Für eine Kampagne als Grundlage und Stoßrichtung
der militanten Untersuchung!
Vorbemerkung: Das folgende ist erst mal ne Grundlage zur Diskussion, zur arbeitsteiligen, vertieften Vorbereitung, und am Schluss haben wir uns ein bißchen ausgemalt, wie solche Aktionen aussehen könnten. Wir haben in den letzten Monaten gemerkt, daß wir uns Zeit lassen müssen mit den Vor-Diskussionen um eine solche Kampagne. Andererseits wollen wir nicht in die Sackgasse des »Jetzt müssen wir uns erst mal jahrelang vorbereiten ...« geraten. Viele Aktionen können auch jetzt schon angepackt werden - auch wenn uns die Diskussionen um die Kampagne in den letzten Monaten gezeigt haben, daß wir analytisch und theoretisch viel nachzuholen haben. (Berlin)
1) Zustandsbeschreibung/Hintergrund
[unsere Diskussion über die Krisentheorie und die Phase ist leider vor einem Jahr abgebrochen; wir sind nicht groß über das Referat von B.; in Biedenkopf rausgekommen (abgedruckt in Zirkular Nr. 5) deshalb hier nur einige Stichpunkte.]
- Massenentlassungen haben die Arbeitslosigkeit erhöht; im Aufschwung wird die Personalstärke zu einer politischen Frage
- Streiks »für Arbeitsplätze«, Festeinstellungen, Neueinstellungen;
- »zu viele« rausgeschmissen? überhastete Einstellungen oder Arbeitsintensivierung durch Stress/Unterbesetzung?
- eine entscheidende Frage: wie teuer ist die (weitere) Flexibilisierung? Überstunden und Samstagsarbeit ohne Zuschläge? Die Änderung des Arbeitszeitgesetzes und die Flexibilisierungsmöglichkeiten in den Tarifverträgen ermöglichen Reallohnsenkung und Verdichtung der Arbeit
- auch die erhöhte Massenarbeitslosigkeit hat bisher nicht als industrielle Reservearmee im klassischen Sinne funktioniert
- Aufschwung ohne daß die Massen-AL sinkt, soll dadurch zustandekommen, daß in Bereichen wie Post, Eisenbahn, allgemein im Öffentlichen Dienst massiv abgebaut wird.
2) Das VW-Modell
Das »VW-Modell« markiert einerseits eine Grenze des Krisenangriffs - andererseits zeigt es in der Perspektive, wohin die Reise gehen soll:
- weitere Intensivierung der Ausbeutung in den produktiven Zentren der Multis;
- im Rahmen der Standort-Debatte geht es Gewerkschaften, Regierung und Unternehmern nicht um die »Sicherung von Arbeitsplätzen« [uns natürlich auch nicht!], sondern um den beschleunigten Strukturwandel. Umstritten ist dabei nur das Ausmaß einer regulierenden Industriepolitik;
- die Arbeitslosen sollen in 2. und 3. Arbeitsmärkte reingedrückt werden;
- dazu dienen die ganzen Verschärfungen gegen Arbeitslose - wobei die rein finanziellen Verschärfungen an eine Grenze gestoßen sein dürften. Diskussionen über negative Einkommenssteuer, Razzien gegen Schwarzarbeiter und Einweisung von Arbeitslosen in Zwangsmaßnahmen aller Art sind die verschiedenen Seiten der Medaille.
3) Arbeitslosigkeit
Wir müssen die aktuelle Zusammensetzung der Arbeitslosigkeit genauer analysieren.
- Wir verstehen die Massenarbeitslosigkeit als ein Kräfteverhältnis
- zwischen dem lohnarbeitenden Teil der Klasse und dem Kapital [also: wie viel Arbeit lassen sie sich aufdrücken, wie stark kann die Arbeit intensiviert werden] und
- zwischen den Arbeitslosen und der kapitalistischen Gesellschaft [90% der aufs Arbeitsamt Zitierten, hoffen, daß ihr Sachbearbeiter nix für sie hat; wie wehren sie sich, wozu lassen sie sich erpressen].
- Die Arbeitslosen als Opfer der Kapitalverwertung zu betrachten, ist reaktionär. Die Arbeitslosigkeit ist als Tendenz zur Nicht-Arbeit in der Klasse zu fassen. Es gibt eine (wohl westeuropaweite) Tendenz, die Arbeitslosigkeit als Einkommensquelle zu betrachten und sie mit anderen Einkommen zu kombinieren.
- Als Erpressung auf die Arbeitenden funktioniert die Arbeitslosigkeit wenn überhaupt dann nur gegen diejenigen, die noch nie arbeitslos waren. (So erklärt sich auch eine sehr selektive Personalpolitik während massenhafter Einstellungen: Leute, die über Jahre hinweg zwischen Arbeitslosigkeit und Lohnarbeit gewechselt haben, zeigen die Grenze: bestimmte Sachen braucht man nicht akzeptieren, man kann auch kündigen.)
- Inzwischen haben sogar einige Arbeitslosen-Initiativen dies erkannt und fordern nicht mehr nur »Arbeit und Einkommen«, sondern beginnen auch, die kapitalistische Arbeit zu kritisieren.
- Die Mehrheit der Leute hat sich in der AL eingerichtet - aber die Einkommensfrage ist individualisiert, das Verhalten dazu individuell (allerdings massenhaft und teilweise sogar abgesprochen).
- Die Arbeitslosigkeit ist gesellschaftlich notwendig - nicht nur in ihrer Funktion als »Schwarzarbeit« [»Schwarzarbeit« jetzt verstanden als über Lohn definiert]. So notwendig wie »früher« die Hausarbeit der unentlohnten Ehefrau. Schichtmodelle, Zeit-Flexibilisierung, lohnarbeitende Singles usw. wären vor der Krise der Familie gar nicht möglich, ohne »arbeitslose« Bekannte, Partner usw.. Insofern ist die Unterscheidung zwischen »arbeitslos« und »erwerbslos« der AL-Inis schon richtig. Kampagnen wie »Lohn für Hausarbeit«, »Existenzgeld« usw., gehen von der produktiven Funktion fürs Kapital aus, sind aber sehr ambivalent, weil sie an der Modernisierung mitarbeiten, weil sie appellativ sind, weil sie nicht den Punkt der kollektiven Macht angeben können. Wie können wir das anders anpacken?
- Wir müssen auch die [entlohnte] Schwarzarbeit genauer analysieren. Denn es gibt ganz unterschiedliche Arten davon:
- den kapitalistischen Zwang in die Schwarzarbeit, wo tarifliche und rechtliche Regelungen unterhöhlt werden (was ja in Form der Razzien etwa ganz direkt passiert: »Arbeiter aus dem Osten« werden zu »Illegalen« gemacht);
- Schwarzarbeit, welche die proletarische Reproduktion verbilligt, oft in Zusammenhang mit Immigration [»Polenmarkt«];
- Schwarzarbeit als individuell vorangetriebener Arbeitszwang;
- »antikapitalistische« Schwarzarbeit [politische Initiativen, »nicht mehr cheftauglich« usw.]
Das wirft eine ganze Reihe von Fragen auf: »der Tarif an sich ist nichts Verteidigenswertes« usw.
4) Die herrschende Politik und ihre »Sachzwänge«
- Im Kern zielen die Herrschenden, von PDS bis CDU, von Gewerkschaften bis Unternehmer auf dasselbe: »Standortsicherung durch Modernisierung/Strukturwandel«. Es gibt nur quantitative Unterschiede (über die Ausgestaltung der dritten Arbeitsmärkte, über die Höhe des Bürgergelds usw.). Auch viele ehemalige Linke und Autonome wie Kurz, einige AL-Inis usw. haben sich inzwischen diesem Lager angeschlossen (Kurz: AZV ohne Lohnausgleich; AL-Inis mit Existenzgeld und im Zuge der »Professionalisierung« ihrer Aktivisten). Die Stoßrichtung der Schulte-Vorschläge, der Kanzlergespräche geht dahin, die Arbeitslosigkeit politisch als Reservearmee einzusetzen (neben der »Ökologie« ist »die hohe Arbeitslosigkeit« zur Zeit das Argument für alle Schweinereien!).
- Die Bedingungen der Kapitalverwertung haben sich qualitativ geändert. Es gibt eine weltweite Konkurrenz, die sich wesentlich verschärft hat. Es finden massive Konzentrationsprozesse statt. Das Kapital jagt um den Erdball auf der Suche nach Arbeitskraft, die es profitabel verwerten kann - und macht sich dabei natürlich gegenseitig »Konkurrenz«. Es findet gerade ein Sprung statt ähnlich dem, den damals Lenin als »ökonomischen Hintergrund« seiner Imperialismustheorie ausgemacht hat. Die globale Konkurrenz erreicht heute alle Sektoren der Warenproduktion. Subjektiv werden die Manager das heute auch so empfinden: wer einen Fehler macht, wird gefressen, geht bankrott usw.. Bei der diesjährigen Tarifrunde ging es für Teile der »mittelständischen« Unternehmer tatsächlich ums Überleben zwischen den Kostensenkungsangriffen von Lopez und anderen und den Tarifforderungen der IG Metall, für die sie vielleicht wirklich keinen Spielraum mehr sahen.
- Uns muß es darum gehen, diese Prozesse erst mal qualitativ zu analysieren und sie zweitens vor dem Hintergrund und im dialektischen Zusammenhang mit den Klassenkämpfen zu verstehen. Grob ist die Einschätzung richtig, daß Teil-Verlagerungen dazu führen sollen, daß an den alten Standorten die neuen Bedingungen durchgesetzt werden. Die Strategie ist nicht Deindustrialisierung, sondern:
- Fließband/Massenproduktion von Konsumgütern in Westeuropa (wieder) profitabel machen (z.B. Classica-Modell im HWB produzieren),
- unter tarifvertraglichen Bedingungen zu denselben Preisen wie mit polnischen Schwarzarbeitern bauen (Töpfer),
- neue Zusammensetzung von Hi-Tech und Drecksarbeit im Recyclingsektor (Waschmaschinen-Recycling).
5) Was steht an?
Heute befinden wir uns in einer Phase, in der die Kampfbedingungen für viele Jahre festgelegt werden könnten. Das Kapital will nur noch junge, leistungsfähige und unerfahrene ArbeiterInnen direkt (auf dem Bau, in der Fabrik usw.) verwerten. Der Rest wird in 2. und 3. Arbeitsmärkten (Abfallverwertung, Öko ...) und niedrig bezahlten Dienstleistungen eingesetzt. »Lebensarbeitszeitmodelle« à la Blüm ... Ungeheure Verdichtung der Arbeit in den Kernbereichen plus Ausweitung der Arbeitszeit plus hohe »Arbeitslosigkeit« ...
Wir müssen diese Analysen einerseits arbeitsteilig aktualisieren und vertiefen; andererseits müssen wir sie in einfache Agitation umsetzen. Zum Beispiel:
- reale Inflation für die ArbeiterInnen ausrechnen (Wegfall der Berlinzulage, Explosion der Mieten, massive Verteuerung jeder Art von Mobilität ...)
- der Angriff betrifft alle Bereiche: »Freizeit« wird stärker durchkapitalisiert (Zweit- und Drittjobs; Verteuerung; Räume können nur noch gegen Bezahlung betreten werden: Innenstädte, Bäder ....)
- Ausweitung der inneren Sicherheit (Abhörmöglichkeiten, Aufrüstung der Polizei, Entwicklungen im Staatsapparat, wie sie zu Beginn der 70er Jahre als »Faschisierung« thematisiert wurden (Hamburger und Berliner Bullen, V-Mann in Solingen ...), Privatisierung und Ausweitung der ganzen »Sicherheitsdienste« (im Öffentlichen Nahverkehr, in den Kaufhäusern, in den Innenstädten überhaupt ...)
- Krieg wird wieder stärker zu einer Waffe im Klassenkampf, die auch eingesetzt wird; hat nichts mit »Imperialismus« im Sinn der Eroberung von Märkten oder so was zu tun...
6) Was wollen wir tun?
Wie wir uns die »Kampagne« vorstellen
Samstag morgen kurz vor 6 Uhr taucht die aufgehende Sonne eine gespenstische Szene in ein fahles Licht. Bleich und müde von 5 Tagen Schichtarbeit trotten einige Männer und Frauen durch die fast leeren Straßen zur Fabrik. Doch heute ist alles anders. Ein zwar ebenso müder aber fröhlicher und lautstarker Haufen Leute erwartet die ArbeiterInnen vor der Fabrik. Das Tor ist mit einem stabilen Fahrradschloss zugesperrt. »Heute fällt die Sonderschicht aus!«, »Wer Überstunden macht, ist Streikbrecher!« schallt es durch das Morgengrauen. Ratlos und unsicher bleiben die MalocherInnen stehen. Zaghafte Diskussionen entwickeln sich. Einige wenige versuchen, sich einen Weg durch die Menge zum Fabriktor zu bahnen. Sie werden freundlich aber bestimmt zurückgedrängt. Unter allgemeinem Gelächter versucht ein Arbeiter, über den Fabrikzaun zu krabbeln. Der Pförtner telefoniert hektisch. Das ist heute etwas anderes als die üblichen Flugblattverteilaktionen...
So oder so ähnlich könnte eine Aktion im Rahmen unserer sogenannten Kampagne aussehen. Andere Aktionen könnten Besuche besonders fieser Ausbeutungssituationen sein (Supermärkte, Umschulungsfirmen etc.), Go-Ins bei den Arbeitsamt-Heinzis, die so was angeordnet haben. Oder vielleicht kollektive »Einkaufsaktionen« mit AsylbewerberInnen, die sich gerade gegen die Auszahlung ihrer Sozialhilfe in Gutscheinen wehren.
Worum geht es uns mit der »Kampagne«?
Gegen das weit verbreitete Ohnmachtgefühl angesichts der umfassenden Angriffe auf unsere Lebensqualität wollen wir an überschaubaren Punkten kollektive Aktionen durchführen.
- Wir wollen in Diskussionen mit ArbeiterInnen kommen, ohne immer nur als Theoriezirkel aufzulaufen. Nicht immer nur anderen zu sagen, was sie alles gegen ihre beschissene Situation machen könnten/sollten. Sondern aus der Position des selber agierenden heraus mit anderen über gemeinsame Kämpfe etc. diskutieren.
- Mal wieder Aktionen mit vielen machen. Bei dem, was wir uns vorstellen, könnten sich Leute aus unserem weitesten Umfeld einklinken. Leute, mit denen wir zwar hin und wieder Kontakt haben, die sich aber nicht an unseren mühsamen und zähen Organisierungsversuchen beteiligen (wollen). Die Organisierung sozusagen andersrum angehen: über praktische Initiativen zur inhaltlichen perspektivischen Auseinandersetzung...
- Über diese Aktionen zu einem gewissen Bekanntheitsgrad zu kommen, der es uns erleichtert, an anderen Punkten mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Wir können uns dann gewissermaßen »ausweisen«, die Leute haben dann eher ne Vorstellung, von wem die Plakate und Flugis kommen.
- Inhaltlich soll an diesen Aktionen unser Verständnis von Klassenkampf deutlich werden. Zum einen ist es uns wichtig, an den Orten, an denen das Kapital reproduziert wird, aktiv zu werden, zum anderen ist die Kampagne keinesfalls auf Fabriken beschränkt.
- An unseren praktischen Aktionen wollen wir auch untersuchen und überprüfen, ob unsere Ideen und Vorstellungen von dieser Gesellschaft überhaupt stimmen bzw. relevant sind. Sind wir wirklich an den wichtigen Fragen dran? Bestenfalls lassen sich während der Aktionen mit den davon Betroffenen neue Aktionen entwickeln.
- Außerdem werden wir beweisen, daß das anscheinend so übermächtige System angreifbar ist. Und Spaß werden wir dabei auch noch haben.
- Und schließlich hoffen wir, mit dieser »Kampagne« die Leute zusammenbringen zu können, die unter politischem Kampf noch was Umfassenderes verstehen, und die sich selber an den Begrenztheiten der verschiedenen noch existierenden Initiativen, Gruppen und Scenes stören.