Wildcat Nr. 78, Winter 2006/2007, S. 23–25 [w78_devi.htm]



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Im November hat Wildcat zusammen mit Devi aus Padua zwei Veranstaltungen zu Migration durchgeführt. In der Diskussion gab es mehrfach Kommunikationsprobleme, was vor allem auf die unterschiedliche Verwendung von Begriffen zurückzuführen ist. Deshalb haben wir versprochen, die Thesen schriftlich nachzuliefern.

Der Text von Devi ist so kompakt, dass wir uns kurzfristig entschlossen haben, ihn ins Heft zu nehmen. Ausgehend von den Veränderungen der Klassenzusammensetzung im Veneto versucht er, zu einer neuen kollektiven Sichtweise der Arbeit(erInnen) zu kommen. Wir sind uns noch unsicher, wie wir den von ihm verwendeten Begriff »lavoro migrante« übersetzen sollen. Im Text haben wir »migrantische Arbeit« geschrieben. »Wanderarbeit« geht nicht, weil ausdrücklich nicht allein die Arbeit, die von Migranten gemacht wird, gemeint ist, sondern die Zukunft der kapitalistischen Arbeit schlechthin. »Migrantische Arbeit« ist der politische Gegenbegriff zu »immaterieller Arbeit« und »Prekariat«.

Bitte beachtet, dass das alles noch work in progress ist!

Migrantische Arbeit als neue Verallgemeinerung der kapitalistischen Arbeit

Das Wirtschaftsmodell des italienischen Nordostens (Stichwort Benetton), das auf Klein- und Mittelbetrieben und Industriedistrikten basiert, war eine Antwort des Kapitals auf die Arbeiterkämpfe. Es zerstreute die ArbeiterInnen im ländlichen Raum und ersetzte industrielle durch quasi familiäre Arbeitsbeziehungen.

Anders als oft behauptet, sind die Industriedistrikte im Veneto nicht Formen von verbreiteter und spontaner Unternehmerintelligenz, sondern im Gegenteil sehr hierarchische Kooperationsformen, denn die just in time-Ketten lassen sich anders gar nicht zum Funktionieren bringen. Das Abfeiern des Postfordismus und des individuellen Erfolgs in den letzten Jahren haben vor allem vernebelt, dass ein immer größerer Teil der Zeit unter fremdem Kommando steht. Die Regeln der Fabrik gelten inzwischen auch in der Gesellschaft und im Privatleben, besonders für Leute, die einer selbständigen Tätigkeit nachgehen. Die »vom Markt diktierten« Termine schränken die Verfügungsfreiheit über die eigene Freizeit und die privaten Beziehungen ein. Verschleiert von der Rhetorik der selbständigen Arbeit wächst eine allein am Geld orientierte Gesellschaft heran, die so hierarchisch strukturiert ist, dass die Starrheiten des Zyklus auf die weniger qualifizierten ArbeiterInnen oder ArbeiterInnen mit ausländischem Akzent abgewälzt werden können.

Da das Produktionssystem über Zulieferer und produktive Netzwerke strukturiert ist, lassen sich innerhalb derselben Verwertungskette absolute und relative Mehrwertproduktion kombinieren.

In den Großunternehmen tragen die Ausbreitung von Kontraktarbeit und eine internationale Zusammensetzung der Belegschaft zur Spaltung des ArbeiterInnenkollektivs bei. Die Vertrags- und Sprachunterschiede führen in den Betrieben zu einer an der Herkunft orientierten Gruppenbildung, die sich außerhalb der Betriebe oft reproduziert.

In kleineren Unternehmen setzen die Unternehmer eher auf neue Formen von Gemeinschaftlichkeit mit informellen und flexiblen Beziehungen. Dabei verstellt die persönliche Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse den Blick darauf, dass es sich um Unterordnungsverhältnisse handelt. Damit lässt sich eine eher kooperativ wirkende innere Führung durchsetzen, in der Arbeitsbeziehungen als Beziehungen zwischen Bekannten erscheinen.

Arbeiter zu sein ist heute die Bestätigung persönlicher Unfähigkeit

Die konkrete Arbeit ist heute unsichtbar. Im öffentlichen Diskurs taucht sie nicht auf, sondern sie ist privat, indem sie zu einer Angelegenheit des Einzelnen wird. Die Unsichtbarkeit der proletarischen Arbeit und Lebensverhältnisse verweist auf ihre zunehmende Delegitimierung. Arbeiter zu sein ist heute die Bestätigung von persönlicher Unfähigkeit. Verbreitet ist eine Ideologie von persönlichem Aufstieg und individueller Befreiung. Das drückt sich in zwei Positionen aus: die erste verherrlicht den Selbständigen (Arbeiter) – oder die sogenannte »kreative Klasse«; die zweite fordert ein garantiertes Einkommen, mit dem Argument, dass die Arbeitsbedingungen in den Betrieben nicht veränderbar seien (außer in extremen Fällen, die dann aber unter dem Aspekt ›Menschenrechte‹ thematisieren).

Die in den 60er und 70er Jahren entstandene antagonistische Subjektivität, die den politischen Raum auch auf Bereiche außerhalb der Betriebe ausgedehnt hatte, scheint verschwunden. Die politische Kommunikation zwischen den verschiedenen Arbeiterfiguren hat am Ende des 20. Jahrhunderts unter den Umstrukturierungen in der Industrie, der Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit und der Auslagerungspropaganda gelitten. In den Vordergrund wurde dafür die Figur des individuellen Produzenten gestellt.

Das Aufeinandertreffen von verschiedenen Nationalitäten ist meist eher ein Problem für die eingewanderten Arbeitskräfte als für die Unternehmer, die schon dafür sorgen, dass sie nicht zu viele AusländerInnen derselben Nationalität beschäftigen. Die zunehmende Mobilität – ob aus individuellen freien Stücken oder unter Zwang – zersplittert das Arbeiterkollektiv, so dass Reaktionen minimalistisch und individuell werden. So gut wie nie gelingt es ihnen, die hierarchische Ordnung und die Arbeitsorganisation aufzubrechen.

Die Widerständigkeit der ArbeiterInnen zeigt sich heute also nicht kollektiv, sondern in der Verweigerung der Fabrikarbeit und in gesteigerter Fluktuation. Wer kann, entflieht der engen Kennzeichnung als ›SchwerarbeitIn‹. Die Fabrik hat sich verändert. Insbesondere in den Großbetrieben hat die Handarbeit und mit ihr die Figur des Arbeiters abgenommen. Die proletarische Arbeit konzentriert sich immer mehr in kleinen und mittleren Betrieben, wo Dequalifizierung und Überqualifizierung Hand in Hand gehen. Aber vor allem im tertiären Sektor, in den personenbezogenen Dienstleistungen, entwickelt sich eine neue Arbeiterfigur, die »Dienstbotenarbeit« (»lavoro servile«), deren ungünstige Arbeitszeiten soziale Kontakte unmöglich machen und deren Arbeitsbedingungen kaum verhandelbar sind.

Trotzdem haben einige Teile der Arbeitskraft in den letzten Jahren weiterhin hartnäckig daran gearbeitet, wieder breiter politisch sichtbar zu werden. Die Mobilisierung der ArbeiterInnen setzt hinter einige nicht tot zu kriegende Mythen wie »wachsende Autonomie bei der Verfügung über die eigene Zeit«, »Befreiung der Zeit von der Arbeit« und »individueller Aufstieg« ein dickes Fragezeichen.

Die Wanderarbeiter als zentrales Element der Transformation

Die Angst vor dem Verlust des – egal wie relativen – erreichten Wohlstands senkt die Konfliktbereitschaft und führt zum Rückzug ins Private. Aber in den Großbetrieben stoßen die Befehle der Unternehmer an Grenzen, wenn sie zu Formen extremer Entwürdigung greifen; so hat in der Hausgerätefabrik De Longhi in Treviso der Versuch, die Benutzung der Toiletten während der Arbeit zu verbieten, unmittelbar eine Revolte mit spontanen Streiks ausgelöst, an denen auch MigrantInnen aus dem Süden und dem Ausland beteiligt waren.

Die ArbeitsmigrantInnen bilden ein zentrales Element in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen, und deshalb ziehen sich die Maschen der Einwanderungsgesetze auf und zu – je nach Lage der Wirtschaft, der sozialen Kämpfe und dem An- und Abschwellen von fremdenfeindlichen Bewegungen. Die nationalen Vorschriften zielen darauf ab, einige Kategorien von MigrantInnen mit bestimmen Qualifikationen oder bestimmten Nationalitäten zu begünstigen. Darüber hinaus haben die Einwanderungsländer regelrechte Personalbüros im Ausland zur Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften eingerichtet.

Die grenzüberschreitende Migrationspolitik in Italien orientiert sich nicht an Nordafrika, sondern hauptsächlich an Ostmitteleuropa. In dieser Einschränkung des Bewegungsraums scheint sich eine größere »präventive« Selektion der direkten EinwandererInnen nach Europa anzuzeigen, nicht nur eine laufende Sortierung derjenigen, die sich schon in Italien befinden. Mit dem Bossi-Fini-Gesetz von 2002 unternimmt der Staat viel stärker als früher eine politische Regulierung des Arbeitsmarktes. Er diszipliniert den Migranten als Werktätigen durch die Einrichtung von zwei unterschiedlichen Arbeitsregimes. Die MigrantInnen befinden sich so in einem anderen, minderwertigen Arbeitsmarkt, und ihre Einstufung in diesen Arbeitsmarkt ist die Voraussetzung für ihre Anwesenheit.

Die anderen arbeitsvertraglichen Modalitäten, d.h. Formen des Kaufs und Verkaufs der Arbeitskraft, bedeuten für die zwei Millionen ImmigrantInnen eine unsichtbare Apartheid. Die verwaltungsmäßige Einstufung hat grundlegende Bedeutung für die Existenz des Immigranten, seine Arbeitsmöglichkeiten und seine Bewegungsfreiheit. Um seinen Aufenthalt zu legalisieren, muss er einen Unternehmer finden und manchmal sogar bezahlen. Ein menschenwürdiges und sorgenfreies Leben ist also nur möglich, wenn er sich der Hierarchie einer Fabrik oder einer Familie unterwirft.

Migrantische Arbeit als politische Kategorie

Von migrantischer Arbeit sprechen wir seit Ende der 90er Jahre. Der NATO-Krieg gegen Serbien und vorher noch die Zerstückelung Jugoslawiens haben ein riesiges Quantum an Arbeitskraft freigesetzt, das sich über die westeuropäischen Länder ergossen hat. Ein Kennzeichen der gegenwärtigen Migrationsbewegungen ist, dass sie nicht in boomende Volkswirtschaften mit Arbeitskräftemangel gehen, sondern in stagnierende Gesellschaften.

Die Migrationsfrage steht in Widerspruch zur Idee des Bürgerrechts, d.h. zur Logik des Rechts auf staatlicher Grundlage. Die Integration soll für getrennte Communities nach der Logik der ethnischen Arbeitsteilung gelten. In Wirklichkeit sieht es aber so aus, als würden an den Arbeitsplätzen Arbeiterkollektive entstehen, die in der Lage sind, ihr Arbeitstempo selber festzulegen, unabhängig von der und gegen die ethnische/nationale Spaltung.

Das Kapital möchte die Migration just in time; dann muss es sich weder um die indirekten Kosten der Reproduktion der Arbeitskraft noch um ihre Integration kümmern. Der Arbeitsvertrag ist die wesentliche Bedingung für den dauerhaften Aufenthalt in Italien, so dass der Migrant an eine bestimmte Arbeit gefesselt ist. Der Migrant wird definiert über die reine Verausgabung von Arbeitskraft, diese Funktion verlangt man von ihm, diese Rolle, in die man ihn drängt, wird zum einzigen tragenden Element seines Lebens. Insbesondere für die MigrantInnen ist der Arbeitsmarkt kein Markt, denn es wird nicht verhandelt; er ist ein politisches Machtverhältnis.

Migrantische Arbeit ist eine politische Kategorie: sie bezeichnet nicht die Arbeit »der MigrantInnen«, sondern beschreibt eine objektive Bedingung und zeigt auf, wohin sich die Arbeit heute insgesamt entwickelt. Die MigrantInnen sind nicht das politische Subjekt, das die soziale und Arbeitsordnung umstürzt. Vielmehr zeigt uns die Figur des migrantischen Arbeiters eine Entwicklung, nämlich die Infragestellung der Formen von Kommando und Arbeitszwang. Die MigrantInnen sind nicht nur ihrer Rechte beraubt, sondern verlangen Freiheit. Anderseits stellen sie eine politische Kommunikation zwischen verschiedenen Bereichen sicher. Es geht darum, sich nicht in nationalen Konzepten oder ethnischen Communities einzuschließen. Die Forderungen der ArbeitsmigrantInnen werden lauter, während gleichzeitig der Prozess der Internationalisierung der Produktion und der Beschäftigungssysteme läuft. Die migrantische Arbeit ist die Bedingung, die die allgemeinen Bedingungen antizipiert, unter denen die Arbeit heute insgesamt geleistet wird. Die gesamte Arbeit entwickelt sich heute zu migrantischer Arbeit.

Mit dem Begriff der »migrantischen Arbeit« lassen sich die heutigen Ausbeutungsformen angehen, deren Bedingungen immer mehr denen der MigrantInnen ähneln. Der Begriff »migrantische Arbeit« bedeutet eine Wiederaneignung einer kollektiven Sichtweise, einer Klassensichtweise, die von der Erfahrung ausgeht – gegen die beständigen Versuche, diese wieder in den Halbschatten zurückzustoßen.

Siehe auch:

Das Ende eines Modells? Italiens Nordosten in der Krise, in: wildcat 74, Sommer 2005

Migrantenstreiks in Italien. Vom Gipfelsturm zum Streik, in: wildcat Zirkular 64, Juli 2002

Kerne kontrollierter Selbständigkeit. Die Textil- und Bekleidungsindustrie im Veneto, in: wildcat Zirkular 36/37, April 1997


aus: Wildcat 78, Winter 2006/2007



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