Wildcat Nr. 84, Sommer 2009, [interview_rz]



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»Unsere Konzepte waren nicht mehr adäquat…«

Gespräch mit Ex-Militanten der RZ   

Die Teilnehmer am folgenden Gespräch sind alles Männer: M. und L. standen vor einigen Jahren in Berlin vor Gericht; T. war Ende ’87 abgetaucht und hatte Anfang 2009 einen (kurzen) Prozess in Stammheim. Nachschlagen und Weiterlesen könnt Ihr auf www.freilassung.de und müsst Ihr wohl auch, denn vieles erklärt sich nicht von selber.



Wildcat: Ende 1987 sind einige von Euch vor dem drohenden Zugriff abgetaucht, Ende 2006 haben sich zwei davon gestellt und einen Deal mit der Bundesanwaltschaft (BAW) gemacht. Bereits 2000 haben andere von Euch in Berlin vor Gericht gestanden, damals war Abtauchen kein Thema mehr, sagt Ihr. Was hatte und hat sich seit 1987 geändert?

M: 1987 bewegten sich Rote Zora und RZ auf einem politischen Hoch, 2000 gab es beide nicht mehr und auch sonst keine Gruppen, in deren Rahmen man hätte abtauchen können, um aus dem Untergrund heraus politisch weiter zu machen.

L: Dass ’87 plötzlich eine Reihe von Leuten illegal war, hat die Organisation ganz schön gefordert. Inhaltliche Auseinandersetzungen mussten zugunsten struktureller Unterstützung zurückgestellt werden: Geld beschaffen, Papiere besorgen, übergaben regeln und die Illegalen auch politisch wieder einbinden, das alles war sehr aufwendig. Dann sind die RZ-Gruppen zerfallen, und das Abtauchen hat den Zusammenhalt nicht gefördert, sondern erwies sich als zusätzliche Belastung.

T: Wir haben die Illegalität zunächst als neu gewonnene Bewegungsfreiheit gesehen. Aber im Zuge der Auflösungstendenzen Anfang der 90er Jahre wurde sie mehr und mehr zur Flucht, eine politische Anbindung war nicht mehr möglich. Einzelne Leute mussten unsere Unterstützung auf die eigene Kappe nehmen. Der Preis des Wegbleibens war hoch, ohne dass dem was gegenüber stand. Und es macht was mit dir! Du musst dich regelmäßig an neue Umgebungen anpassen, bist nicht frei in der Entscheidung für Leute, musst dich mit denen arrangieren, die da sind. Und selbst wenn du gute Leute kennen lernst, verarschst du sie erstmal, weil du ihnen ja nicht gleich auf die Nase binden willst, dass sie es mit Illegalen zu tun haben.

Wildcat: Habt Ihr in dieser Phase ’92 bis ’95 nie die Idee gehabt, Euch zu stellen? Ein politischer Prozess in diesem Zeitraum hätte doch Chancen geboten, in die Auflösungs- und Fraktionierungsprozesse hinein zu wirken.

T: Das haben wir nicht ernsthaft erwogen. Damals ging Benz mit dem Rückkehrangebot des VS hausieren, und in dessen Nähe wollten wir auf keinen Fall geraten. Nachdem sich die RZ aufgelöst hatten und unsere kurze Suche nach einem Exil ohne Erfolg geblieben war, haben wir uns ab Mitte der 90er Jahre dort eingerichtet, wo wir Unterschlupf gefunden hatten. Und angefangen in Verjährungsfristen zu rechnen: 10 Jahre hatten wir uns gegeben, demnach hätten wir 1997 wieder auftauchen können. Mittlerweile weiß ich, dass es illusorisch ist, auf Verjährung zu bauen. Wenn es den Verfolgungsbehörden opportun erscheint, finden oder schaffen sie immer irgendeinen trivialen Anlass, um eine Unterbrechung der Verjährung zu begründen. In meinem Fall kam die Verhaftung von Mousli hinzu – nach dessen Aussagen konnte ich mir die Verjährung sowieso abschminken; stattdessen wurde im Dezember 2000 ein neuer Haftbefehl gegen mich erlassen, der frühestens 2019 verjährt wäre. Damit stellte sich die Frage völlig anders: entscheiden wir uns endgültig für ein Leben in der Illegalität bis zum Ende unserer Tage, oder machen wir den Versuch, uns zu legalisieren – und das war aus unserer Sicht letztlich gleichbedeutend mit Rückkehr.

Wildcat: Hätte es dazu Alternativen gegeben?

T: Wir hatten überlegt, uns in Frankreich verhaften zu lassen – mit der Spekulation, nicht ausgeliefert zu werden. Sonja S. und Christian G. waren im Januar 2000 in Paris verhaftet worden und die französische Justiz hatte ihre Auslieferung jahrelang verweigert.[2] Unser Versuch ist allerdings schon im Vorfeld gescheitert. Inzwischen stehen aber auch die beiden unmittelbar vor ihrer Auslieferung, weil der europäische Haftbefehl angepasst worden ist!

Anna & Arthur lassen sich (auf Neues) ein

Wildcat: Letztlich habt Ihr entschieden, Euch zu stellen und über Rechtsanwälte Kontakt zur BAW aufgenommen. Wie lief dann der Deal

T: Das war unterschiedlich. Der Haftbefehl gegen mich lautete auf Rädelsführerschaft. Die Mindeststrafe dafür beträgt drei Jahre, und die können nicht zur Bewährung ausgesetzt werden. Ich hatte deshalb lediglich die Zusage, dass der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt wird, wenn ich mich stelle. Bei A. [3] war das anders, sie wurde beschuldigt, Mitglied der Roten Zora zu sein und die Wecker für zwei Anschläge beschafft zu haben. In dem Fall konnte die BAW sich vorstellen, die Strafe zur Bewährung auszusetzen, wenn es eine entsprechende Einlassung gäbe.

Wildcat: Eure Vorstellung war, wenn was mit Bewährung rauskommt, geht Ihr drauf ein, wenn aber Knast droht, kommt Ihr nicht zurück?

T: Richtig. Ich kehre nicht nach 19 Jahren Illegalität aus freien Stücken zurück, um stattdessen ein paar Jahre abzusitzen. Dann hätten wir so weiter gelebt wie gehabt, das hätte schon irgendwie geklappt. Aber wir wollten eine Situation beenden, die politisch obsolet geworden war, und unser Leben wieder in die eigene Hand nehmen. Wir wollten uns ohne die Einschränkungen, die der Status zwangsläufig mit sich bringt, neu orientieren, wieder mitmischen.

M: Der Prozess gegen T. wurde aber nach Stammheim verlegt und die Situation war bis zum ersten Prozesstag offen: Gibt es zwei Jahre auf Bewährung oder ziehen sie die Anklage durch? Dann hätte man dagegen gehalten und geguckt, was man mit dem Prozess erreichen kann: wie weit trägt z.B. Mousli mit seinen Aussagen im Jahr 2009 noch? Aus eigener Erfahrung muss ich allerdings sagen, dass man der Justiz zu viel Ehre antut, wenn man meint, ein Kronzeuge ließe sich kippen, nur weil es Zweifel an seiner Aussage gibt.

T: Die Vorwürfe gegen mich beruhten nur auf den vagen Geschichten von Mousli, die dieser wiederum vom Hörensagen kannte. Deshalb war ein streitiges Verfahren lange Zeit durchaus eine Option. Aber wenn sie ihn in meinem Prozess hätten fallen lassen müssen, weil er unglaubwürdig ist, hätte ihnen ein Wiederaufnahmeverfahren in Berlin gedroht. Deshalb konnte sich vermutlich auch die BAW mit einem Deal anfreunden. Ihr Aufklärungsinteresse in meinem Verfahren schien mir jedenfalls insgesamt sehr gering.

Wildcat: Wie war das in Deinem Fall? Was haben die BAW und das Berliner Kammergericht von Dir verlangt?

L: Die Formulierung lautete, dass die Geschichte glaubwürdig und nachvollziehbar sein muss und dass ich Sachen einräumen muss, die strafrechtlich noch relevant sind. Es wurde nicht vorgeschrieben ‹Beteiligung hier, Beteiligung da›, das war mir freigestellt. Und im Gegenzug gab es dann diese Kombination aus Haftverschonung und maximal zwei Jahren auf Bewährung.

M: Der Preis in mehreren RZ-Verfahren war immer der gleiche: du gibst eine so genannte Selbstbelastung ab und räumst mindestens eine nicht verjährte Straftat ein, damit sie dich überhaupt verurteilen können. Dafür garantieren sie dir, dass du nicht mehr als zwei Jahre auf Bewährung bekommst; das ist praktisch der Deal. Ob das, was du einräumst, der Wahrheit entspricht, interessiert wahrscheinlich nur am Rande. Niemand verlangt von dir, dass du andere belastest. Das ist ihnen auch klar, dass sie doch nichts bekommen würden, was andere gefährdet. Deshalb versuchen sie es gar nicht erst.

T: Mir wurde keine Geste der Reue abverlangt, ich brauchte nicht abzuschwören und musste keine Besserung geloben. Das ist wahrscheinlich das Privileg des 60-jährigen.

Wildcat: Aber kann nicht die BAW über die verschiedenen Einlassungen Stück für die Stück die Geschichte der RZ rekonstruieren?

M: Es ist eh nur am Rande von Interesse, ob eine Einlassung sich mit der Wahrheit deckt. Die verschiedenen Einlassungen verdichten sich nicht wie Mosaiksteinchen zu einem Gesamtbild, das sich irgendwann mit der Wahrheit deckt. Wenn es dafür den geringsten Anhaltspunkt gäbe, hätte keiner von uns eine Einlassung befürwortet.

L: Natürlich gibt es genügend Fälle, wo sich die Bullen aufgrund vieler verschiedener Zeugenaussagen schließlich ein Bild über eine Gruppe oder eine Person machen können. Deshalb war die Parole ›Anna und Arthur halten das Maul‹ nicht nur 1987 völlig richtig. Sie funktioniert aber nicht als Glaubensbekenntnis der Art ›niemals mit Bullen reden!‹. 15 Jahre nach der Auflösung der RZ muss man in der konkreten Situation nach den politischen und den juristischen Bedingungen fragen, und vor diesem Hintergrund die Vor- und Nachteile einer Einlassung abwägen.

M: Der Weg, den T. gewählt hat, ist selbstverständlich nicht der einzig mögliche. Andere Wege wären ebenfalls denkbar gewesen und hätten die gleiche Berechtigung gehabt. Aber er ist gangbar und aus meiner Sicht im konkreten Fall auch richtig. Nicht akzeptabel ist es, wenn Einlassungen wie diese in die Nähe von Verrat gerückt werden. Da wird es politisch ärgerlich.

Wildcat: Im Berliner Verfahren wurden Eure Schwierigkeiten, sich auf eine Prozessstrategie zu verständigen, aber durch Einlassungen noch verschärft…

L: Das Fatale war, dass die fünf Leute, die in Berlin angeklagt waren, sich gut ein Jahrzehnt vorher als Gruppe getrennt und seither keine gemeinsame Diskussion mehr geführt hatten. Die sind erst im Verfahren wieder zusammengesetzt worden.

M: Die Einlassung von Sabine und Rudolf war faktisch die erste Bestätigung des Kronzeugen. Damit war der Versuch gestorben, ihn mit juristischen Mitteln zu kippen. Sie war aber auch politisch ärgerlich, weil dummes Zeug drin steht. Schließlich kann es bei der Auseinandersetzung doch nicht darum gehen, wer namentlich auf dem Motorrad gesessen, wer geschossen oder wer das Auto gefahren hat, solche Sachen finde ich bei Einlassungskrams relativ sinnlos oder sogar schädlich. Als Gruppe, die dafür verantwortlich ist, hattest du gemeinsam darüber diskutiert und aus ganz vielschichtigen Gründen die Aufgaben untereinander verteilt. Letztlich tragen alle Beteiligten die gleiche Verantwortung für das, was sie getan haben. Da gab›s ja niemand, der gesagt hätte, ich war eigentlich schon immer dagegen.

Wildcat: Bei einer Einlassung musst du also zudem darauf achten, keine Aussagen zu bestätigen, die der Kronzeuge Mousli gemacht hat.

M: Du wirst dir sehr gut überlegen, irgendwas zuzugeben, was der Kronzeuge behauptet hat, denn damit würdest du ja suggerieren, dass an seiner Version und dem Konstrukt der Anklage doch was dran sein könnte. Im Verfahren gegen T. war die Diskrepanz zwischen der Einlassung und der Aussage von Mousli so groß, dass der Kronzeuge weder im Plädoyer noch im Urteil überhaupt erwähnt wird, obwohl die gesamte Anklage darauf basierte. Das wichtigste Kriterium aber bleibt trotzdem: kann das, was ich sage, jetzt oder später gegen jemand anderes in irgendeiner Form verwendet werden, und das ist nicht der Fall.

»Authentisch rüberkommen«

Wildcat: Es gibt aktuell offensichtlich großes Interesse von Seiten einer neuen, jungen Generation, sich mit vergangenen Militanzerfahrungen auseinanderzusetzen, einerseits. Andererseits: Wie können wir eine solche Debatte so führen, dass Leute und Strömungen (wieder) zusammenkommen, wie lässt sich die große Zerstrittenheit überwinden, wie lassen sich eventuell sogar Leute reaktivieren?

T: Ich hatte gedacht, dass ich mich diesen Ansprüchen stelle, sobald der Prozess vorbei ist – und nicht damit gerechnet, dass sich das über mehr als zwei Jahre hinziehen würde! Mal abgesehen davon, dass ich auch unterschätzt habe, was es bedeutet, sich in der Szene zu orientieren und auch im Alltag zurechtzufinden. Es gibt n Haufen zu diskutieren, was war wichtig, was haben wir falsch gemacht, welche Erfahrungen können wir weiter geben… Stattdessen grenzen sich alle von einander ab und jeder schreibt seine eigene Autobiografie. Ich will das auf jeden Fall nur mit anderen zusammen machen!

M: Ich kann jetzt relativ frei über die Positionen und Erfahrungen reden, die mich damals dazu gebracht haben, eine bestimmte Politik zu machen. Das kann und will ich anbieten. Früher warst du ja in der relativ behämmerten Position, eine Politik zu machen, die du nicht selbst vertreten konntest. Du musstest mit Dingen zurückhalten, die dir wichtig waren und bist deshalb nicht authentisch in der Diskussion rüber gekommen. Das wäre jetzt einfacher. Wenn jemand darüber reden mag, dann kann man das tun, z.B. auf Veranstaltungen.

L: Damit könnten wir anknüpfen an diesen ersten Schritt in die linke öffentlichkeit. Und dokumentieren, dass es die Bereitschaft gibt, über diese Zeit zu reden. Auch über unterschiedliche Sichtweisen auf diese Zeit, es gibt ja bestimmt viele, die eine ganz andere Meinung dazu haben oder was ganz anderes mitbekommen haben. Ich weiß auch nicht, wie unsere diversen Weggefährtinnen und Weggefährten auf dieses Interview reagieren werden, da lasse ich mich überraschen.

T: Im Zusammenhang mit der drohenden Auslieferung der beiden aus Frankreich müsste so was sowieso Teil einer breiteren Mobilisierung sein…

M: … die könnten den Weg, den sie gehen wollen, dort darstellen und Solidarität einfordern.

Wildcat: Es geht heute ja nicht nur um die Diskussion über militante Aktionsformen, sondern auch um den Grundgedanken, dass Revolution einen Bruch voraussetzt und kein reformistisches Reinwachsen in irgend einen »Sozialismus« möglich ist – diese Selbstverständlichkeit ist nämlich während Eures 19jährigen Wegseins auch in der radikalen Linken abhanden gekommen.

Halbherzige Abschiede

Wildcat: Im Zusammenhang mit der globalen Krise werden sich die sozialen Auseinandersetzungen verschärfen. Was wäre heute zu tun, damit Militanz nicht wieder wie in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zum Fetisch wird? Was ist in der Phase passiert, wo die radikale Linke verlernt hat, Militanz in Bezug auf emanzipatorische soziale Prozesse zu diskutieren? ’88 bis ’93 zerfällt sowohl die RZ als auch die radikale und autonome Linke. Anläufe zu inhaltlichen Debatten funktionieren nicht und beschleunigen eher die Auflösungsprozesse, die sich um die drei großen Antis drehen: Anti-Sexismus, Anti-Rassismus – und eben auch Anti-Imperialismus bzw. Anti-Deutschtum, als sein Gegenstück. Das »Gerd-Albartus-ist-tot«-Papier versuchte zum ersten Mal öffentlich, die antiimperialistischen Leichen im Keller der RZ zu thematisieren, blieb aber auf halber Strecke stecken…

T: Am Albartus-Papier ist schlecht, dass es nur halbherzig vom Antiimperialismus der 70er Jahre Abschied nimmt und immer noch was zu retten versucht. Anstatt das wenige, was wir tatsächlich wussten und wissen, konkret zu benennen, ist beispielsweise vage die Rede von einer »Gruppe aus dem palästinensischen Widerstand«, die Gerd umgebracht hat. Wir hatten ja selbst nur Informationen aus zweiter Hand und standen vor dem Dilemma, Position zu beziehen, ohne Genaues zu wissen. Deshalb haben wir uns zu Recht den Vorwurf eingehandelt, dass wir den palästinensischen Widerstand pauschal diffamieren. Faktisch haben Intifada und Carlos-Truppe, die für den Tod von Gerd verantwortlich ist, natürlich wenig miteinander zu tun.

M: Es war richtig, unser Verhältnis zum »Befreiungsnationalismus« zu überdenken. Aber wir hätten diese Debatte nicht erst im Kontext mit der Ermordung von Gerd öffentlich machen dürfen. Die Trennung von der Carlos-Truppe hatten wir intern viel früher vollzogen. Nach heftigen Streitereien über unsere Zusammenarbeit mit diesen Gruppen, die ja noch auf die Gründungszeit der RZ zurückging. Mit einigen Aktionen, die der Carlos-Truppe zugeschrieben werden, möchte ich im Leben nicht identifiziert werden. Sprengstoffanschläge auf Bahnhöfe oder Züge sind weder moralisch noch politisch vertretbar und stellen unsere Vorstellung von Befreiung auf den Kopf.

T: Der Antiimperialismus hatte ja auch eine ganz pragmatische Seite. Um die Gefangenen zu befreien, brauchten wir die internationalen Kontakte. Damit begibst du dich auch zugleich auf das Parkett von Macht, Diplomatie und Staatlichkeit. … Wir haben das Guerillakonzept von Lateinamerika in einer Phase übernommen, wo es dort schon obsolet geworden war. Die Tupamaros hatten lange aufgehört, Aktionen zu machen, als die RZ erst angefangen haben. Die Fokustheorie war von Debray schon 1969 beerdigt worden, und du fingst in den 70er Jahren an, fokistische Theorien zu reaktivieren. Das ist eine Zeitverschiebung, wo du heute denkst, das hätte auch anders laufen können.

Wildcat: Kurz nach dem Albartus-Papier erschien ein weiteres RZ-Papier: Das »Ende unserer Politik« verkündete das Ende einer geschichtlichen Etappe …

T: … und bezeichnete den internationalen Terrorismus en passant als historischen Ursprungsort der RZ. Ein dritter, sehr orthodoxer Text vom Mai 1992 rückte das Albartus-Papier in die Nähe neokolonialer Denk- und Handlungsmuster. Damit stand unser Papier unter dem Verdacht, eine verklausulierte Auflösungserklärung zu sein.

M: Aus dem »Ende unserer Politik« sprach in erster Linie Frust und Resignation. Wir hören auf, wir machen Fehler, wir kommen mit der Sache nicht mehr weiter. Der Frust war nach vollziehbar, die Argumentation umso weniger. Die »Tendenz für eine internationale soziale Revolution« gab vor allem Durchhalteparolen aus und weigerte sich überhaupt, über Veränderungen nachzudenken. Das ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass es danach um diese Gruppe still geworden ist. Wir saßen zwischen den Stühlen, hatten aber auch keine Idee, wie wir mit den weltpolitischen Umbrüchen und mit der eigenen Schwäche als Organisation umgehen sollten. Mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus war das ganze Koordinatensystem des Kalten Kriegs weggerutscht. Entwicklungen, über deren Folgen wir gerne in einem größeren Zusammenhang diskutiert hätten. Da waren wir mit den drei oder fünf Figuren in der RZ zu dünn bestückt, um zu überlegen, welche Konsequenzen das hat.

Wildcat: Gleichzeitig lief – nicht nur – bei den RZ eine zweite Debatte, die sich z.B. im Papier »Was ist das Patriarchat« ausdrückte…

L: … dessen eigentlicher Titel ja »Das Spiel ist aus« ist – das hat jedenfalls Sabine im Berliner Prozess behauptet. Und dabei deutlich zu verstehen gegeben, dass der Text alle bisherigen Revolutionsentwürfe und somit auch das bewaffnete Konzept der RZ in Frage stellen sollte.

M: Ein paar Leute haben aber damals mit dieser Argumentation behauptet, dass der Antipat eine Alternative zur Flüchtlingskampagne sein könnte. Aus der so genannten Feminisierung der RZ sollten sich Aktionsmöglichkeiten ergeben, die das auch nach außen tragen. Das Dilemma war, dass auf der einen Seite zurecht gefordert wurde, wir müssten uns auch innerhalb der eigenen Zusammenhänge mit patriarchalen Strukturen auseinandersetzen, es auf der anderen Seite aber lähmend wirkte, weil sich die entsprechenden Diskussionen nicht in praktische Politik umsetzen ließen. Praktisch gab es ja nur ein, zwei Erklärungen, aus denen kein Mensch mehr schlau wurde. Siehe Siegessäule [4]. Stattdessen hat es die Auflösung der RZ beschleunigt. Wenn du der Ansicht bist: ›Was wir machen, ist so radikal falsch, dass wir besser gar nix mehr machen!‹, dann sollte man das auch so sagen und dafür gerade stehen!

T: Unsere Konzepte waren nicht mehr adäquat, deshalb konnten solche Diskussionen so reinhauen. Die »blinden Flecken« waren eine Auflistung von sozialen Verhältnissen, vor denen wir die Augen verschlossen hatten. Ich glaube nicht, dass die Beschäftigung mit den eigenen Defiziten zufällig Anfang der 90er Jahre aufgekommen ist. Du merkst, dass dir die Felle davon schwimmen und suchst nach eigenen Fehlern. Wir führten eine nach innen gewandte Antipat-Debatte, die mitunter inquisitorische Züge hatte, waren primär mit uns selbst beschäftigt, und hatten kaum noch ein Auge für das, was um uns herum ablief. Es war nicht mehr möglich zu diskutieren: wie ändert sich Migration, was bedeutet es, dass die Mauer weg ist – das waren doch die Fragen, vor denen wir standen!

Triple A

Wildcat: In diese Situation hinein erschien Ende 1990 das 3:1-Papier. Es argumentiert gegen das klassische Denken des Antiimperialismus in Haupt- und Nebenwidersprüchen und setzt dem die drei »antis« entgegen: »Anti-Klassismus, Anti-Sexismus, Anti-Rassismus«. Es nimmt viel von dem vorweg, was Negri später ausbreitet: Konflikte finden molekular, überall statt. Die Intersektionalitätsforschung geht von 13 verschiedenen »Unterdrückungsformen« bzw. »bipolaren hierarchischen Grenzlinien« aus. Die ganzen Ansätze klammern »Ausbeutung« komplett aus der Analyse aus und sehen nur noch tausende von Herrschaftsverhältnissen…

M: … um schließlich bei Fragen der Identität und der politischen Korrektheit zu landen. 3:1 orientiert sich an der amerikanischen Debatte über Geschlechterdifferenz und ethnische Vielfalt. Ich weiß nicht, ob man Anfang der 90er Jahre schon hätte sehen können, dass mit dieser Verschiebung eine Kulturalisierung des Sozialen einhergeht. Jedenfalls hatte man in den letzten Jahren häufig den Eindruck, dass das eigentliche Problem nicht Ausbeutung und Armut ist, sondern der fehlende Respekt gegenüber den davon Betroffenen. Da reiben sich die Neoliberalen die Hände.

T: Nicht von ungefähr stellt das 3:1-Papier den Begriff des »Netzes« zentral. Das ist ein gängiger Begriff in den Sozialtechnologien und Managementtheorien. Seither ist die radikale Linke nur noch am »sich Vernetzen«. Natürlich ist 3:1 nicht »schuld« an dieser Entwicklung – aber es hat sicherlich nicht zur Stabilisierung einer revolutionären Linken beigetragen. Zumal es Leute bedient hat, die eh nicht mehr weiter wussten und nach Argumenten suchten, um sich zurückzuziehen.

Wildcat: Die reale Antifa waren die migrantischen Jugendlichen, die den Faschos auf der Straße und im Viertel entgegengetreten sind. Nach der Wiedervereinigung hatten wir ein Faschoproblem in der DDR – u.a. weil es dort eben keine migrantischen Jugendlichen gab. Und gerade in diesen Jahren wurde Antira immer mehr zu einer Diskurspolitik – und bei dieser Entwicklung hat das 3:1-Papier schon eine Rolle gespielt. Der Antirassismus hat die ›soziale Frage‹ entsorgt…

T: … indem er soziale Verhältnisse individualisiert und biologisiert hat! Um mich »korrekt zu verhalten«, muss ich meine Umgebung scannen, was unterscheidet mich von den anderen Menschen, in welcher Stufe stehe ich in dem Verhältnis; und das bestimmt mich in dem, was ich sagen und tun kann. Das ist doch irre! Wie willst du da politisch handlungsfähig bleiben?

L: Der Grundquatsch dieses Ansatzes setzt sich bis heute fort: vor jedes übel dieser Welt ein »anti« setzen. Das letzte – und einzig gute - »anti« war und ist das anti-autoritäre!

Anstöße

T: Ich sehe das Interview als Anfang. Entmythologisierung gehört unbedingt zur Vermittlung von Erfahrung! Nun geht es drum, dass andere ins Gespräch einsteigen: Was denken sie dazu? Wie bewerten wir heute das, was wir damals gesagt und getan haben? Ich will nicht nur Anekdoten erzählen und Geschichten reproduzieren, sondern diese aus heutiger Sicht und unter heutigen Konditionen betrachten. Ich hab mich verändert, aber noch mehr haben sich die gesellschaftlichen Bedingungen verändert, unter denen ich agiere.

L: Wir müssen erkunden, wie unter den heutigen Bedingungen eine politische Debatte über die bewaffnete Politik in den 70er und 80er Jahren geführt werden kann. Was ist davon noch brauchbar, was hat vielleicht damals schon nicht getaugt, und was würde heute allemal nicht taugen? Das Ausspielen moralischer Ansprüche aus den 70er Jahren verhindert das eher – das Hochfahren der moralischen Frage hat in der Geschichte der bewaffneten Gruppen in der BRD schon oft dazu gedient, eine politische Diskussion zu verhindern.

Wildcat: Ein paar Themen für die Debatte, an denen weitergearbeitet werden muss und die auf Veranstaltungen behandelt werden könnten, haben wir oben angerissen. Ein paar sind aus Platzmangel weggefallen, wie z.B. das Verhältnis zwischen linken Gruppen und bewaffneten Gruppen – das immer hochproblematisch war. Ein gerade wieder sehr aktuelles Thema sind »Freiräume« bzw. »befreite Gebiete«, wo einer von Euch während des Gesprächs geäußert hatte, es sei ihm »auch persönlich sehr wichtig, diesen Begriff zu destruiern


  Siehe zu dieser Diskussion das Interview mit Fransceschini in »Arbeitermacht und bewaffneter Kampf«wildcat 56 August 1991 Die militante Geschichte Frankfurts in Wildcat 38, Frühling 1986 und Wildcat 40, November 1986; zuletzt »Sechs Thesen, vier Mythen, zwei Wege, ein Ziel?« in Wildcat 59, Juni 1992


M: Ich finde aber genauso wichtig, dass wir über die Ansprüche an Kollektivität reden, die groß waren, mit den Bedingungen von Konspirativität und Illegalität aber oftmals kollidierten, über die Diskrepanz zwischen legalem Leben und konspirativem Handeln, über Illegalität und Knast unter heutigen Bedingungen.

Wildcat: Andere Themen haben wir erstmal ausgeklammert, weil wir in der zweiten Hälfte der 80er Jahre schon ne Menge drüber geschrieben haben und das erstmal aufgearbeitet werden müsste, der Kampf gegen die Startbahn West, die Flüchtlingskampagne…

T: Die Flüchtlingskampagne Mitte der 80er Jahre war der Versuch, eine neue Art von Antiimperialismus mit dem Bezug auf hiesige soziale Auseinandersetzungen zu verknüpfen.

M: Sie war eins der wenigen Male, wo die RZ selber versucht hat, ein Thema zu benennen und zu besetzen, und zu dem Thema Aktionen zu machen, die aus unserer Sicht sowohl soziale Situationen in der BRD beschrieben haben, als auch was mit einem konkreten Antiimperialismus zu tun hatten.

T: Auch wenn die RZ es mitunter aus den Augen verloren hat, so war doch klar: wenn es nicht gelingt, uns auf das zu beziehen, was hier läuft, dann haben wir sowieso keine Chance. Putte, Fahrkartengeschichten usw. usf. [6] – eine ganze Reihe von Aktionen, die einen eindeutigen Bezug zu dem haben, was hier stattfindet. Eine der Gründungsaktionen der RZ war die Krone-Aktion…

M: … an der man auch sehen konnte, dass der Versuch, sich mit real existierenden Menschen auseinanderzusetzen, nicht immer dazu führt, dass man geliebt wird. Da gab’s Reaktionen aus dem Kreis der Krone-Arbeiter und der Betriebsgruppe, die keineswegs besonders freundlich der RZ gesagt haben, wenn sie vorhätten, bei Krone Autos anzustecken, würden sie das schon alleine schaffen, dafür bräuchten sie keine Guerilla.






[1]  »Benz« war der Alias-Name eines Verfassungsschützers, dessen Kölner Telefonnummer Ausstiegswillige aus der RAF und der RZ in den 90er Jahren anrufen konnten; siehe dazu:
www.tolmein.de und nochmal.

[2]  Auslieferung nach 30 Jahren? – Am 25.2.2009 hat der Pariser Cour d'Appel in 1. Instanz entschieden, dass Sonja S. (76) und Christian G.(67) an die Bundesrepublik ausgeliefert werden.

[3]  zu A. siehe: www.freilassung.de

[4]  Siegessäule: www.freilassung.de

[5]  Drei zu eins für wen? Kritik vonwildcat an dem Papier Drei zu Eins.

[6]  Die ›Putte‹ war ein selbstverwaltetes Jugendzentrum in Berlin. 1974 wurde das Auto des für den Abriss Verantwortlichen abgefackelt.
›Fahrkartengeschichte‹: gemeint ist das Verteilen von gefälschten Fahrkarten in großem Stil, Sabotage von Fahrkartenautomaten usw.
Krone war eine Telefonfabrik in Berlin



Teil II: »Dem Zerfall der APO was entgegensetzen... «


aus: Wildcat 84, Sommer 2009



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