Wildcat Nr. 74, Sommer 2005, S. 06–08 [w74_commune.htm]



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Die Commune ist die Antwort der Klasse

Nach den Interviews mit Wohnprojekten, Arbeitskollektiven und Kommunen war uns am Ende nicht klar, warum sich die Leute zusammen tun: »Überwiegt die Angst vor sozialen Unsicherheiten, die Neugierde auf andere Menschen oder der Wunsch, sich politisch einzumischen?« (vgl. Wildcat 72 und 73) Im Folgenden fassen wir unsere eigenen Vorstellungen von Kollektiv und dessen Bedeutung im Kampf gegen die kapitalistischen Zustände thesenartig zusammen.

1) Von der gesellschaftlichen zur individuellen Krise … und zurück?

Die Kämpfe Ende der 60er ließen die Ansprüche explodieren und stürzten die Kapitalverwertung in die Krise. Seit einem Vierteljahrhundert frisst sich diese Krise wieder zurück in die Gesellschaft. Zukunfts- und Existenzangst diktieren das alltägliche Verhalten. Geiz und individuelle Karriere werden als Überlebenstechniken propagiert. Für gemeinschaftliche Versuche bleibt keine Zeit. Stress, Vereinzelung, Depressionen kennzeichnen die Lage.

Aber Sich-Einschränken, individuelle Verweigerung und Stillhalten sind keine adäquaten Antworten mehr auf die Angriffe. Immer mehr Menschen, die dem gesellschaftlichen (Krisen-)Druck nicht standhalten, sich nicht (mehr) durchbeißen können oder wollen, bleiben auf der Strecke. Die Zahl der psychischen Erkrankungen ist von 1997 bis 2004 um 70 Prozent gestiegen – bei jungen Menschen zwischen 15 und 34 um bis zu 100 Prozent. Das Krankheitsbild, das die gesellschaftliche Realität am besten einfängt, ist die Depression. (Statistiken sind nur Statistiken: Leute haben Angst, sich wegen einer Grippe krankschreiben zu lassen, es muß schon eine depressive Erschöpfung sein. Gleichzeitig zeigt sich eine gesellschaftliche Schwingung darin, dass Krankschreibungen für Depression oder »Borderline« leichter zu haben sind.)

Vereinzelung und »Krankheit« bedeuten andererseits auch Unfähigkeit und Unwilligkeit der Menschen, das alles weiterhin auszuhalten. Was passiert, wenn gesellschaftliche Perspektiven, Ideale, Leitbilder und Träume wegbrechen? Ein Kapitalismus, der keine Entwicklungsperspektive mehr anzubieten hat, verliert seine Legitimität. Das soziale Unbehagen frisst sich nicht nur in das vereinzelte Individuum, es beginnt in Wut und Aggressivität umzuschlagen; eine ya-basta-Stimmung macht sich breit, aus der sich soziale Protestbewegungen speisen. Die Rest-Linke steht dem großteils hilflos und zuweilen ablehnend gegenüber: die Montagsdemos waren nicht autonom genug, an den Antikriegsdemos wurde nur der Bezug auf die Bundesregierung gesehen, anderes ist zu sehr »proll«, die Aktionen der SchülerInnen hat man gar nicht mitgekriegt …

2) Die Linke – Hamster im Rad der gesellschaftlichen Reproduktion

Wir sind nicht gezwungen, die gesellschaftlichen Verhaltensmuster anzunehmen, aber es erscheint einfacher, Arbeit, Studium, Familie und Freizeit nicht zu hinterfragen und individuell zu betreiben. Diese Vereinzelung kann bis zur sozialen Unfähigkeit führen, in deren Anschluss Menschen nur noch alleine können und wollen, weil ihnen jeglicher Kontakt Angst macht. Dem öffnet die Universität ihre Tore: Die persönliche - allen voran die »geistige« – Entwicklung steht über allem. Denken verschwindet in Aktenschränken oder wird vermarktet. Es geht nicht darum, etwas gemeinsam klar zu kriegen, sondern solange Gegenargumente zu finden, bis neue Bereiche gefunden sind. Ich muss dort ankommen, wo mich keiner mehr versteht, und dann kann ich euch was erzählen.

Bei denen, die dann trotzdem noch »politisch was tun«, ergänzt abstrakte Politik die akademische Arbeit und umgekehrt. In Dekonstruktivismus, Identitäts-, Biopolitik usw. haben handelnde soziale Subjekte kaum noch eine Chance. Kollektive Versuche und soziale Bewegungen, die sich gegen die gesellschaftliche Krise stemmen, werden unter Generalverdacht gestellt. Gerade viele junge Linke eignen sich erschreckend oft einen elitären Blick »von außen und oben« auf die Gesellschaft an.

Die (ehemals) radikale Linke läuft einer wegbrechenden kapitalistischen Perspektive hinterher. Weder die Nischen der 80er, noch die individualistische startup-Ideologie der 90er sind heute noch angemessene Antworten. Die gegenwärtige radikale Linke kritisiert lauthals den »Neoliberalismus«, treibt ihn in ihrem eigenen Verhalten aber voran. Mittlerweile kann man davon ausgehen, dass eine kritische Ausstellung über Prekarisierung im Backstage-Bereich die neoliberalen Arbeitsverhältnisse multipliziert.

Deshalb haben wir Interviews mit Kollektiven gemacht – diese könnten eine Möglichkeit sein, den gemeinsamen Kampf zu organisieren. Wenn sich Linke in Kneipen, Buchläden, Jugendzentren, Bau-Handwerksfirmen usw. organisieren und versuchen, neben Institutionen und Alltag zu bestehen, kann das Schutz vor Vereinzelung und Depressionen bieten, sie versuchen Selbstverwirklichung, Kreativität und soziale Kommunikation miteinander zu vereinbaren. Doch selten werden kapitalistische Formen von Produktivität und Ausbeutung verlassen, fast nie sind sie Ausgangspunkt einer gemeinsamen politischen Praxis.

Wovor haben wir eigentlich Angst? Dass es dem Kapital schlecht geht?? Weit über die linke Szene hinaus verfügen wir über erhebliche Mittel. Es gibt Häuser, Zentren, Kneipen, Läden, Zeitungen, LKWs, Theater- und Küchengruppen. Viele sind in der Lage, Veranstaltungen, Konzerte, Festivals, Demos und Karawanen zu organisieren, Videos, Webzines und CDs zu produzieren, Radios zu betreiben … Warum also soll es uns schlecht gehen? Anstatt uns mit diesen Strukturen voneinander abzuschotten, sollten sie als Werkzeuge für den Kampf genutzt werden.

3) Reformismus am Ende

Das Zurückweichen der ArbeiterInnen seit vielen Jahren hatte einen rationalen Kern: Die Beschäftigungssicherungsverträge, Kostensenkungs- und Flexibilisierungsprogramme verschlechterten die Bedingungen, schienen sie aber auf relativ hoher Ebene zu konsolidieren. Es gab keine Kämpfe, die das Ruder hätten herumreißen können, aber wo es weh tat, brachten kurze Streiks den Klassenfeind schnell zum Einlenken (Lohnfortzahlung!).

Mit dem Angriff im Frühsommer 2004 ging das Kapital über diesen »Kompromiss« hinaus: mehr Arbeiten für weniger Geld hat den ArbeiterInnen in den Siemens-Handy-Werken gar nichts gesichert, es hat lediglich die Betriebe verkaufbar gemacht! Hartz IV erhöht den Druck, der Stress nimmt erheblich zu.

Es gibt keinen Automatismus zwischen Krise und Kämpfen. Aber die Verschärfung der objektiven Bedingungen reißt nicht nur Netzwerke und Verhaltensweisen, sondern auch Ideologien ein. Die Leute stellen sich neue Fragen und sind offener für andere Antworten. Unser Eindruck ist, dass diese Beobachtung gerade allgemein gilt. Wenn man Leute fragt, wie sie ihre persönliche Zukunft sehen, halten viele sie für ganz gut; wenn sie die gesamtgesellschaftlichen Tendenzen einschätzen sollen, äußern die meisten Angst. Das zeugt von Realismus und markiert die Übergangsphase, in der wir uns befinden. Die Verschärfung der objektiven Bedingungen wird genau wahrgenommen. Starkes Absenken des Reproduktionsniveaus, mehr arbeiten für weniger Geld, Verlagerungsdrohungen und Stellenabbau, das alles verlangt nach kollektiven Antworten. Es gibt einen unheimlichen Brass.

Die Blockade der 2000 Daimler-ArbeiterInnen und der wilde Streik bei Opel in Bochum, die Schulbesetzungswelle in Frankreich und die SchülerInnenkämpfe in der BRD, die vielen, vielen Mobilisierungen gegen schlechtere Arbeitsbedingungen in den letzten Wochen usw. sind Versuche, Antworten zu finden. Die Kämpfe sind noch nicht »auf der Höhe der Zeit« – in anderen Teilen Europas und der Welt sieht es diesbezüglich besser aus. Wichtig ist aber, dass sie vor einem gesellschaftlichen Hintergrund stattfinden, der wieder in Bewegung gekommen ist. Ein Abkapseln in der eigenen Szene (Musik, Mode …), wie es für die 90er Jahre typisch war, bricht auf.

Auch die linken »Projekte« sind (z.B. angesichts der Ein-Euro-Jobs) gezwungen, sich neu zu positionieren. Viele werfen die letzten Ansprüche über Bord. Einige wenige verweigern sich radikal der Durchsetzung sozialstaatlicher Repressionsinstrumente. Hier gibt es aktuell jede Menge Diskussions- und Organisierungsbedarf. Das Auseinanderklaffen zwischen sich verschärfenden objektiven Bedingungen und (noch) fehlenden (kollektiven) Antworten ist ein deutliches Zeichen der Übergangsphase, aber auch die Möglichkeit für einen Vorschlag zum Bruch.

4) Gründet Bedürfnisgemeinschaften!

In den 90er Jahren hat die radikale Linke in der BRD alle Bezüge auf den Klassenkampf und die eigene soziale Reproduktion gekappt. Sie verfiel in Starrkrampf und ihre geistigen Ausdünstungen um Begriffe wie Freiräume, Antifaschismus/-rassismus und Antideutschtum wurden zu geschlossenen Theorien. In der praktischen Orientierung war das für viele junge Linke attraktiv, weil es ihnen ermöglichte, in einer feindlichen Welt »die eigene Identität« des Dagegenseins zu bewahren. Doch diese Theorien waren keine Analysen der tatsächlichen Verhältnisse und boten keine Antworten auf den Druck von Oben. Anstatt (sich) zu bewegen, verzweifelten viele. Sie wussten »alles über das feine Gespinst von sozialen Normen und Reziprozitäten, die das Leben der Trobriand-Insulaner beherrschen, und über die psychischen Energien, die bei den Cargo-Kulten der Melanesier eine Rolle spielen.« [*] Aber wenn es um die eigene soziale Existenz oder um die Welt um sie herum ging, schrumpfte »dieses unendlich komplexe soziale Wesen, das melanesische Individuum« in ihren Darstellungen auf den »deutschen Proleten«, »der sich mit seinen Händen ‘spasmodisch’ auf den Bauch schlägt und auf elementare ökonomische Stimuli reagiert.«

Mittlerweile haben Demos gegen den Krieg, Streiks, Montagsdemos, Mobilisierungen an Schulen und Unis die »soziale Frage« zurückgeholt, die politische Initiative in der BRD hat eine andere Fließrichtung gekriegt. Ya basta! Hass, Wut und Aggressivität. Die soziale Frage ist kein Streichelzoo, kämpfende ArbeiterInnen sind keine Streicheltiere. Um Teil dieser Bewegung werden zu können, brauchen wir entsprechende Strukturen. Scharniere, die die Thematisierung der eigenen sozialen Reproduktion in die gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung stellen. Wir müssen vom Verständnis der realen Bewegungen aus den Prozess der Individualisierung umdrehen, die individuelle Armut durch kollektiven Reichtum, den Stillstand durch die eigene und gemeinsame Veränderung ersetzen, existenzielle, finanzielle, strukturelle und psychische Probleme gemeinsam angehen, um der sozialen Angst und dem Leistungsdruck begegnen zu können. Vertrauen und Verantwortung aufbauen – aber auch verbindlich einfordern. Ein »Wir«, das das Gegenteil von Beliebigkeit, Oberflächlichkeit und der Verdrehung ist, in der das »Ich« nur alleine bestehen kann. Das verstehen wir unter »Kollektiv«.

5) Kollektiv und revolutionäre Politik

»An die Herrschaften von Colyton: Wenn wir nicht bald alle Dinge günstiger erhalten können, als es jetzt möglich ist, müsst ihr damit rechnen (…), dass die Stadt bis auf die Grundmauern niedergebrannt wird; und der See wird mit Blut so vollaufen wie jetzt mit Wasser. Wir sind 452 und haben verdammt noch mal darauf einen getrunken.«

Um die Gesellschaft umzuwälzen, müssen wir unsere Mittel kombinieren mit der »Revolutionierung der Revolutionäre!« (Dutschke 1967). Die Organisierung im Kollektiv ist unsere Antwort in der gegenwärtigen Übergangsphase. Wir wählen nicht die, die uns bestimmen, sondern die gute Stimmung ist unsere Wahl.

Parteien, Gewerkschaften, NGO’s, politische Organisationen usw. sind Vermittlungsinstanzen, die im gesellschaftlichen Erodierungsprozess mitgerissen werden. Diese sind für uns vollkommen unattraktiv, sie werden von oben herab geführt, kontrollieren oder verhindern den sozialen Veränderungsprozess, statt ihn zu ermöglichen.

Als Kollektiv erarbeiten wir gemeinsam unsere Theorie-Praxis. Sie besteht nicht aus Abgrenzen, sondern entwickelt ein gemeinsames Kampfverhältnis in Fabrik, Büro, Schule, Fanclub, der Uni oder sonst wo. Es geht darum, gemeinsam zu lernen, zu schulen, zu diskutieren, zu analysieren, einzugreifen. »Unsere« Position bleibt eine bewegliche, an der wir gemeinsam arbeiten, und zwar nicht um uns dahinter zu verstecken. Unsere Theorie muß als Methode – und nicht als Ideologie – die reale Totalität erfassen und in der Praxis wirksam sein, ein Austausch, ausgerichtet an den jeweiligen Bedürfnissen, keine Arbeitsteilung von Spezialisten in viele kleine getrennte Teilbereiche. Das ist politische Arbeit im Kollektiv, sie ist Ausdruck eines (Such-)Prozesses. Wir sind keine intellektuelle Elite, die als gebildete Schicht alle anstehenden Fragen beantworten will, aber wir wollen uns befähigen, Teil der Antworten zu werden. Antworten bei denen sich die restlichen Kapitalgläubigen lieber eine vierseitige Münze, einen dreibeinigen Papst oder arbeitsgeile Marsbewohner wünschen werden.

Ein Teil des Redaktionskollektivs


[*] zum Weiterlesen Zirkular 40 (daraus sind auch die beiden Zitate)



aus: Wildcat 74, Sommer 2005



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