Wildcat Nr. 85, Herbst 2009, S. 38-43 [w85_interview-RZ_2.htm]



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»Dem Zerfall der APO was entgegensetzen... «

Teil II des Interviews mit Genossen der RZ

Teil I: »Unsere Konzepte waren nicht mehr adäquat…«

Die 68er Bewegung war in der BRD ja eigentlich eine '67er Bewegung: die Mobilisierung gegen den Schahbesuch und vor allem nach dem Mord an Benno Ohnesorg. Ihr wart damals 18, habt in West-Berlin gelebt, wart bereits an Eurer Schule politisch aktiv...

M: Ich war '67 in Berlin Steglitz auf einem Gymnasium, hab bei der SMV und der Schülerzeitung mitgearbeitet, hatte Kontakte nach Kreuzberg in literarische Kreise hinein, wir haben Gedichte geschrieben, uns vorsichtig in Richtung Diskotheken zu bewegen angefangen. Ich war beschäftigt mit Musik... Die Prügelattacken im Juni '67 auf die Demonstranten gegen den Schah an der Oper und die darauf folgende Erschießung von Ohnesorg hab ich nur in der Presse mitbekommen, weil wir auf Klassenfahrt in Rom waren

Du hast Dich für Musik interessiert? Warst Du beim legendären Stones-Konzert dabei, als '65 die Waldbühne zerlegt wurde?

M: Ja. Auf dem Heimweg vom Konzert hab ich zum erstenmal erlebt, dass eine S-Bahn total auseinandergenommen wurde, Kassenhäuschen wurden auf die Seite geschoben... Studenten waren da weniger, das war ein anderes soziales Milieu, Mopedfahrer, und dann halt Schüler!

T: Zu unserer Politisierung hat die Situation an der Schule viel mehr beigetragen als alles andere, was auf der Straße passierte. Es war eine elitäre Schule mit einem reaktionären Lehrkörper. Ich war damals Schulsprecher. Die Schülerzeitung und die SMV, das waren die beiden Foren, wo du dich ausdrücken konntest. Wir haben uns gegen die autoritären Strukturen gewandt und teilweise die Lerninhalte kritisiert.

M: Lange Haare waren genauso verboten wie das Tragen von Jeans. Ich weiß nicht, ob sich heute noch jemand Abläufe im Sportunterricht vorstellen kann, wo uralte Säcke dich gedrillt haben.

Die Noten abschaffen wolltet Ihr nicht? Ich habe Mitte der 70er Abi gemacht, für uns war die Kritik an den Noten und an Selektion überhaupt sehr wichtig.

T: Das fing bei mir erst auf der Uni an, da wurden alle diese Fragen aufgeworfen: Qualifizierung für einen bestimmten Beruf... Warum überhaupt einen Beruf? und wenn, dann welchen?

M: Wir haben im Sommersemester '68 angefangen, ich hab mich in Jura eingeschrieben mit der Vorstellung, ein sozial engagierter Anwalt zu werden – und wurde dann mit Schuldrecht, BGB und solchen Dingen traktiert. Mir war schnell klar, dass mich all das gar nicht mehr interessierte, da bin ich zu Publizistik und Theaterwissenschaft rübergewechselt. Bei denen war es schon durchgesetzt, dass wir uns im Grundstudium mit marxistischer Kritik auseinandersetzten, das hatte sich sehr schnell entwickelt.

T: Das ist eine unglaublich dichte Zeit: im Februar der Vietnamkongress, im April das Attentat auf Dutschke, Ende Mai die Besetzung des Germanistischen Instituts. Ich hab Theaterwissenschaften und Germanistik studiert. Als ich zu meinem ersten theaterwissenschaftlichen Seminar kam, war das schon zu, von Studenten blockiert.

M: In zwei, drei Jahren ist unheimlich viel passiert. Geschlafen haben wir damals nicht viel, Fernsehen haben wir nie geguckt. An der FU ging einiges los, und es kam zu den ersten Auseinandersetzungen mit der Polizei.

T: Das Sommersemester über war ich damit beschäftigt, Versammlungen zu besuchen und Diskussionen aufzunehmen. Als Erstsemester war ich noch nicht auf der Höhe der Zeit, die Kritische Universität hatte es ja bereits gegeben! An der Schule hatten wir im vorgegebenen institutionellen Rahmen versucht, unseren Unmut zu formulieren und uns gegen autoritäre Strukturen zu wehren.
Die Uni war eine völlig andere Welt, hier ging es um Fragen der Revolution und gesellschaftlichen Umwälzung, das war ein Meilenschritt!

Sergio Bologna hat neulich in einem Vortrag gesagt, das wichtigste an '68 war die Kritik des Berufs...

M: Kritik am bürgerlichen Beruf und an der bürgerlichen Karriere. Wo kommt es her, dass Leute unterschiedlich bezahlt werden? Das ist damals schon in Frage gestellt worden. Genauso wie die Kritik am Fachidiotentum. Wir wollten alle Freiheiten haben zu studieren, was uns interessierte, was wir für sinnvoll hielten. Die verschulten Bachelorstudiengänge von heute haben nichts mehr mit »studieren« zu tun! Das ist damals heftig attackiert worden und hat dazu geführt, dass die Studienpläne massiv liberalisiert wurden. Grundsemesterorganisationsgruppen, relativ kurz danach auch die Roten Zellen, haben Studienpläne entworfen, wo das Recht zu anderen Inhalten verbindlich reingeschrieben wurde, wie z.B. Studium des Marxismus.

T: Es ging um eine Kritik der Institution, Kritik der Ordinarien-Universität und Kritik der bürgerlichen Wissenschaft. Als ich an die Uni kam, hatte ich im Kopf, nach dem Studium ans Theater zu gehen, Dramaturg oder Regisseur zu werden. Diese Vorstellungen hatten sich schon nach dem ersten Semester in Luft aufgelöst! An der Schule machten wir kritisches Theater, Büchner statt Goethe oder so. An der Uni wurde stattdessen das Theater als bürgerliche Institution in Frage gestellt. Die Kunst, die man am Theater machen kann, ist per se bürgerlich; das Publikum besteht aus Leuten, die sich das Theater auch leisten können. Und damit veränderte sich der ganze Hintergrund, von dem aus du über Berufe nachgedacht hast. Wobei ich das Kind gleich mit dem Bade ausgeschüttet habe, indem ich gesagt habe 'Theater ist Scheiße!' und mich stattdessen entschlossen habe, Lehrer zu werden. Das hätte ich mir kurz vorher nicht im Traum vorstellen können! Es ist ja bizarr: du kommst aus der Schule, die du als autoritäre Erziehungsanstalt erlebt hast, und führst auf einmal eine Diskussion über eine 'revolutionäre Berufsperspektive' mit dem Ziel, dich als 'Lehrer in den 'Dienst des Volkes zu stellen. Das war der aufklärerische Gedanke. Wir müssen nur die richtigen Inhalte transportieren, und das in einer bestimmten Form. Erst dann werden sich die Leute überhaupt entscheiden können, was sie wollen. Der nächste Schritt war dann: wenn schon Schule, dann sind der Adressat nicht die Gymnasiasten, sondern die Kinder der Arbeiterklasse; also mussten wir in die Grund- und Hauptschule gehen. Deshalb bin ich von der FU zur PH gewechselt.

M: Daraus ist u.a. auch die Kinderladenbewegung entstanden. Da ging es nicht nur um die Betreuung der eigenen Kinder. Aber am Anfang war es ein bisschen so wie 'ich geh als Arzt in den Dschungel und helfe Menschen. Das war nicht marxistisch oder maoistisch inspiriert, bestenfalls ein 'oben-unten und du willst denen 'unten helfen.

T: Zunächst hatten wir gar keine Zeit zum Studieren, wir mussten ja die Revolution machen! Ich kann mich nicht erinnern, in den anderthalb Jahren am Germanistischen Institut ernsthaft studiert zu haben! Ständig gab es irgendwelche Aktionen, Besetzungen, Vollversammlungen, Demos... Die Uni war der soziale Ort, an dem du dich aufgehalten hast, aber am wenigsten, um Vorlesungen zu besuchen. Im Herbst '69 kam ich an die PH. Auch dort hatten wir ein intensives Wintersemester, in dem wir mehr gestreikt als studiert haben. Was nicht bedeutet, dass wir nicht gelernt hätten. Im Gegenteil, ich habe selten so viel gelesen wie in dieser Zeit, wir wollten der bürgerlichen Wissenschaft ja was entgegensetzen. Antiautoritäre Erziehung, proletarische Erziehung, die Raubdrucke von Otto Rühle oder Edwin Hoernle, von Wilhelm Reich und Siegfried Bernfeld. Und was du dir selbst gerade erst angeeignet hattest, musste auch wieder weiter vermittelt werden.

M: Bei den Publizisten hab ich im Wintersemester 69/70 ein Seminar bei Ulrike Meinhof besucht. Da ging es um Erziehungsheime, das waren die Vorarbeiten für den Bambulefilm. Das hat dazu geführt, dass ich in einem Erziehungsheim so ne Art Praktikum gemacht hab; ich hab im wesentlichen mit denen Tischtennis gespielt und geredet. Wir haben ein Theaterstück dazu gemacht, das hat mir mein erstes Ermittlungsverfahren eingetragen wegen Beleidigung von irgend so nem Idioten.

Ihr seid dann zur PL/PI gegangen, das war ja ein Westberliner Eigengewächs. Wo kam sie her?

M: Im Herbst '69 ist in Reaktion auf die wilden Septemberstreiks bei Kohle und Stahl die Projektgruppe Elektro-Industrie (PEI) entstanden. Sie hatte einen Untersuchungsansatz und hat sich mit Siemens den größten Betrieb in Berlin ausgesucht und dort als Gruppe angefangen zu arbeiten. Daraus hat sich ein halbes Jahr später die Proletarische Linke / Partei-Initiative (PL/PI) gebildet. Anfang 70 sind viele Parteiinitiativen mit unterschiedlichen ideologischen Konzepten entstanden, alle irgendwo in Antwort auf die Streiks '69, die KPD/AO, die KPD/ML, der Kommunistische Bund usw. Anders als in Frankreich oder in Italien hatte die Arbeiterklasse hier '68 für die Studenten keine große Rolle gespielt. Das hat sich erst mit den Septemberstreiks geändert, damit wurde denkbar, dass es auch in der BRD eine revolutionäre Arbeiterklasse geben könnte.

T: Als gedachtes Subjekt hatte sie durchaus eine Rolle gespielt, nur war sie real nicht präsent gewesen. Es war ja klar, dass wir als Studenten nicht die Revolution machen konnten. Ein Erklärungsmuster für die Passivität der Arbeiterklasse war deren »Manipulation«: die Arbeiterklasse kämpft nicht, weil sie manipuliert worden ist, das muss man durchbrechen, damit sie aus ihrer Entfremdung heraus und zu einem Bewusstsein ihrer selbst kommen kann. Der Intellektuelle hat die Rolle, ihr beim Weg vom »an sich« zum »für sich« zu helfen. Wenn du sagst, da ist jemand, der hat kein Bewusstsein seiner Lage, landest du ziemlich schnell beim Lehrer als Berufsperspektive ...

M: Außerdem hatten wir die Vorstellung, dass die »Organisationen der Arbeiterklasse« im Faschismus zerschlagen worden waren, das heißt, es gab keinen Bezugspunkt; wir haben uns jedenfalls nicht bezogen auf die Reste, die es in Berlin noch als SEW gab oder in Westdeutschland als DKP; in unseren Gruppen gab es auch keine älteren Ansprechpartner, wir waren alle mehr oder weniger eine Generation, da gab es keine 50- oder 40jährigen!

T: Wir haben manchmal wohl auch in dem Glauben gelebt, wir wären die ersten, die eine Revolution hier in Deutschland machen.

M: Die Arbeiter hatten wir eher wahrgenommen als Leute, die zu den DGB 1. Mai-Demos gingen. '69 hast du erstmal wahrgenommen, dass sie auch in einer ganz anderen Form auftreten können. In Westberlin waren das eher halbwilde Streiks v.a. im Öffentlichen Nahverkehr und bei der Stadtreinigung, Busfahrer und Müllmänner

Daraus hat sich sehr schnell dann die PL/PI entwickelt?

M: Die PL/PI ist der Versuch, aus der PEI etwas Breiteres zu machen, was ein relativ starkes, vielleicht auch starres Organisationskonzept mit enthält, mit der Idee, du arbeitest als Student im Betrieb, gruppierst um dich herum politisch bewusste KollegInnen und bildest daraus Betriebszellen; diese Betriebszellen kooperieren miteinander, und daraus entwickelt sich dann eine gemeinsame Strategie. Und damit die Zellen nicht alle machen, was sie wollen, hast du eine Organisation im Hintergrund, die die politische Linie entwickelt, indem sie die verschiedenen Untersuchungsergebnisse zusammenfasst. Unter den damaligen Parteikonzepten war es eins der wenigen, das ganz bewusst immer so'n Rätemodell mit drin hatte, also nicht nur als Kaderorganisation unter sich bleiben, sondern schon vom organisatorischen Ansatz her ne feste Zusammenarbeit von Arbeitern und Studenten.

Wie groß war die PL/PI? Wo war sie überall aktiv?

M: Die PL/PI wird in Westberlin vielleicht zehn Betriebsgruppen gehabt haben, die bestanden im Durchschnitt aus drei oder vier Menschen, die tatsächlich im Betrieb arbeiteten. Dazu gab es eine Zusammenarbeit mit einigen Roten Zellen. Die PL/PI hatte eine Zeitung für die Uni, die die StudentInnen mobilisieren sollte, den Hochschulkampf, eine Betriebszeitung, die vor Betrieben verteilt wurde, den Klassenkampf, und ein Zentralorgan, PL.
1971 war die PL/PI in der Lage, 10.000 Menschen für die 1. Mai-Demo zu mobilisieren, das war für Westberliner Verhältnisse sehr viel. Es gab an dem Tag mehrere Demonstrationen, die klassische von den Gewerkschaften, da hatten sich die K-Gruppen angeschlossen, eine SEW-Demo, und schließlich die PL/PI-Demo, die zog wie die SEW auch durch Kreuzberg. Da waren einmal Leute aus den Betrieben und aus ihrem Umfeld, viele Studenten und Schüler. Überhaupt viele aus dem Bereich Lehrlinge und Jungarbeiter. Das war so der organisatorische Höhepunkt der PL/PI-Geschichte.

T: Der Arbeiteranteil bei der PL/PI war nicht riesig groß, aber sie wurden bevorzugt aufgenommen und ich kenne ne Reihe Leute, die aus den Betrieben in die PL/PI gegangen sind. Also keine arbeitslosen Jugendlichen, sondern Leute aus den Betrieben.

M: Viele jüngere Arbeiterinnen und Arbeiter sind auch durch das Milieu angezogen wurden, das die PL/PI ausgestrahlt hat. Das war nicht nur die politische Überzeugung, sondern dass jemand überhaupt gesagt hat, dass man sich im Betrieb wehren kann, dass man sich in Gruppen zusammengeschlossen hat, auch im Privaten Dinge zusammen gemacht hat, dass wir in WGs zusammengelebt haben, das spielte alles ne Rolle für das Umfeld. Die haben gern an die diversen WGs angedockt, sind teilweise eingezogen und haben weiter gearbeitet, manche sind aber auch in die WGs gezogen und ließen das Arbeiten sein.
Nach der 1. Mai-Demo 1971 gab es intern einen riesen Knatsch, weil sich der »Arbeiterflügel«, wenn du so willst, von den Funktionären verarscht fühlte: 10.000 nach Kreuzberg zu bringen, das steht in keinem Verhältnis zu den Problemen, die wir im Betrieb haben. Ihr habt völlig falsch mobilisiert, Euch war wichtig, gegenüber den anderen Gruppen ne möglichst machtvolle Demonstration auf die Beine zu stellen, und uns wäre wichtig gewesen, dass wir die Demo als Unterstützung haben, um im Betrieb weiterzukommen. Das führte sehr schnell zur Auflösung der PL/PI im Sommer 1971. Ein Teil ging dann ins Ruhrgebiet, in die hochindustrialisierten Bereiche, Schwerpunkt Hoesch. Die sind im Betrieb und in Kontakt zueinander geblieben. Ich glaub, ein Teil ist später bei der DKP gelandet, Betriebsräte, Gewerkschaften... Einige haben innerhalb der Gewerkschaften Karriere gemacht, hier in Berlin kenne ich zwei, die Betriebsratsvorsitzende bzw. Gewerkschaftssekretär geworden sind. Andere wurden Professoren; ob die sich überhaupt nochmal organisiert haben, weiß ich nicht.

Noch mal kurz zurück zu dieser Übergangsphase: die allgemeine Idee war, man geht ein paar Monate in den Betrieb – was sollte in so einer kurzen Zeit da passieren?

M: Der Politisierungsvorsprung der Intellektuellen sollte als Initialzündung in den Betrieben wirken. Danach sollten die ArbeiterInnen sich ohne studentische Unterstützung selber organisieren. Für die Mehrheit der Studenten war klar, dass das zeitlich befristet war. Aus heutiger Sicht war das eine Mischung aus überheblich und naiv, dass wir glaubten, wenn Studenten ein paar Monate im Betrieb arbeiten, könnten sie einen heftigen Anstoß zu etwas geben.

T: Ich selber war zwar nie in einer Fabrik, erinnere mich aber, dass wir die Betriebsarbeit auch unter einem zweiten Aspekt diskutiert haben: die Studenten sollten die Lebensumstände der Arbeiter kennen lernen. Die Erweiterung der eigenen sozialen Erfahrungen war ein ganz starkes Motiv.

M: Das war durchaus in beide Richtungen gedacht. Zum einen ist es für denjenigen eine Erweiterung seiner sozialen und politischen Kompetenz, und für die Gruppen in den Betrieben hat es die Funktion, dass Leute bei der Organisierung der Betriebsgruppe in der Anfangsphase ne Rolle spielen können. Aber natürlich kannst du nicht in drei oder sechs Monaten als Durchlauferhitzer zugange kommen, das hat nirgends funktioniert. Da sind immer zwei Sachen passiert: der eine Teil der Studenten ist dann tatsächlich im Betrieb geblieben, hat also seine Biografie geändert, da gibt's ne ganze Reihe. Und der andere Teil ist relativ schnell frustriert da wieder rausgegangen.

Und nun teilt sich die Idee, einerseits selber was kennenzulernen, andererseits Initialzündung zu sein, auf: einige gehen in die Betriebe, die anderen wenden sich von der Arbeiterklasse ab. Wie ging es nach der Auflösung der PL/PI für Dich weiter?

M: Ich hab mich entschieden, in den Betrieb zu gehen. Zunächst hab ich kurz bei Daimler gearbeitet, dann bei Osram, da war ich aber immer mehr oder weniger alleine, da waren vielleicht noch einer oder zwei. Und dann kam die Idee, sich bei Krone zu organisieren in einer größeren Gruppe. Zum einen kannst du besser intervenieren, zum anderen stehst du das einfach besser durch, wenn die Gruppe größer ist.
Nach '71 hat sich dann eine Reihe von Betriebsgruppen organisiert, die hatten keine externe politische Organisation mehr, die hatten zwar Kadervorstellungen, aber nicht im Sinne einer Avantgardepartei wie bei der PL/PI. Hier in Berlin bei Krone und in kleineren Betrieben, außerdem gab es noch die Basisgruppe Spandau, die waren auch im Betrieb (z.B. Orenstein & Koppel und BMW) und im Stadtteil; und widerborstig gegen Partei- und Avantgarde-Konzepte! Der Revolutionäre Kampf in Frankfurt bei Opel/Rüsselsheim, die Arbeitersache-Leute bei BMW in München haben um ihren Betrieb herum auch im Stadtteil organisiert, haben in den Jugendzentren gearbeitet, machten einen Kindergarten, so wie wir dann auch bei Krone...
Ich hab im Winter '71 bei Krone angefangen und bin im Dezember '73 rausgeflogen. Als ich dazukam, waren vier, fünf Leute bereits da, die interventionistisch reingegangen sind. Die waren alle gelernte Schlosser oder so was, sind in die Facharbeiterabteilungen gegangen. Das war die Kerngruppe, dann sind von außen noch Leute dazu gekommen, einige aus dem Umfeld der PL/PI, andere kamen von der FH, hatten Ingenieur studiert und sahen die Chance, in der Konzentration auf einen Betrieb gemeinsam politisch was zu erreichen. Bei Krone war die Konzernleitung auch nicht so ne abgefeimte Truppe wie zum Beispiel die Siemens-Personalabteilung, da war es ziemlich einfach reinzusickern. Gleichzeitig ist es aber auch gelungen, Leute im Betrieb kennen zu lernen, die dann dazu gekommen sind. Es war für mich das erste Mal, dass in so einer Gruppe sehr stark auch ausländische KollegInnen engagiert waren (die Zeitungen der Betriebsgruppe waren von Anfang an auf Deutsch, Türkisch und Jugoslawisch) und für damalige Verhältnisse ein relativ hoher Anteil von Frauen, die aus den Montageabteilungen des Betriebs kamen – die vorher bei der PL/PI nicht so stark vertreten waren. Die also die Betriebswirklichkeit in der Gruppe stärker abbildeten, es war nicht eine Gruppe von Facharbeitern, Schlossern, Einrichtern usw.1

Woher kam eigentlich der starke Einflus des Maoismus?

T: Neulich bin ich auf einen alten Text der PL/PI gestoßen. Da fragst du dich, wie es möglich war, dass die antiautoritäre Revolte so schnell autoritäre Züge angenommen hat. Woher der Drang kam, die Vielfalt der Revolte in ein stromlinienförmiges Korsett zu zwängen. Das ist mir wirklich ein Rätsel, wir haben uns freiwillig grausigen Statuten unterworfen! Aber am Maoismus waren wohl zwei Dinge relativ plausibel. Die »Kulturrevolution« kam hier als »Jugendbewegung« an, als Teil des weltweiten Aufbruchs. Wir fanden es toll, dass die Jugend wieder Schwung in ein kommunistisches Land brachte. Das war das hundertprozentige Gegenteil von dem, was wir vor der eigenen Haustür sahen: die Macht alter Männer, bei denen die Jugend gar nichts zu sagen hatte. Und zweitens war der Maoismus viel radikaler als der orthodoxe Marxismus, wir haben ihn erlebt als 'man muss den Marxismus nicht so eng auslegen, sondern ein Stück weit an die soziale Realität anpassen'.. Tatsächlich wussten wir null über die wirkliche Situation in China. Für mich haben auch die Merve-Hefte und Rossana Rossandas Interpretationen zu China ne unglaublich große Rolle gespielt. Rossanda kam selbst aus der KPI und orientierte sich in ihrer Kritik an der KP ganz stark an China. Beim Hochschulkampf war ich einer von fünf Redakteuren, da war ein Strang von der ersten bis zur letzten Nummer: gegen den Rekurs der Studentenbewegung auf die 20er Jahre und auf die KPD, also eine »maoistische« Kritik am Leninismus der Studentenbewegung.

M: Eine Zeitlang war ich der Meinung, der Maoismus sei die Weiterentwicklung des Leninismus, ohne den Stalinismus. Den Stalinismus hatte ich als den falschen Weg gesehen und fälschlicherweise geglaubt, der Maoismus sei frei davon. Ich hab den Stalin einfach rausgeblendet.

T: Die Kulturrevolution war ja auch Terror, aber wir haben das nur als Dynamik zur Kenntnis genommen.

Die damalige Begeisterung für die Kulturrevolution lässt sich womöglich nachempfinden, aber warum glaubtet ihr an die autoritären Modelle? Das hat doch Euren eigenen Erfahrungen diametral widersprochen...

M: Bei Krone war das anders. Ich finde unser Betriebsgruppenkonzept nicht autoritär. Wir lebten und fühlten antiautoritär. Ich hatte nicht nur äußerlich einen Vollbart und lange Haare. Wir haben ja nicht nur malocht, wir haben zusammen gefeiert, sind zusammen in Urlaub gefahren. Wir haben uns politisch gefetzt, nächtelang diskutiert, über unsere persönlichen Beziehungen, über unsere internen Hierarchien, was ist richtig, was bringt weiter, was schadet. Immer alle, sehr leidenschaftlich und engagiert und mit 100 Prozent Einsatz.

T: Unsere Wege trennten sich an dem Punkt. Ich war zur selben Zeit in der Gruppe Sieg im Volkskrieg, die ebenfalls aus dem Zerfall der PL/PI hervorgegangen war. Der Begriff Volkskrieg bezog sich auf Lin Piao und sein Konzept der Einkreisung der Metropolen durch die Peripherie. Er bezog sich auf den vietnamesischen Befreiungskampf und die Erfahrung, dass man mit schwachen Kräften einen mächtigen Gegner in Schach halten kann. Analog zu den befreiten Gebieten wollten wir Freiräume erobern, und das war ohne die Anwendung revolutionärer Gewalt undenkbar. Der Bezug auf die Arbeiterklasse hatte nicht funktioniert, wir brauchten einen umfassenderen Begriff vom Subjekt, und dafür bot sich der chinesische Volksbegriff an. Der war wiederum eng an das Konzept des Guerillakriegs gekoppelt. Wir träumten davon, der Funke zu sein, der einen Steppenbrand entzündet, und uns wie ein Fisch im Wasser zu bewegen.

Die Phase von '69 bis '73 ist die einzige, wo man in der BRD ernsthaft von Arbeiterkampf reden kann. Und gerade damals hat Euch das nicht ausgereicht und Ihr habt nach neuen Konzepten gesucht? Sind die Diskussionen über bewaffneten Kampf aus einer Offensive oder aus dem Gefühl des Scheiterns entstanden? War »Sieg im Volkskrieg« die Idee: 'Wir können das schneller, oder: Es bricht uns alles weg?

T: Ich glaube eher aus dem Gefühl des Scheiterns, auch wenn mir das damals sicherlich nicht bewusst war. Es war ein Versuch, dem Zerfall der APO was entgegenzusetzen und gegenüber der integrativen Strategie des 'langen Marschs durch die Institutionen und den Reformversprechen der sozialliberalen Koalition das Moment der direkten Aktion zu verteidigen bzw. wiederzubeleben. Nachdem die aufklärerischen Konzepte aus meiner Sicht an ihre Grenzen gestoßen waren – die Betriebsgruppen, die Stadtteilläden, die Jugendzentren usw. – rückte nun das aktionistische Konzept wieder in den Vordergrund: der eigene Voluntarismus, die subjektive Radikalität, die beispielhafte Aktion – das sollte mobilisieren.

Aber das ist doch aufklärerisch!?

T: Nein, die Propaganda der Tat zielt in erster Linie auf die Verwundbarkeit der Macht und insofern nur indirekt auf die 'Erziehung der Massen. 1972 spielt allerdings noch eine zweite Komponente eine Rolle, die in den folgenden Jahren immer mehr an Gewicht gewinnen sollte: da ist nämlich schon die Rede von einer Transformation des Staates, vom Polizeistaat, da entdecken wir faschistische Züge, die sich an den Rändern der Gesellschaft entwickeln. Die Diskussion über revolutionäre Gewalt war auch ein Mittel, sich nicht von der Gewalt des Systems unterkriegen zu lassen. Die RAF hat diesen Punkt konsequent zu Ende gedacht, und dem konnte man sich nur schwer entziehen. Du konntest ja nicht sagen, lass die RAF mal die Kastanien aus dem Feuer holen, und wir gehen derweilen arbeiten! '72 stand die Revolution auf der Kippe und du hast das Gefühl, 'jetzt müssen wir retten, was noch zu retten ist. Deshalb die vielen Appelle. Die Straßenverkehrsordnung2 der RAF ist ein mit analytischen Elementen durchsetzter moralischer Appell. Und diesem Appell konnte ich mich nur schwer entziehen, die existenzielle Bereitschaft, das eigene Leben zur Disposition zu stellen, um die Revolution ein Stück weiter zu bringen, war groß.

M: Andererseits war der »Volks«-Begriff eine klare Abkehr von der Orientierung an der Arbeiterklasse. Und die jeweiligen Gruppen haben auch nur noch untereinander diskutiert, das war keine gemeinsame Debatte mehr.

T: Sieg im Volkskrieg ist eine Episode geblieben, diese Gruppe hat nie etwas Praktisches auf die Beine gestellt. Wir haben uns ein paar Monate lang regelmäßig in einer WG in Berlin getroffen, 10 bis 15 Leute, und dann ist jeder seiner eigenen Wege gegangen. Ich habe noch meinen Abschluss an der PH gemacht und mich aus Berlin verabschiedet. Die Stadt war '72/73 tot, die Luft war irgendwie raus. Das war vielleicht anders, wenn man in die Betriebsszenerie eingebunden war. Aber ansonsten herrschte hier Katerstimmung.

M: Du merkst, in Deutschland schwimmen dir die Felle davon und weltweit hast du den Eindruck, da bewegt sich was. Also musst du selber noch ne Schippe drauflegen. Es zerrinnt dir in den Fingern, also packst du fester zu...

Aber im letzten Interview hat T. ja richtigerweise gesagt 'wir haben uns für den Fokusansatz entschieden zu nem Zeitpunkt, wo er international längst gescheitert war.' In der BRD ist damals irre viel passiert, sie hat sich zwischen '66 und '76 radikal geändert – und Ihr habt gedacht, hier ist tote Hose und weltweit passiere viel mehr...

T: Du darfst nicht vergessen, dass wir manche Entwicklungen erst zu Gesicht bekommen haben, als sie ihren Höhepunkt schon überschritten hatten: Der unsichtbare Aufstand von Costa Gavras kam 1973 ins Kino, da waren die meisten Mitglieder der Tupamaros schon im Knast. Marighelas Minihandbuch des Stadtguerilleros erschien 1971 bei Rowohlt, da war der Autor seit zwei Jahren tot. Aber es gab noch die Montoneros in Argentinien, den MIR in Chile, die nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika und Asien. Am meisten beeindruckten mich aber Aktionen militanter Gruppen in Italien und Frankreich, weil mir die Bedingungen dort am ehesten mit denen in der BRD vergleichbar schienen. Wenn die Roten Brigaden einen Siemens Manager 20 Minuten lang entführen und die Gauche Proletarienne kleine Chefs einsperren konnten, müsste das doch auch hier eine Erfolg versprechende Strategie sein. Ich sah aber nicht, wie z.B. die Betriebsgruppen in Deutschland solche Aktionen hätten organisieren sollen. Dazu war das Repertoire, das wir zu Verfügung hatten, zu begrenzt. Das konnten wir nicht, das kannten wir nicht, das mussten wir erlernen!


Fußnoten:

1 Wildcat 50:
Betriebsintervention in den 70ern – »Eine revolutionäre Stimmung gab's damals – das ist der Unterschied zu heute.«
Interview zur Situation bei Krone.

2 Die Neue Straßenverkehrsordnung war eine 1971 von Horst Mahler verfasste Schrift der RAF.

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aus: Wildcat 85, Herbst 2009



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