Wildcat-Zirkular Nr. 16 - Juni 1995 - S. 3 [z16kampa.htm]


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Für eine Kampagne als Grundlage und Stoßrichtung

der militanten Untersuchung!

Vorbemerkung: Das folgende ist erst mal ne Grundlage zur Diskussion, zur arbeitsteiligen, vertieften Vorbereitung, und am Schluss haben wir uns ein bißchen ausgemalt, wie solche Aktionen aussehen könnten. Wir haben in den letzten Monaten gemerkt, daß wir uns Zeit lassen müssen mit den Vor-Diskussionen um eine solche Kampagne. Andererseits wollen wir nicht in die Sackgasse des »Jetzt müssen wir uns erst mal jahrelang vorbereiten ...« geraten. Viele Aktionen können auch jetzt schon angepackt werden - auch wenn uns die Diskussionen um die Kampagne in den letzten Monaten gezeigt haben, daß wir analytisch und theoretisch viel nachzuholen haben. (Berlin)

1) Zustandsbeschreibung/Hintergrund

[unsere Diskussion über die Krisentheorie und die Phase ist leider vor einem Jahr abgebrochen; wir sind nicht groß über das Referat von B.; in Biedenkopf rausgekommen (abgedruckt in Zirkular Nr. 5) deshalb hier nur einige Stichpunkte.]

2) Das VW-Modell

Das »VW-Modell« markiert einerseits eine Grenze des Krisenangriffs - andererseits zeigt es in der Perspektive, wohin die Reise gehen soll:

  1. weitere Intensivierung der Ausbeutung in den produktiven Zentren der Multis;
  2. im Rahmen der Standort-Debatte geht es Gewerkschaften, Regierung und Unternehmern nicht um die »Sicherung von Arbeitsplätzen« [uns natürlich auch nicht!], sondern um den beschleunigten Strukturwandel. Umstritten ist dabei nur das Ausmaß einer regulierenden Industriepolitik;
  3. die Arbeitslosen sollen in 2. und 3. Arbeitsmärkte reingedrückt werden;
  4. dazu dienen die ganzen Verschärfungen gegen Arbeitslose - wobei die rein finanziellen Verschärfungen an eine Grenze gestoßen sein dürften. Diskussionen über negative Einkommenssteuer, Razzien gegen Schwarzarbeiter und Einweisung von Arbeitslosen in Zwangsmaßnahmen aller Art sind die verschiedenen Seiten der Medaille.

3) Arbeitslosigkeit

Wir müssen die aktuelle Zusammensetzung der Arbeitslosigkeit genauer analysieren.

Das wirft eine ganze Reihe von Fragen auf: »der Tarif an sich ist nichts Verteidigenswertes« usw.

4) Die herrschende Politik und ihre »Sachzwänge«

  1. Im Kern zielen die Herrschenden, von PDS bis CDU, von Gewerkschaften bis Unternehmer auf dasselbe: »Standortsicherung durch Modernisierung/Strukturwandel«. Es gibt nur quantitative Unterschiede (über die Ausgestaltung der dritten Arbeitsmärkte, über die Höhe des Bürgergelds usw.). Auch viele ehemalige Linke und Autonome wie Kurz, einige AL-Inis usw. haben sich inzwischen diesem Lager angeschlossen (Kurz: AZV ohne Lohnausgleich; AL-Inis mit Existenzgeld und im Zuge der »Professionalisierung« ihrer Aktivisten). Die Stoßrichtung der Schulte-Vorschläge, der Kanzlergespräche geht dahin, die Arbeitslosigkeit politisch als Reservearmee einzusetzen (neben der »Ökologie« ist »die hohe Arbeitslosigkeit« zur Zeit das Argument für alle Schweinereien!).
  2. Die Bedingungen der Kapitalverwertung haben sich qualitativ geändert. Es gibt eine weltweite Konkurrenz, die sich wesentlich verschärft hat. Es finden massive Konzentrationsprozesse statt. Das Kapital jagt um den Erdball auf der Suche nach Arbeitskraft, die es profitabel verwerten kann - und macht sich dabei natürlich gegenseitig »Konkurrenz«. Es findet gerade ein Sprung statt ähnlich dem, den damals Lenin als »ökonomischen Hintergrund« seiner Imperialismustheorie ausgemacht hat. Die globale Konkurrenz erreicht heute alle Sektoren der Warenproduktion. Subjektiv werden die Manager das heute auch so empfinden: wer einen Fehler macht, wird gefressen, geht bankrott usw.. Bei der diesjährigen Tarifrunde ging es für Teile der »mittelständischen« Unternehmer tatsächlich ums Überleben zwischen den Kostensenkungsangriffen von Lopez und anderen und den Tarifforderungen der IG Metall, für die sie vielleicht wirklich keinen Spielraum mehr sahen.
  3. Uns muß es darum gehen, diese Prozesse erst mal qualitativ zu analysieren und sie zweitens vor dem Hintergrund und im dialektischen Zusammenhang mit den Klassenkämpfen zu verstehen. Grob ist die Einschätzung richtig, daß Teil-Verlagerungen dazu führen sollen, daß an den alten Standorten die neuen Bedingungen durchgesetzt werden. Die Strategie ist nicht Deindustrialisierung, sondern:
    • Fließband/Massenproduktion von Konsumgütern in Westeuropa (wieder) profitabel machen (z.B. Classica-Modell im HWB produzieren),
    • unter tarifvertraglichen Bedingungen zu denselben Preisen wie mit polnischen Schwarzarbeitern bauen (Töpfer),
    • neue Zusammensetzung von Hi-Tech und Drecksarbeit im Recyclingsektor (Waschmaschinen-Recycling).

5) Was steht an?

Heute befinden wir uns in einer Phase, in der die Kampfbedingungen für viele Jahre festgelegt werden könnten. Das Kapital will nur noch junge, leistungsfähige und unerfahrene ArbeiterInnen direkt (auf dem Bau, in der Fabrik usw.) verwerten. Der Rest wird in 2. und 3. Arbeitsmärkten (Abfallverwertung, Öko ...) und niedrig bezahlten Dienstleistungen eingesetzt. »Lebensarbeitszeitmodelle« à la Blüm ... Ungeheure Verdichtung der Arbeit in den Kernbereichen plus Ausweitung der Arbeitszeit plus hohe »Arbeitslosigkeit« ...

Wir müssen diese Analysen einerseits arbeitsteilig aktualisieren und vertiefen; andererseits müssen wir sie in einfache Agitation umsetzen. Zum Beispiel:

6) Was wollen wir tun?

Wie wir uns die »Kampagne« vorstellen

Samstag morgen kurz vor 6 Uhr taucht die aufgehende Sonne eine gespenstische Szene in ein fahles Licht. Bleich und müde von 5 Tagen Schichtarbeit trotten einige Männer und Frauen durch die fast leeren Straßen zur Fabrik. Doch heute ist alles anders. Ein zwar ebenso müder aber fröhlicher und lautstarker Haufen Leute erwartet die ArbeiterInnen vor der Fabrik. Das Tor ist mit einem stabilen Fahrradschloss zugesperrt. »Heute fällt die Sonderschicht aus!«, »Wer Überstunden macht, ist Streikbrecher!« schallt es durch das Morgengrauen. Ratlos und unsicher bleiben die MalocherInnen stehen. Zaghafte Diskussionen entwickeln sich. Einige wenige versuchen, sich einen Weg durch die Menge zum Fabriktor zu bahnen. Sie werden freundlich aber bestimmt zurückgedrängt. Unter allgemeinem Gelächter versucht ein Arbeiter, über den Fabrikzaun zu krabbeln. Der Pförtner telefoniert hektisch. Das ist heute etwas anderes als die üblichen Flugblattverteilaktionen...

So oder so ähnlich könnte eine Aktion im Rahmen unserer sogenannten Kampagne aussehen. Andere Aktionen könnten Besuche besonders fieser Ausbeutungssituationen sein (Supermärkte, Umschulungsfirmen etc.), Go-Ins bei den Arbeitsamt-Heinzis, die so was angeordnet haben. Oder vielleicht kollektive »Einkaufsaktionen« mit AsylbewerberInnen, die sich gerade gegen die Auszahlung ihrer Sozialhilfe in Gutscheinen wehren.

Worum geht es uns mit der »Kampagne«?

Gegen das weit verbreitete Ohnmachtgefühl angesichts der umfassenden Angriffe auf unsere Lebensqualität wollen wir an überschaubaren Punkten kollektive Aktionen durchführen.

  1. Wir wollen in Diskussionen mit ArbeiterInnen kommen, ohne immer nur als Theoriezirkel aufzulaufen. Nicht immer nur anderen zu sagen, was sie alles gegen ihre beschissene Situation machen könnten/sollten. Sondern aus der Position des selber agierenden heraus mit anderen über gemeinsame Kämpfe etc. diskutieren.
  2. Mal wieder Aktionen mit vielen machen. Bei dem, was wir uns vorstellen, könnten sich Leute aus unserem weitesten Umfeld einklinken. Leute, mit denen wir zwar hin und wieder Kontakt haben, die sich aber nicht an unseren mühsamen und zähen Organisierungsversuchen beteiligen (wollen). Die Organisierung sozusagen andersrum angehen: über praktische Initiativen zur inhaltlichen perspektivischen Auseinandersetzung...
  3. Über diese Aktionen zu einem gewissen Bekanntheitsgrad zu kommen, der es uns erleichtert, an anderen Punkten mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Wir können uns dann gewissermaßen »ausweisen«, die Leute haben dann eher ne Vorstellung, von wem die Plakate und Flugis kommen.
  4. Inhaltlich soll an diesen Aktionen unser Verständnis von Klassenkampf deutlich werden. Zum einen ist es uns wichtig, an den Orten, an denen das Kapital reproduziert wird, aktiv zu werden, zum anderen ist die Kampagne keinesfalls auf Fabriken beschränkt.
  5. An unseren praktischen Aktionen wollen wir auch untersuchen und überprüfen, ob unsere Ideen und Vorstellungen von dieser Gesellschaft überhaupt stimmen bzw. relevant sind. Sind wir wirklich an den wichtigen Fragen dran? Bestenfalls lassen sich während der Aktionen mit den davon Betroffenen neue Aktionen entwickeln.
  6. Außerdem werden wir beweisen, daß das anscheinend so übermächtige System angreifbar ist. Und Spaß werden wir dabei auch noch haben.
  7. Und schließlich hoffen wir, mit dieser »Kampagne« die Leute zusammenbringen zu können, die unter politischem Kampf noch was Umfassenderes verstehen, und die sich selber an den Begrenztheiten der verschiedenen noch existierenden Initiativen, Gruppen und Scenes stören.

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