Wildcat-Zirkular Nr. 63 - März 2002 - S. 32-43 [z63antid.htm]


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Zur Kritik der Antideutschen Linken

Als sich im Herbst 2000 der deutsche Staat als der bessere Antifaschist offenbarte, kam Unsicherheit in die Antifaszene. Auch vor dem Hintergrund der 'Antiglobalisierungsbewegung' begab sich die Szene auf die Suche nach weitergehenden Ansätzen. Für manche endete diese Suche bei der anti-deutschen Wertkritik. Die antideutsche Linke war Anfang der 90er in Reaktion auf die deutsche Wiedervereinigung und den wachsenden Nationalismus entstanden. Ihre wichtigsten und lautstärksten Vertreter waren zunächst um die Redaktion der konkret zu finden, dann bei einer Abspaltung vom westdeutschen Kommunistischen Bund (KB), der antideutschen Zeitschrift bahamas.

Antideutsches Gedankengut hat sich in den letzten 10 Jahren im linken Wortschatz breitgemacht. Antifas, Antirassisten und Antinationale (soweit sich das überhaupt differenzieren läßt) reden von einem nationalen oder völkischen 'Konsens', von 'den Deutschen' als 'Volkskörper' usw..

Nach den Anschlägen von New York und Washington DC im September 2001 reißen nun Gräben beispielsweise zwischen den antideutschen Gruppen bahamas- und konkret-Redaktion auf. Die einen unterstützen den »Krieg gegen den Islamismus«, weil sie in der Kriegspolitik der USA einen »Kampf um zivilisatorische Standards« sehen; bei den anderen kommt nun wieder ihre alte antiimperialistische Matrix durch. In diesem Prozeß finden Neupositionierungen rund um bahamas und die initiative sozialistisches forum (isf) statt. Wenn auch nicht alle diese Grüppchen die Kriegshetze der bahamas-Redaktion teilen, gibt es dennoch Grundannahmen, die sie einigen. Wir halten diese Grundannahmen für wirkungsmächtiger und gefährlicher als die absurde Kriegshetze und setzen uns deshalb im folgenden damit auseinander.

1. Gegen die soziale Organisierung
Wann immer sich Menschen (in Deutschland) zusammentun, um gegen ihre Situation anzugehen, seien Judenmord und þvertreibung die Folge. Diese Auffassung sieht einen 'strukturellen' Antisemitismus in der deutschen 'Arbeiterschaft' und die Holzmann-Arbeiter vor der Deutschen Bank, die Pogrome von Hoyerswerda, Rostock, Mannheim-Schönau usw. als Beleg dafür.

2. Für Israel
Vom Adorno'schen Imperativ ausgehend, »Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«, fordern die Antideutschen eine »unbedingte Solidarität mit Israel«. »Die Juden«, seien »die 'wahren Verdammten dieser Erde'«, sie bräuchten unsere Solidarität, um der drohenden Vernichtung zu entgehen. Die Solidarität mit 'den Juden' wird als Solidarität mit dem israelischen Staat verstanden, der so »notwendig wie je und bedroht wie nie« (bahamas) sei.

3. Gegen die Barbarei, für die kapitalistische Zivilisation!
Der im Kapitalismus zu findende zivilisatorische Fortschritt muß gegen den 'Rückfall' in die Barbarei notfalls mit Krieg verteidigt werden. Der Zweite Weltkrieg sei in diesem Sinne zu verstehen, er habe die »Minimalbedingungen der sozialen Revolution in Deutschland« (Joachim Bruhn, isf) wiederhergestellt.

1.

Auf den Spruch »soziale Organisierung (in Deutschland) riecht nach Gas« lassen sich so ziemlich alle Verlautbarungen der Antideutschen zum Klassenkampf, oder besser dem, was sie dafür halten, zuspitzen. Das 'Argument' wird immer dann bemüht, wenn es darum geht, sich ohne genauere Analyse von einem sozialen Kampf zu distanzieren. Dabei wird unterstellt, die soziale Revolte gegen das Kapital könne sich ohnehin nur in (strukturell) antisemitischen Formen ausdrücken und das sei der Boden für Vernichtung. Was soll das aber bedeuten?

Zu kurz gegriffen

An seiner Oberfläche erscheint das Kapital als riesige Warenansammlung, die sich vor allem um eines dreht: Geld. Das Kapital tritt uns also auf dieser Ebene vor allem als Handels- oder zinstragendes Finanzkapital entgegen. Wenn sich die Revolte gegen ein so (un-)verstandenes Kapital vor allem in der Gegnerschaft zu seinen Agenten, also Händlern und Banken, entlädt, trägt sie die Tendenz in sich, antisemitisch zu werden. Die Verkürzung der Kritik am Kapitalverhältnis auf eine Kritik an der 'Zinswirtschaft' und die Projektion dieser Kritik auf die Agenten dieser Zinswirtschaft, richtete und richtet sich oft gegen 'die Juden', die nicht dem kanonischen Zinsverbot des Mittelalters unterlagen und deswegen oft mit der Geldwirtschaft assoziiert werden. Kapitalismus wird hier als Geldwirtschaft, das Kapitalverhältnis als 'Zinsknechtschaft' verstanden. Völlig ausgeblendet bleibt die industrielle Organisation der Arbeit und damit des Kapitals. In der Geschichte sind vor allem kleine und mittlere Handwerker und Bauern Träger dieser Art Kapitalismuskritik gewesen.

Eine andere, davon zu unterscheidende Verkürzung der Kritik an kapitalistischen Verhältnissen ist die Forderung nach einem 'gerechten Lohn'. Diese Kritik stellt zunächst einmal Lohn und Profit gegenüber, und hat deswegen unmittelbar eher den eigenen Chef als die Geldwirtschaft zum Anti-Symbol. Auch diese Position abstrahiert von der Organisation der Produktion, vom Kapitalverhältnis als einem Klassenverhältnis, das die übergroße Mehrheit der Menschen ständig von den Mitteln ihrer Reproduktion trennt. Sie stellt nur die Frage nach einer 'gerechteren' Verteilung des kapitalistischen Reichtums, problematisiert die Bedingungen seiner Herstellung aber nicht. Während der Kampf um einen 'gerechten' Lohn von jeher zu den zentralen Motiven der Arbeiterbewegung gehört, hat sich die Kritik an der Zinswirtschaft, die ihre sozialen Träger eher im kleinen und mittleren Bürgertum als in der Arbeiterschaft hat, historisch nicht wirklich durchsetzen können.

Die Antideutschen drehen das richtige Argument, wie es z.B. Moishe Postone formuliert hat, der (moderne) Antisemitismus sei eine verkürzte, personalisierte Form der Kapitalismuskritik, um. So kommen sie zu dem falschen Schluß: »verkürzte Kapitalkritik ist antisemitisch«, den sie als Allzweckwaffe gegen jeden sozialen Kampf einsetzen. Verkürzungen in der Kritik des Kapitals gibt es viele: Keine Bewegung fällt fertig vom Himmel. Die Aufsässigen empören sich über Ungerechtigkeiten, gehen vielleicht einen Schritt weiter, radikalisieren sich und verstehen die selbst erlebte Ungerechtigkeit in ihrem Wesen und Zusammenhang - oder eben nicht. Aber die realen Verläufe brauchen die antideutsche Kritik gar nicht zu interessieren. Indem sie darauf hinweisen, daß die Kritik einer Bewegung am Kapitalverhältnis 'verkürzt' sei, können sie jede soziale Bewegung des Antisemitismus bezichtigen.

Ein Beispiel, wie so was geht, findet sich im Editorial der bahamas Nr. 37: »... Argentinien. Da haben wir sie doch, die kämpfenden Volksmassen gegen USA und Weltmarkt mit einem zweifelsfrei untadeligen Anliegen ... Doch da ist sie schon wieder, die "Antisemitismuskeule". "Hagali", eine Internet-Adresse, von der es doch immer geheißen hat, sie sei seriös, meldet, daß aus Argentinien in den nächsten Jahren eine der größten Auswanderungswellen seit vielen Jahren nach Israel bevorstünde. Wie zur Bestätigung wird am 16.01.2002 die vollständige Verwüstung eines jüdischen Friedhofs in Argentinien gemeldet.« In der zitierten Meldung von Hagali wird der Leiter der Delegation der Jewish Agency genannt, der gerade betont, daß die Unruhen und Plünderungen keinen antisemitischen Hintergrund haben! Der ganze Artikel drückt aus, daß argentinische Juden wie viele andere das Land aus wirtschaftlichen Gründen verlassen: »"Wir kamen wegen der wirtschaftlichen Probleme," fährt sie fort. "Julio arbeitete als Taxi-Fahrer und verdiente am Tag $ 10 Dollar, und ich leitete eine Reinigungs-Firma. Unser Einkommen war nicht gut, deshalb begann ich Versicherungs-Policen zu verkaufen." (...) Freunde fragten mich, wie ich mich dafür entscheiden könnte, in ein Land auszuwandern, in dessen Straßen Bomben explodieren, und ich antwortete, "das ist immer noch besser als auf Argentiniens Straßen von einem verhungernden Räuber getötet zu werden, der $ 10 Dollar von dir stehlen möchte."« Mit der Entscheidung, Argentinien in Richtung besserer wirtschaftlicher Verhältnisse zu verlassen, sind sie nicht allein. Auch vor dem deutschen oder dem italienischen Konsulat stehen lange Schlangen. Die Zerstörung eines jüdischen Friedhofs aber wird von bahamas benutzt, um der Auswanderungswelle eine andere Motivation, einen grassierenden Antisemitismus, zu unterstellen und so die Bewegungen in Argentinien gleich mit abzuhaken. Über das Maß, das die Oberflächenreflektion der politischen Klasse bietet, interessiert man sich bei bahamas nicht dafür, was in Argentinien wirklich passiert. Was auf den Stadtteilversammlungen passiert, wie sich die Aufsässigen zu den linken und rechten Peronisten verhalten, was sich etwa hinter der Ablehnung aller Politiker und Parteien an Einsicht verbirgt, das interessiert nicht, denn anhand von drei Sätzen ist die Bewegung verstanden und kritisiert. Der an sich richtige Satz, daß »Antisemitismus (...) ein Maßstab dafür (sei), ob eine Krise nach pathologischem Muster gelöst, also abreagiert wird, oder ob Ansprüche sich regen, die auf den Kommunismus zielen« wird hier ganz bewußt benutzt, sich einer genaueren Betrachtung zu enthalten.

2.

Die Antideutschen fordern eine 'unbedingte Solidarität' mit dem Staat Israel, dem Staat 'der Juden' ein. 'Die Juden' werden als volksgemeinschaftliche Einheit verstanden, Israel als ihr Staat. Die Brüche und Auseinandersetzungen in der israelischen Gesellschaft interessieren die Antideutschen nicht wirklich. Jüdische Kritiker am israelischen Staat, 'jüdische' Linke, werden, so sie überhaupt wahrgenommen werden, zu Verrätern am jüdischen Vaterland, der Bezug auf sie gerät in den Verdacht des Antisemitismus:»Ist heute möglicherweise antisemitisch, wer sich nicht klar und unmißverständlich hinter den Staat Israel stellt und sich statt dessen hinter einer ominösen israelischen Linken verschanzt, die ihn kaputt machen würde, wenn sie zum Zuge käme?« (bahamas 34)

Uns soll es nicht um die Frage der Existenzberechtigung des israelischen Staates gehen. Israel existiert und ist als entwickeltster kapitalistischer Staat der Region zu verstehen und zu kritisieren. Diese Kritik heißt aber weder, ein Existenzrecht Israels anzuzweifeln, noch, es zu verteidigen. Welchen Sinn sollte es für Revolutionäre machen, einen Staat abschaffen zu wollen? Was wäre an seine Stelle zu setzen? Welchen Sinn macht es andererseits, ein Staatsgebilde zu verteidigen? Wenn es um Solidarität geht, dann nur um Solidarität mit konkreten Menschen und ihren Kämpfen, nicht mit 'Völkern', 'Nationen' oder Staaten. Die Ebene von 'pro oder kontra Israel' ist nicht die Ebene unserer Auseinandersetzung mit dieser Gesellschaft. Wer glaubt, auf andere Weise Realpolitik betreiben zu müssen, ist im Auswärtigen Amt (die führen tatsächlich die Diskussion, welche Staaten sie auflösen und welche sie neu gründen werden) besser aufgehoben als in Debatten über die Aufhebung des Bestehenden.

Die antideutsche Pro-Israel-Position vollzieht nach, was der gemeine Antisemitismus und der deutsche Nationalsozialismus begonnen hatten: die Gleichmachung 'der Juden' (natürlich nicht mit derselben eliminatorischen Konsequenz). Dieses Projekt, die Nivellierung 'der Juden' zu einem 'Volk', ist, ob in diskriminierender Weise, wie es der Antisemitismus und Nationalsozialismus tat, oder mit positivem Bezug, wie es der Zionismus und die Antideutschen tun, konterrevolutionär und antiemanzipatorisch.

Jüdische Intellektuelle hatten von Anfang an die sozialistische Bewegung entscheidend geprägt. Anfang des 20. Jahrhunderts waren in Europa und an der nordamerikanischen Westküste jüdische Proletarier unter den am meisten revolutionären Elementen der Arbeiterklasse zu finden, ihren größten geschichtswirksamen Einfluß erreichten sie aber in Osteuropa. Plechanov bezeichnete diese jüdischen Proletarier: »in gewisser Hinsicht als die Avantgarde der Arbeiterbewegung Rußlands.« Diese Präsenz jüdischer Revolutionäre läßt sich nicht nur an Einzelpersonen, wie Marx, Lassalle, Trotzki, Luxemburg, zeigen, sondern kommt auch in dem Gewicht zum Ausdruck, das z.B. die Auseinandersetzung zwischen dem jüdischen Bund und den Bolschewiki am Vorabend der russischen Revolution hatte. Diese jüdischen Revolutionäre verbanden ihre eigene Emanzipation von rassistischer Diskriminierung mit der Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung und verstanden sich natürlich in Opposition zu jüdischen Kapitalisten. Vielleicht war es gerade das Fehlen eines jüdischen Nationalstaates, das die jüdischen Proletarier zu Avantgarden des Klassenkampfs machte: sie hatten kein Vaterland, in dessen nationalistischer Ideologie sie sich verlieren konnten, wie es Anfang des 20. Jahrhunderts den europäischen Sozialdemokratien, namentlich der deutschen, erging.

Es war zunächst der Antisemitismus, der nur noch 'die Juden' sehen wollte. Der Antisemitismus hauptsächlich französischer Sozialisten und Anarchisten, wie Blanqui und Proudhon, machte aus Marx 'den Juden'. Der Antisemitismus erklärte sich die jüdische Großbourgeoisie ebenso zum Feind wie die jüdischen Proletarier, deren revolutionäres Ringen er nur in Zusammenhang mit einer Weltverschwörung 'der Juden' verstehen konnte. Diese Einebnung in der Betrachtung der jüdischen Bevölkerung Europas brachte der Nationalsozialismus zur Vollendung: in der Vernichtung waren alle Juden gleich.

Der Zionismus und sein Staat Israel verfestigen die Gleichmachung der Juden von der anderen Seite, also positiv. Die jüdische Volksgemeinschaft erscheint als positiver Bezugspunkt und ebenso wie beim Antisemitismus wird der Klassengegensatz zwischen jüdischen Proletariern und Kapitalisten hinter einer nationalistischen Ideologie versteckt. Wie jeder Nationalismus ist auch der jüdische gegen die revolutionäre Aufhebung des bestehenden gerichtet.

Der israelische Staat erscheint den Antideutschen aber als notwendiges Vehikel gegen die antijüdisch motivierte Vernichtung, das eben bis zur Aufhebung aller Staaten bestehen bleiben müsse. Er wird als notwendige Schutzmacht verstanden, als die er aber eben gar nicht fuktioniert. Es ist eine bittere Ironie, daß der Staat, in dem 'Juden' þ als 'Juden', nicht als Verkehrsteilnehmer oder Bauarbeiter þ aktuell am meisten bedroht sind, gerade Israel ist. Diese Bedohung ist das Resultat einer jahrzehntelangen rassistischen Politik, die trotz der zionistischen Ideologie zwischen westlichen und orientalischen Juden genauso gut zu unterscheiden wußte wie zwischen Juden und Arabern. Und auch heute ist Sicherheit in Israel eine Frage des sozialen Status: die Opfer der Selbstmordanschläge sind hauptsächlich die ärmeren und besser erreichbaren Israelis, osteuropäische Einwanderer oder verarmte sephardische Juden in den Siedlungen. [1]

Wenn diese rassistische Spaltung der israelischen Gesellschaft samt der besetzten Gebiete zu irgendetwas 'gut' war, dann dazu, eine billige und quasi rechtlose Arbeitskraft verfügbar zu machen, auf deren Ausbeutung der Erfolg der israelischen Wirtschaft zu einem guten Teil beruhte. Insofern erweist sich Israel als ein 'normaler' kapitalistischer Staat [2] in dem das Klassenverhältnis in einer sehr spezifischen, Form verschleiert ist þ einer Form, die inzwischen tausende Menschenleben auf beiden Seiten dieser unseligen Spaltung gekostet hat.

Den Adorno'schen Imperativ an der aktuellen Situation in Israel zu Ende zu denken, hieße sich auf die Suche nach den Menschen und ihren Bewegungen zu begeben, die den derzeitigen Zustand konsequent und praktisch zu kritisieren überhaupt in der Lage sind. Eine Überwindung der rassistischen Spaltung in der israelischen Gesellschaft und der andauernden rassistischen Instrumentalisierung des 'Palästina-Konfliktes' liegt aber weder im Interesse des israelischen Staates noch in dem der arabischen Regimes der Region, die die Spannungen in ihren eigenen Staaten nach wie vor ganz gut über den 'Israel-Palästina-Konflikt' ableiten können. Eine Beendung des Mordens in der Region wäre deswegen zuallerst von einer sozialen Revolte zu erwarten, die sowohl diese Regimes beseitigt als auch der rassistischen Politik Israels ein Ende bereitet. Die Verschärfung des Krieges, mit der die Antideutschen sich 'solidarisch' erklären, aber verbaut die Perspektive auf eine solche Aufhebung genau so wie die Forderung nach Bomben auf Bagdad.

Die Unterstützung des Krieges gegen Afghanistan und vielleicht demnächst gegen andere Staaten der 'islamischen Welt' ist deshalb nicht nur angichts zehntausender Opfer zynisch, sondern selbst in dem engen Sinne, in dem die Antideutschen Adorno verstehen, entgegengesetzt, weil sie kaum dazu taugt, antiisraelische und antijüdische Positionen zu überwinden, sondern diese als einen antiimperialistischen Reflex noch befördert. Die soziale Revolution, die auf die Überwindung der Gräben hinzielt und die Gesellschaft an ihrer Wurzel, dem kapitalistischen Ausbeutungsverhältnis nämlich, angreift, verschwände einmal mehr unter der Last »zivilisierender« Bombergeschwader.

3.

Obwohl sich die antideutsche/wertkritische Linke aktuell an der Frage um den 'Krieg gegen den Terror' in ihre Einzelteile zerlegt, ist ihnen der positive Bezug auf die zivilisierende Mission der Alliierten des Zweiten Weltkrieges doch gemeinsam, den nur die bahamas-Fraktion in die aktuelle Auseinandersetzung um 'Zivilisation' und 'Barbarei' verlängert.

Diesem positiven Bezug liegt die Auffassung zugrunde, zwischen Faschismus und dem als 'normal' verstandenem demokratischen Kapitalismus existiere ein Bruch, der uns zwinge, die 'zivilisatorischen' Elemente der kapitalistischen Entwicklung gegen die 'barbarischen' zu verteidigen. Insofern ist der Streit um die Position zum aktuellen Krieg im wesentlichen ein Streit darum, ob die gemeinsamen Vorstellungen bezüglich 'Zivilisation' und 'Barbarei' aktuell angewendet werden können.

Barbaren? Zivilisation?

In der aktuellen Auseinandersetzung ist es erst mal verwunderlich, mit welcher Leichtigkeit Linken heute die Begrifflichkeiten von 'Zivilisation' und 'Barbarei' über die Tastatur gehen. Machte sich früher jeder der Verteidigung des Kapitals verdächtig, der seine 'zivilisierende Mission' nur erwähnte, gehört es heute bei seinen vorgeblich schärfsten Kritikern zum guten Ton, mit kulturindustriellem Pathos die Segnungen von Fernsehen, Fanta und westlicher Zivilisation zu verteidigen. Diese Zivilisation enthielte das Versprechen »auf Glück und Erfüllung jenseits von Mangel und Zwang«. Ein auffällig uneingelöstes Versprechen, wie sich schon bei oberflächlicher Betrachtung herausstellt! Wenn die Antideutschen sich aktuell darüber streiten, auf welche Art diese 'Zivilistaion' ihnen besser gefällt, in Form des amerikanischen 'pursuit of happiness' oder des französischen 'liberté, egalité, fraternité', so sei darauf verwiesen, daß diese Art 'Zivilisation' seit ihrem Bestehen immer nur einer verschwindend geringen Minderheit garantiert war. Die Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus ist eben auch eine Geschichte der anderen Seite dieser 'Zivilisation': von Mord und Krieg, von breiter Verelendung vor dem Hintergrund einer immer mehr gesteigerten Reichtumsproduktion. Sie ist die Geschichte der andauernden und immer wieder neu durchgesetzten Abtrennung von diesem Reichtum. Der »menschliche Fortschritt (gleicht) jenem scheußlichen heidnischen Götzen (...), der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.« [3] Das 'Versprechen' existiert nur negativ, als Ausschluß - die Menschen können im Kapitalismus nur ahnen, was ihnen vorenthalten wird.

Den Zusammenhang zwischen 'Zivilisation' hier und 'Barbarei' dort können die nicht sehen, die sich in dieser Gegenüberstellung ihren Platz suchen, obwohl sowohl die Barbarei des Nationalsozialismus als auch die der islamistischen Taliban durchaus als Produkt dieser angeblich zu verteidigenden 'Zivilisation' zu verstehen sind. Und zwar in doppelter Hinsicht: erstens ist weder das eine noch das andere 'von außen' über die Gesellschaft hereingebrochen, die Nationalsozialisten wurden von einer demokratisch gewählten Regierung ins Amt gerufen, die Taliban von eben solchen ausgebildet und unterstützt. Wo immer zur Absicherung der kapitalistischen sozialen Verhältnisse sich die Demokratie mit ihren bürgerlichen Freiheiten als untauglich erweist, sind die Apologeten des Fortschrittes bereit, sich auf ihre angebliche Negation einzulassen. Aber auch in einer anderen Hinsicht ist die 'Barbarei', die 'Unmenschlichkeit', das Bild, das wir von der diktatorischen Herrschaft haben, Produkt der 'Zivilisation': die 'Barbaren' werden nicht nur unmittelbar von der 'Zivilisation' erzeugt, sie werden auch als 'Barbaren' instrumentalisiert. Hinter der Darstellung der Gräuel der Unzivilisierten, hinter dem 'Zivilisationsbruch' verschwinden die historischen und alltäglichen Verbrechen, auf denen diese 'Zivilisation' errichtet ist. So wie das römische Reich in der Antike sich nach dem Ende der punischen Kriege seine 'Barbaren' erfand, um die 'äußere Bedrohung' weiterhin zur Legitimation der eigenen Herrschaft benutzen zu können, werden heute aus ehemals unterstützten Kämpfern gegen den 'Kommunismus' barbarische Unzivilisierte, Terroristen, gegen die es den gerechten Krieg, einen Kreuzzug gar, zu führen gelte.

Dabei erkennt aktuell vor allem die bahamas-Fraktion (die sich plötzlich gar nicht mehr so antideutsch gebärdet þ und deswegen von ihren Opponenten als ex-antideutsch bezeichnet wird) nicht nur die Konstruktion von 'Barbarei' und 'Zivilisation' und den angeblichen Gegensatz zwischen ihnen erst mal stillschweigend an, sondern sie akzeptiert auch gleich noch die Behauptung, daß dieser Krieg (und andere) eine solche Auseinandersetzung zum Inhalt hätte. Die antideutsche Linke hat sich immer wieder darin hervorgetan, die ideologische Verklärung der Kriegsziele der verschiedenen Parteien für die Realität zu nehmen.

Antifaschistischer Krieg?

Im Zweiten Weltkrieg wird deswegen stark vereinfachend das deutsche Kriegsziel in der Vernichtung der europäischen Juden verortet: »Während die klassischen imperialistischen Kriege ein Ziel außerhalb besitzen, also auf Durchsetzung von (ökonomischen) Machtinteressen zielen, war die Vernichtung des europäischen Judentums oberstes Kriegsziel des Vernichtungskrieges der deutschen Wehrmacht.« [4] Andererseits wird den Alliierten Siegermächten eine letztlich antifaschistische Motivation unterstellt. Sie hätten »in einem für sie verlustreichen Luftkrieg versucht (...), die Deutschen vom Nazitum zu befreien«.

Bei dieser Bewertung des Zweiten Weltkrieges treffen sich die Antideutschen dann auch mit den von ihnen vor allen in den letzten Jahren kritisierten Antifaschisten. Diese Diskussion ist keine neue: in den 1940er Jahren zogen tausende Antifaschisten in den Krieg gegen Hitlerdeutschland, um auf der Seite der Briten, der Amerikaner oder der Sowjetunion zu kämpfen - oft ohne sich die Kriegsziele 'ihrer' Partei zu eigen zu machen! Es ging und geht dem Antifaschismus in dieser Frage um das 'kleinere Übel'. Linksradikale haben dieser Position vorgehalten, der Faschismus (die Diktatur, die Barbarei) sei die andere Seite der Demokratie, zu der die kapitalistische Gesellschaft zwangsläufig tendiere, wenn die soziale Situation (besonders in Krisen) mit demokratischen Mitteln nicht mehr zu beherrschen ist. Insofern wäre der Faschismus nicht durch eine Verteidigung der Demokratie, die ihn ja erst hervorbringt, zu verhindern - was der Antifaschismus ja tatsächlich auch nie geschafft hat, egal wie aufopferungsvoll und entschlossen sein Kampf auch immer war (siehe Wenn die Aufstände sterben, Wildcat-Zirkular 50).

Der Blickwinkel der Antideutschen leugnet letzlich einen Zusammenhang zwischen 'funktionierender' kapitalistischer Verwertung samt der oft damit in Verbindung gebrachten parlamentarischen Demokratie als adäquater Staatsform und der Diktatur, des Faschismus oder des Nationalsozialismus. Die Geschichte des Kapitals ist aber gerade die Geschichte seines Nicht-Funktionierens, seiner Krisen und sozialen Erschütterungen. Kapitalismus ist eben nicht als harmonischer Verwertungsprozeß zu verstehen, von dem es hin und wieder 'Abweichungen' gibt, sondern die Verwerfungen und Brüche sind als Resultate seiner Krisenhaftigkeit zu entschlüsseln.

Die Gegenüberstellung kapitalistisch-demokratischer 'Normalität' und bisweilen sogar als anti- oder nichtkapitalistisch verstandener Diktatur ist vor allem ein Reflex des bürgerlichen Bewußtseins, um sich vor dem Hintergrund der Vernichtung eben nicht damit auseinandersetzen zu müssen þ weil sie als etwas äußeres, dem 'normalen' Verwertungsprozeß Fremdes zu verstehen sei. Wer diese Denkbewegung nachvollzieht, und das tun die Antideutschen, muß sich in dieser ideologischen Frontstellung auf die Seite der Zivilisation, der Demokratie, der 'bürgerlichen Freiheit' stellen, zu deren Durchsetzung sich dann eben auch die Bombardierung von (deutschen) Großstädten notwendig macht.

Minimalvoraussetzung für die soziale Revolution?

Einige Vertreter einer antideutschen Wertkritik behaupten zumindest nicht, das Aufräumen mit dem Nationalsozialismus und seinen Gräueln sei wichtigstes Kriegsziel der Alliierten gewesen, sie drehen das Argument ein Gewinde weiter, wie z.B. Joachim Bruhn vom Freiburger isf: »Es stimmt, leider, daß die US-Army keine Bomben auf die Gleise nach Auschwitz geworfen hat. Aber (...) im Krieg gegen den Nazifaschismus ereignete sich der unerhörte, historisch erste und bislang einzige Fall, in dem das ökonomische Interesse des Kapitals und das moralische Interesse der menschlichen Gattung zu hundert Prozent identisch waren.« Die britischen Bomber hätten »die Minimalbedingungen der sozialen Revolution in Deutschland wiederhergestellt«. (Quelle auf isf-freiburg.org)

Die Frage nach der Möglichkeit der Überwindung des deutschen Nationalsozialismus von Innen führt, auf diese deutschzentrierte Weise gestellt, eben auf das Gleis der antifaschistisch-demokratischen Ideologie der alliierten Siegermächte. Nach dem Zweiten Weltkrieges kam es nicht zu revolutionären Erhebungen wie nach dem Ersten Weltkrieg. Das ist - neben der Rolle, die die Sowjetunion bei der Entwaffnung und Integration der europäischen Arbeiter- und Partisanenbewegungen in das internationale Staatensystem gespielt hat - auch direkt auf die Kriegsführung der Alliierten zurückzuführen. Die zielte nämlich auf die Verhinderung von sozialen Revolten aus diesen Bewegungen. In Italien hat der verzögerte Vormarsch der Alliierten das Abschlachten der Partisanen ermöglicht, in Griechenland ist die revolutionäre Bewegung niedergemetzelt worden. Die antikolonialen Aufstände der Nachkriegszeit konnten vor diesem ruhiggestellten Hinterland um so leichter massakriert werden. Die Kriegsführung des Zweiten Weltkrieges ist ausdrücklich gegen die soziale Revolte gerichtet. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, an den sich eine Phase von bewaffneten Klassenkämpfen bis Mitte der 20er Jahre anschloß, war die Verhinderung solcher Bewegungen ein wichtiger Aspekt der Kriegsführung.

Die Frage der Niederschlagung des Nationalsozialismus von innen läßt sich, wenn man vom umgebenden Rahmen abstrahiert, schwerlich anders als antideutsch beantworten. Es gab keinen Aufstand gegen den Nationalsozialismus, es gab auch keine starke Partisanenbewegung wie etwa in Italien. Aber eine genauere Betrachtung ergibt, daß es im Verhältnis in Deutschland nicht weniger militanten Widerstand gegeben hat als etwa in Italien. Die Situation des deutschen Widerstandes gegen den Nazifaschismus läßt sich nicht losgelöst von der Politik der Alliierten verstehen. Neben der Repression durch den Naziapparat, die auch in den letzten Kriegsjahren noch Hunderttausende in die KZ brachte, waren es eben auch die alliierten Bombenteppiche, die jede Möglichkeit zum Aufstand erstickten. [5]

Die antideutsche Ideologie hat sich in ihrer Ablehnung sozialer Bewegungen und ihrem Bezug auf den Staat als antiemanzipatorisch blamiert. Je weiter sie nach rechts rückt, desto lauter wird die verbale Radikalität aufgedreht: 'Kommunismus' und dgl. - auch hier schließt sich ein Kreis: ihre antiimperialistischen Vorläufer, die in den 70er Jahren die ganze Welt mit albanischen und/oder chinesischen Zwangssystem beglücken wollten, betrieben gleichzeitig einen regelrechten Kult der Selbstdarstellung als 'Kommunisten'.


Fußnoten:

[1] Zur Rolle der Siedlungen im israelischen 'Sozialmanagement' siehe: Aufheben; Die Hintergründe der Intifada im 21. Jahrhundert; dt. als Beilage zum Wildcat-Zirkular 62.

[2] Zumindest so weit, als ein Staat, der in seinem Bestehen in erheblichem Maße von finanzieller Unterstützung von außen abhängig ist, wie Israel, als 'normal' anzusehen ist. Und zumindest so weit, als ein Staat, um dessen 'Existenzberechtigung' eine derart aufgeladene Debatte geführt wurde und wird, als 'normal' angesehen werden kann.

[3] Karl Marx, Schriften zu Indien, MEW Bd. 9, S. 226.

[4] Man könnte hier eine tiefe Einsicht vermuten, die nämlich dahinterkommt, dass die 'äußeren' Kriegsziele immer auch von einer Kriegsführung nach innen begleitet sind, gegen die Drohung der sozialen Revolution die nationale Gemeinschaft durchzusetzen. Insofern ist es natürlich nicht falsch, die 'Genese des Deutschen Volkes' als deutsches Kriegsziel zu verstehen, allerdings ist das eben gar nichts spezifisch deutsches.

[5] Siehe dazu: Martin Rheinländer: The American way of antifa, Wildcat-Zirkular 17.


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