17.07.2002 | Argentinien: ¡QUE SE VAYAN TODOS! | |
Argentinien aktuell:Am 26. Juni sind Darío Santillán und Maximiliano Costeki in Avellaneda, einem Vorort von Buenos Aires, von der Polizei erschossen worden. Beide gehörten zur Koordination arbeitsloser ArbeiterInnen CTD Aníbal Verón. Aus Protest gegen die Morde haben in der folgenden Woche mehrere Großdemonstrationen stattgefunden. Am 9. Juli, dem argentinischen Unabhängigkeitstag, demonstrierten in Buenos Aires 80 000 Menschen gegen die Regierung. Repression gegen die arbeitslosen ArbeiterInnen: Geplant und gezieltFür den 26. Juni haben die verschiedenen Arbeitslosenorganisationen wieder zu einem gemeinsamen Protesttag aufgerufen. An verschiedenen Punkten im Land werden die Straßen blockiert. Die größte Blockade findet mit 5000 Leuten auf der Brücke Pueyrredón statt, die die Hauptstadt Buenos Aires mit Außenvierteln verbindet. Hier greifen 2000 Polizisten und Militärs mit ungeheurer Brutalität und Schusswaffen an, und veranstalten eine regelrechte Menschenjagd auf die DemonstrantInnen. Im Bahnhof von Avellaneda wird Maximiliano von Kugeln getroffen. Darío bleibt bei ihm, um ihm zu helfen. Ein Polizist erschießt ihn aus nächster Nähe. Darío war 21 Jahre alt, Maximiliano 25. Bei dem Einsatz werden 200 Menschen festgenommen und 180 verletzt. Mehrere Schwerverletzte haben Schusswunden. Die Polizisten stürmen und verwüsten das Parteibüro des linken Wahlbündnisses Izquierda Unida und verletzen Personen, die sich dort befinden. Auch an anderen Blockadepunkten kommt es zu heftiger Repression. Mit Unterstützung vieler Medien versucht die Regierung zunächst, der Bewegung die Schuld zuzuschieben. Laut ihrer Version sind Darío und Maximiliano nicht von der Polizei erschossen worden, sondern 'bewaffnete piqueteros' (Bezeichnung für die organisierten Arbeitslosen), die sich gegenseitig umgebracht hätten. Die Lügenversion läßt sich jedoch nur kurze Zeit aufrechterhalten. Es gibt zu viele ZeugInnen und Fotos. Eine Serie von Fotos zeigt den genauen Ablauf des Mordes; der Polizist, der Darío von hinten erschießt, ist klar zu erkennen. Präsident Duhalde ergreift nun die Flucht nach vorne. Der Todesschütze Franchiotti und ein weiterer Polizeioffizier werden verhaftet, mehr als hundert Beamte suspendiert; der Polizeichef der Provinz Buenos Aires tritt samt Stellvertreter und Sicherheitsminister zurück. Duhalde kündigt für März 2003 Neuwahlen an, ein halbes Jahr früher als bisher vorgesehen. Aber der Polizeiterror war kein Unfall oder Exzess aus dem Ruder gelaufener Polizisten, wie diese Manöver glauben machen sollen. Die Ermordung der piqueteros war eine geplante und gezielte Aktion. Ein konkreter Hinweis ist der Bericht eines Journalisten der Tageszeitung Página 12, dem ein hochrangiger Richter schon drei Tage vorher gesteckt hatte, »dass auf der Brücke Pueyrredón eine gewalttätige Repression gegen die piqueteros vorbereitet würde«, und dass es dort zum Einsatz von Schusswaffen kommen würde. Auch propagandistisch war der Einsatz vorbereitet: In den vorhergehenden Wochen häuften sich Äußerungen von Politikern, Polizisten und Militärs, mit denen die Basisbewegungen und ihre Aktionen für illegal erklärt und härteres Vorgehen angekündigt wurde. Besonders die piqueteros der CTD Aníbal Verón, die sich aus Selbstschutzgründen auf Demonstrationen vermummen und mit Knüppeln 'bewaffnen', werden als Gewalttäter diffamiert. Wenige Tage vorher hatte Duhalde erklärt, er würde Straßenblockaden - die typische Widerstandsform der piqueteros - nicht mehr dulden. Sein Außenminister Carlos Ruckauf ging noch einen Schritt weiter, und bezog sich bei einer Rede vor Militärs stolz auf seine finstere Vergangenheit. 1975 hatte er als Minister das 'Dekret zur Vernichtung der Subversion' unterzeichnet, den Freibrief für die Militärs, gegen Gewerkschaften und Basisbewegungen vorzugehen. Nach einer blutigen Diktatur mit 30 000 Verschwundenen sagt derselbe Mann 2002, dass er diesen Schritt in keinster Weise bereut, sondern im Gegenteil stolz darauf ist und nicht zögern würde, es wieder zu tun - eine nur wenig versteckte Drohung, wieder das Militär gegen die Bewegungen einzusetzen. Massenproteste gegen den PolizeiterrorSchon im Dezember hatte das Regime versucht, sich mit der Verhängung des Ausnahmezustands und Schusswaffen gegen DemonstrantInnen zu retten. 32 Menschen wurden an diesen beiden Tagen ermordet. Nun hat auch die neue Regierung Duhalde zwei Genossen auf dem Gewissen. Aber die Bewegungen lassen sich nicht einschüchtern. Trotz des massiven Polizeiaufgebots strömen noch am selben Abend des 26. Juni Tausende zur Plaza de Mayo im Zentrum von Buenos Aires, um gegen die Morde zu demonstrieren. Am folgenden Tag folgen 25000 Menschen dem Aufruf zur Plaza de Mayo - piqueter@s, ArbeiterInnen, StudentInnen, Mitglieder von Nachbarschaftsversammlungen und von politischen Organisationen. Mehrere Gruppen von piqueter@s, die aus den Außenvierteln kommen, sind auf dem Weg wieder mit Provokationen und Angriffen der Polizei konfrontiert. Der Gewerkschaftsdachverband CTA hat zum Proteststreik aufgerufen: Zehntausende LehrerInnen und Staatsangestellte verweigern am 27. Juni die Arbeit. Auch in den Provinzen finden Demonstrationen und Straßenblockaden statt. Eine Woche später, am 3. Juli findet in Argentinien ein weiterer Protesttag statt: »Gegen den Hunger, die Repression und den Autoritarismus«. 50 000 gehen in Buenos Aires auf die Straße. Der 9. Juli wird in Argentinien als Unabhängigkeitstag gefeiert. Anfang März hatte Präsident Duhalde die wahnwitzige Ankündigung gemacht, dass dieses Jahr der Tag doppelt gefeiert würde, weil bis dahin die Krise beendet sei. Ein Ende der Krise ist nun allerdings nirgends zu erahnen, die Lebensbedingungen verschlechtern sich weiterhin dramatisch, und so war schon vorher auf einer landesweiten Versammlung verschiedener piquetero- und ArbeiterInnenorganisationen dazu aufgerufen worden, an diesem Tag wieder zu demonstrieren, gegen Duhalde und den IWF, und für das bekannte »Sie sollen alle abhauen«. Die Interbarrial, das Koordinationstreffen der Stadtteilversammlungen von Buenos Aires, schließt sich dem Aufruf an: »Für die zweite und endgültige Unabhängigkeit«. Und so wird die Plaza de Mayo zum zweiten Mal innerhalb einer Woche zum Schauplatz einer Großdemonstration von diesmal 80 000 Menschen. Darío y Maximiliano: Presentes!Die beiden erschossenen Demonstranten waren piqueteros. So werden in Argentinien die Arbeitslosen bezeichnet, die sich seit Mitte der 90er Jahre organisieren. Ihre wichtigste Aktionsform sind die piquetes, die massiven und oft tagelangen Straßenblockaden, mit denen sie immer wieder das Land lahmlegen. Piquete heißt ursprünglich Streikposten - da die piqueter@s als Arbeitslose keine Betriebe bestreiken können, organisieren sie sich territorial und errichten ihre piquetes auf den Straßen. Innerhalb der Bewegung der piqueter@s haben sich verschiedene Strömungen und Organisationen herausgebildet. Ende 2001 kam es um die Frage, ob mit der Regierung verhandelt werden sollte, zu einer Spaltung. Seit der Repression vom 26. Juni deuten sich weitere Auseinandersetzungen innerhalb der Bewegung um die leidige 'Gewaltfrage' an. Die beiden ermordeten piqueter@s waren Mitglieder der CTD Aníbal Verón. Es folgen Übersetzungen von Auszügen aus einem Artikel über Darío und Maximiliano und ihre Organisationen von www.rebelion.org, sowie gekürzt die Erklärung von H.I.J.O.S., einer Organisation von Nachkommen von Opfern der Diktatur. »Darío Santillán war 21 Jahre alt und beteiligte sich seit zwei Jahren an der Bewegung arbeitsloser ArbeiterInnen (MTD) von Lanús, einem Vorort von Buenos Aires. Er beteiligte sich nicht nur, er 'lebte' in der Bewegung, denn diese Organisationen bieten ihren Mitgliedern einen Rahmen, in dem sie ihre Existenz sichern können, ein Rahmen der notwendig wird, wenn die offizielle Gesellschaft Millionen von Menschen in Argentinien der völligen Marginalisierung überlässt. Wenige Tage vorher hatte Darío die Journalistin Laura Vales von der Tageszeitung Página 12 zu der Elendssiedlung, in der er lebte, mitgenommen, sie mit den Nachbarn dort bekannt gemacht, und ihr die verschiedenen Projekte von gegenseitiger Hilfe und selbstverwalteter Produktion gezeigt, mit der sie solidarisch die Krise angehen. Innerhalb der Organisation war Darío für die Herstellung der Lehmziegel zuständig, mit denen die Mitglieder der MTD seit einiger Zeit ihre eigenen Häuser bauen; Darío selbst baute sich mit seinem Bruder gerade ein Häuschen in einem Viertel mit dem bezeichnenden Namen La Fe (Hoffnung). Die Journalistin Vales begegnete Darío am Morgen des 26.; er war ruhig, unbesorgt und stolz darauf, dass eine solche Menge, tausende von Leuten, zu der Aktion gekommen waren, die sie organisiert hatten. Es gibt Zeugenaussagen darüber, wie er starb: mitten in der 'Menschenjagd' flüchtete Darío gemeinsam mit anderen Genossen in den Bahnhof Avellaneda. Da einer der anderen verletzt war, beschloss Darío, bei ihm zu bleiben und ihm zu helfen, während er die anderen aufforderte, weiterzulaufen und sich in Sicherheit zu bringen. Die Polizei kam und ermordete ihn aus nächster Nähe. Von Maximiliano Costeki wissen wir bisher viel weniger. Er war 25 Jahre alt und gehörte zur MTD von San Francisco Solano, einem Ort in der Nähe von Lanús. Er wurde von einer tödlichen Kugel in die Brust getroffen. Seine Genossen aus Solano sagen, dass er 'ein Bezugspunkt der Bewegung' war ('referente', und das ist höchste, was jemand in diesen horizontal strukturierten Organisationen sein kann, die keinerlei Anführer oder Vorsitzende im traditionellen Stil haben). Dieser 'hochgefährliche Subversive' - wie der offizielle Bericht versucht, ihn und seine Genossen darzustellen - arbeitete in der Ausbildungsgruppe (Selbstausbildung) der MTD von Solano, wo er unter anderem für die Bibliothek zuständig war. MTD Lanús und MTD Solano gehören beide - mit neun weiteren Bewegungen - zur Koordination der arbeitslosen ArbeiterInnen CTD Aníbal Verón, die mit ihrem Namen einen piquetero ehrt, der im Kampf gestorben ist. Diese elf Arbeitslosenbewegungen haben untereinander Differenzen, einige bestehen schon länger und andere erst kurz, einige haben einen höheren Organisationsgrad für das Überleben erreicht, und andere sind beim Aufbau selbstverwalteter Produktionsprojekte schon weiter. Aber alle haben bereits eigene Produktionsstätten für Baumaterialien, Kindergärten, Bäckereien und Medikamentenversorgung. Die kleinen Differenzen, die sie untereinander haben, sind sehr viel geringer als die zu anderen Arbeitslosenbewegungen, die mit Parteien oder Gewerkschaften liiert sind. Mit diesen machen sie nur zu bestimmten Gelegenheiten - wie an dem unheilvollen 26. Juni - gemeinsame Aktionen. Was die Mitglieder der Koordination Aníbal Verón von den anderen unterscheidet, ist vor allem ihre politisch-soziale Einstellung, die Kreativität, mit der sie sich auf die Erfahrungen von Generationen von KämpferInnen in Argentinien beziehen (besonders auf die der 70er Jahre), und wie sie sich - unter fast unmenschlichen Lebensbedingungen - die neuen Orientierungen aneignen, die in den großen Strömungen der weltweiten sozialen Bewegungen zu finden sind. Die Mitglieder der CTD Aníbal Verón bestehen auf ihrer absoluten Unabhängigkeit von Staat und Parteien - auch von denen der Linken - und erklären, dass es bei ihrem Kampf nicht darum geht, 'die Staatsmacht zu ergreifen' (um danach von oben aus die Veränderungen umzusetzen), sondern darum, von unten her die Veränderung des Gesellschaftssystems aufzubauen, durch die Rekonstruktion von solidarischen und kollektiven Verhältnissen. Deshalb greifen sie nur zum Zweck der Selbstverteidigung zu gewalttätigen Mitteln, immer auf den Widerstand beschränkt, oihne anzugreifen. Der Mittelpunkt des Lebens in den Arbeitslosenbewegungen MTD ist die Selbstausbildung und die selbstverwaltete Produktion. Grundregeln sind die horizontale Funktionsweise und die Entscheidungsfindung durch Konsens, und allgemein geht es darum, selbstbestimmte Freiräume zu schaffen, die ein viel größeres Vorhaben als die 'Machteroberung' möglich machen: die MTD kämpfen dafür, sich das Leben wieder anzueignen, es in die eigenen Hände zu nehmen, und wenn es schon nicht möglich ist, einen Himmel aufzubauen, dann wollen sie wenigstens die Hölle abschaffen.« von Cristina Feijoo und Lucio Salas Oroño, spanisches Original: http://www.rebelion.org/sociales/feijoo300602.htm  
(17. Juli 2002)
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