen für die Verhandlungen mit der Firma über den Tarifvertrag, der aber nur die Festangestellten betrifft. Sie wollten den Konflikt um die PraktikantInnen dafür benutzen. Wir sind aber darauf angesprungen und haben angefangen, in den Versammlungen weitergehende Forderungen zu stellen. Es ging nicht mehr nur um die Abfindungen, sondern wir haben Festeinstellung gefordert und angefangen, über einen Aktionsplan zu diskutieren. Das ging über das hinaus, was die Gewerkschaft wollte. Weil die Gewerkschaft unsere Organisation nicht anerkannt hat und uns nicht beteiligen wollte, haben wir - PraktikantInnen und LeiharbeiterInnen - Aktionen und Treffen außerhalb der Arbeit gemacht. Die Parole war: Festeinstellung für alle.

Sie verlangen von der Gewerkschaft, sie als ArbeiterInnen anzuerkennen, sie mitentscheiden zu lassen und ihre Forderungen und Aktionen zu unterstützen. Gleichzeitig bauen sie ein eigenes basisdemokratisches Delegiertensystem auf. Es entsteht eine Gruppe von 50 Delegierten, die regelmäßig offene Treffen abhalten. Wenn die Gewerkschaft keine einberuft, machen sie ihre eigenen Versammlungen.

In dem Gebäude, wo ich arbeite, haben wir die Gewerkschaft aufgefordert, eine Versammlung einzuberufen, weil wir alle zusammen das weitere Vorgehen diskutieren wollten. Die Gewerkschaft ist nicht aufgetaucht. Daraufhin haben sich die Leute aus den Leitungen ausgeloggt, wir sind alle zusammen in den Hof runtergegangen und haben dort vier Stunden lang eine Versammlung abgehalten. Täglich haben sich Leute ausgeloggt. Das waren faktisch Arbeitsniederlegungen, aber in Form von Versammlungen. Es gab einen Versuch, uns allen, die wir auf den Hof runtergegangen waren, Abmahnungen zu schicken, aber das war unmöglich, weil wir mehr als 70% der Beschäftigten waren. Das war gut, weil die Leute gesehen haben, dass die Typen nichts machen können, wenn wir das zusammen machen.

Ein Aktionsplan mit Arbeitsniederlegungen und Demonstration wird von der Gewerkschaft vorzeitig abgewürgt:

Unabhängig davon, was wir in der Versammlung beschlossen hatten, hatte sich die Gewerkschaft schon mit der Firma geeinigt. Die Errungenschaften der Festangestellten, der Gewerkschaftsmitglieder sollten erhalten bleiben, und für die PraktikantInnen und LeiharbeiterInnen gab es einen Plan für Festeinstellungen, aber ohne konkreten Termin, ohne jegliche Garantie. Es sollte eine Kommission gebildet werden, die das diskutiert. Also nichts Konkretes. Die Gewerkschaft rief zu einer allgemeinen Versammlung auf, an der wir natürlich wieder nicht teilnehmen sollten - wir sind aber einfach dabei geblieben - und da wurde das Abkommen abgesegnet. Das hat die Sache ziemlich zurückgeworfen. Leute bekamen Zweifel, weil wir jetzt allein da standen. So ging diese Geschichte zuende, aber wir Delegierten, die AktivistInnen sind organisiert geblieben, und es gibt viele, die was machen wollen. Wenn was passiert, kann das jederzeit wieder losgehen. Wir gehen immer noch in diesen T-Shirts zur Arbeit, auf denen unsere Forderungen stehen. Während der vier Monate des Konflikts sind von den 200 in unserer Frühschicht mindestens 120 in diesen T-Shirts rumgelaufen. Jetzt tragen das nicht mehr so viele. Aber wir sind noch da!

Die meisten, die freiwillig ausscheiden, tun das, weil sie nicht mehr können. Auf dem Klo triffst du jeden Tag eine, die heult, weil sie es nicht mehr aushält: »Nein, ich will nicht mehr, ich will hier weg«. So weit geht das. Zur Zeit nehmen die Aufhebungsverträge zu. Dass sie uns Geld als Abfindung anbieten, zeigt die große Schwäche der Firma. Sie könnten uns doch einfach rausschmeissen, und fertig. Aber das können sie eben doch nicht. Dem Gesetz nach schon, aber sie wissen, dass es die asambleas gibt, die besetzten Fabriken. Erinnerst du dich an den Aufstand um Aerolineas Argentinas? [3] Zu sowas könnte sich das entwickeln. Nicht wegen uns, sondern wegen dem Hass, den die Leute auf Telefónica haben. Weil sie wissen, was die Privatisierung bedeutet hat. Telefónica ist zum Symbol für üble Privatisierung und europäischen Imperialismus geworden. Meiner Meinung nach könnten wir einen großen Aufstand anzetteln, wenn sie Leute rausschmeissen oder die Gebühren erhöhen wollen. Deshalb versuchen sie, das mit Abfindungen zu regeln.

Mich wollten sie mürbe machen, damit ich freiwillig gehe, aber ich habe Nein gesagt. Ich würde vielleicht gehen, wenn sie mir richtig viel Geld anbieten würden. Aber erstens werden sie das nicht tun, und zweitens will ich hier bleiben, weil ich hier was machen will, weil ich was verändern will. Wenn«s nicht mehr für mich ist, dann für andere. Wir sind einige, die so denken: dass sie uns nur los werden, wenn sie uns feste Verträge geben. Wenn sie mich fest einstellen, ja, dann kündige ich - denn diese Arbeit ist wirklich scheisse.

 

Siehe auch die Webseite der Asamblea de Pasantes de Telefónica


Fußnoten:

[1] Materialien zu den piqueter@s und zu den besetzten Betrieben befinden sich im Dossier zu Argentinienauf unserer Webseite.

[2] Das komplette Interview mit Mariana über die Arbeit im Call Center und die Aktionen der pasantes befindet sich auf unserer website.

[3] Aerolíneas Argentinas: Die staatliche Fluggesellschaft ist 1990 von der spanischen Iberia aufgekauft worden. Mitte 2001 sollte sie endgültig abgewickelt werden - der Kampf der ArbeiterInnen fand breite Unterstützung in der Bevölkerung. Siehe Wildcat-Zirkular 59/60.


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