25.11.2002 Weltweite Entlassungswelle

Weltweite Entlassungswelle ....
und ein kleiner Betriebsbericht aus der IT-Industrie

2001 hat eine weltweite Entlassungswelle begonnen, welche die meisten Industriebranchen und Dienstleistungsbereiche betrifft. In China sind zudem seit 1998 über 30 Millionen Menschen aus den staatlichen Betrieben entlassen worden. In den USA haben in den letzten drei Jahren 9,9 Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz verloren, wovon 22% noch keinen neuen Job gefunden haben. Am stärksten trifft die Entlassungswelle die Telekoms und den IT-Bereich insgesamt. Die Deutsche Telekom z.B. will bis zum Jahr 2005 55.000 Arbeitsplätze abschaffen. Die Fusion von Compaq und HP wird 20.000 Arbeitsplätze kosten (inzwischen weitere Entlassungen angekündigt); Lucent wird nocheinmal 35.000 entlassen (2001 hatten sie noch 106.000 Beschäftigte, 2003 werden es dann noch 35.000 sein); Nortel will nochmal 7.000 entlassen (im Jahr 2000 hatten sie 92.000 Beschäftigte, Ende 2002 werden es noch 32.000 sein); Siemens will 20.000 entlassen usw. usw. Allein in den USA und allein im IT-Bereich gehen insgesamt zweieinhalb Millionen Jobs innerhalb von zwei Jahren verloren. Die Entlassungswelle hat auch die bestbezahlten Beschäftigten erreicht: in der europäischen Finanzmetropole London werden 20.000 Arbeitsplätze im Finanzsektor abgebaut, in New York sind bereits 60.000 abgebaut worden; die Dresdner Bank will 10.000 entlassen usw. usf.. Dagegen sind die Massenentlassungen in der Auto-Industrie fast schon "Peanuts": Ford streicht weltweit 35.000 Stellen, Opel in Deutschland 3.000 und das ums Überleben kämpfende FIAT mindestens 8.000....

Die kapitalistische Krise schlägt also durch. Der IT-Sektor erweist sich hierbei - genau wie in seiner nur wenige Jahre zurückliegenden Boom-Phase - als Senkrechtstarter. Die US-Automobilindustrie hat in zwei Jahrzehnten 500.000 Arbeiter entlassen, die US-Telekombranche in einem Jahr 700.000. Nebenbei erwähnt haben die US-Telekoms in den letzten zwei Jahren 95% ihrer Marktkapitalisierung verloren. Das allein drückt zwar erstmal nur das jähe und abgrundtiefe Ende der überhitzten Erwartungen in den IT-Bubble aus und wäre für sich genommen nicht unbedingt ein Zeichen für die Krise des Kapitals. Eine sehr viel deutlichere Sprache spricht dagegen die Entwicklung der Investitionen, die mit Ausnahme des inventory-bubbles auch in den 90er Jahren durchschnittlich sehr mäßig blieben und deren Rate sich weiter abwärts bewegt. Dieses ist allerdings nur die Zuspitzung eines langen Trends, in dessen Verlauf seit den 70er Jahren die Gewinne fallen, die sich nach einer zeit- und teilweisen Erholung Anfang der 90er Jahre nun auf historischen Tiefstständen bewegen. Viele der Profite, die während des nun begrabenen IT-Bubbles ausgewiesen wurden, und die die 'Erholungsphase' wesentlich geprägt hatten, standen allerdings auch nur auf dem Papier (siehe z.B. Robert Brenner: Enron Metastasized: Scandals and The Economy).

Wenn Siemens, HP, SAP, Alcatel (mehr...)und andere Größen in diesem Sektor entlassen, kann das auch an den Kleineren nicht spurlos vorbei gehen. So wird auch bei der Firma, in der ich seit fast fünf Jahren arbeite, und die eine für den IT-Sektor typische Entwicklung hinter sich hat, inzwischen entlassen.

Eigentlich arbeite ich bei dieser Firma erst seit einem Jahr. Ich sitze nur seit fünf Jahren am selben Schreibtisch und habe in der Zeit bei vier, fünf oder sechs (irgendwann hörst du auf zu zählen) Firmen gearbeitet. Nein, ich arbeite nicht bei mir zuhause! Mal GmbH, mal neuer Name, mal AG, mal Übernahme durch eine andere Firma, dann ausgegliedert - mehrere Umfirmierungen ... Ihr versteht schon: die üblichen cheats im hippen IT business. Die AG war mit richtig fetten Aktienkurssteigerungen mal ein Lieblingskind am Neuen Markt. Als sie Mitte letzten Jahres pleite war, kam dann aber doch Unsicherheit auf. Auch Verkäufe von Teilbereichen des Unternehmens, das mal weltweit ca. 1.500 Leute beschäftigt hatte, konnten die hoffnungslos verschuldete Muttergesellschaft nicht retten. Für ca. 400 Leute (darunter ich) hieß das: neue Firma - gleiche Arbeit. Eine amerikanische Tochter eines amerikanischen Konzerns kaufte die mobile-payment-Sparte des Unternehmens (D.h. alles, was sich um die Idee dreht, das Mobiltelefon als Kreditkarte zu benutzen - welche Chancen derartige Spinnereien nach den vorherigen Reinfällen e-Commerce und UMTS wohl noch haben werden?), und strickte um sie ein wildes Steuersparmodell: eine auf den Bahamas ansässige Briefkastenfirma mit verschiedenen 'unabhängigen' Tochtergesellschaften, in dem eine Firma die Software der anderen einsetzt, eine dritte die Infrastruktur beider pflegt, usw. (Comroad (mehr...) sag ich da nur, bloß daß wir richtig arbeiten sollen!)

Bereits seit dieser Zeit, seit Ende 2001, wird der Personalbestand beständig ausgedünnt. Leute, die von sich aus die Firma verlassen, werden nicht ersetzt, von ehemals 400 Leuten an drei Standorten sind momentan noch ca. 300 dabei. Aber auch das rechnet sich offensichtlich noch nicht. So hat die Firma - das heißt der als SoftwareCorporation bezeichnete Entwicklungsbereich - im letzten Jahr bei einem Umsatz von 12 Mio. US-Dollar ein Minus von ca. 26 Mio. US-Dollar eingefahren. Das überrascht nicht, denn eigentlich gab es nur einen größeren Kunden - die britische Mobilfunkgesellschaft Vodafone, die mit ihrem mobile payment System in Großbritannien 2002 an den Start gegangen ist. Für das nächste Jahr plant die Firmenleitung eine Verdopplung des Umsatzes und eine Verringerung der Ausgaben um ca. ein Drittel. Im Klartext heißt das: 'Headcount' verringern, mindestens zehn Prozent der Leute sollen gekündigt werden.

Was sich auf den Tischen der Firmenleitung in einfachen Umsatz-pro-Kopf Relationen ausdrückt, hat für die davon Betroffenen - sprich die zu Entlassenden - absurde Züge. Mit dem Argument 'Kosten sparen' werden Leute entlassen, deren Arbeit, soweit sie nicht auf andere Leute verteilt werden kann, durch externe Firmen erledigt werden sollen, die dann teurer sind als die bisherigen Lohnzahlungen. Noch dazu hat die vom schlechten Gewissen geplagte Standortleitung versucht, für einzelne einen neuen Job in eben diesen externen Firmen aufzutreiben - zu schlechteren Bedingungen, das versteht sich quasi von selbst.

Also auch diesbezüglich läuft alles "normal": Die Kollegen ereifern sich eher darüber, daß die unmittelbaren Kosten für die Auslagerungen höher liegen und schlüpfen in die Rolle des besser rechnenden Unternehmers. Daß die realen Unternehmer mit solchem Vorgehen die Risiken und Nebenwirkungen von Klassenkampf und anderen Krankheiten auf die Vertragsfirmen abwälzen, und daß der Angriff vor allem auf die weiterhin Beschäftigten geführt wird, das verschwindet hinter der scheinbaren Dummheit des Einzelunternehmers - oder seinem schlechten Gewissen. Und es ist nur eine scheinbare Dummheit, denn es funktioniert ja: Manager in den USA beurteilen die Bude in Europa nach einem einfachen Zahlenschema. Sie brauchen von Klassenkampf gar nichts zu wissen - das Schema funktioniert trotzdem, weil es die Leute politisch spaltet.

Das Drama um die letzten Entlassungen hat sich über Wochen hingezogen. Am Leipziger Standort mit etwa 110 Beschäftigten hatte der Betriebsrat in zähen Verhandlungen mit der Firmenleitung 'durchgesetzt', dass die Betreffenden persönlich informiert werden, bevor sie öffentlich gekündigt werden. Zunächst wurden nur sechs Leute entlassen, die mehrheitlich nicht unmittelbar an Projekten arbeiten: Reinigung und Service, Empfang, Buchhaltung... Von den sechs Entlassenen sind fünf Frauen - und das in einem Sektor, der deutlich unter zehn Prozent Frauen beschäftigen dürfte.

Aber die (noch nicht ganz) entlassenen KollegInnen redeten nur mit engen Vertrauten darüber und wollten keine Öffentlichkeit. Sie fühlten sich gedemütigt, schleppten sich aber absurderweise trotzdem jeden Tag auf Arbeit. Bis zu einer Betriebsversammlung Ende September blieb alles quasi Privatsache der direkt Betroffenen. Die Vorlage des Personalplans auf der Betriebsversammlung löste dann einige Unruhe aus. Aber dann haben Firmenleitung und Betriebsrat zur Besonnenheit gemahnt und der Chef hat noch einmal an die großen Aufgaben und an die Meilensteine, die vor 'uns allen' liegen, erinnert. Und niemand von denen, die wütend wieder an die Arbeit gegangen sind, ist auf die Idee gekommen, dass genau hier die Möglichkeit liegt, konkrete Solidarität (auch mit uns selber!) zu zeigen. Wenn alle Dienst nach Vorschrift machten, könnten sie ihre Terminvorstellungen in den Reißwolf steken. Alle wissen das, weil es Mitte des Jahres erheblichen Wirbel um die verschobene Fertigstellung des aktuellen Projekts gegeben hatte. Mit immer weniger Leuten soll eine Software produziert werden, für die realistischerweise zwei Jahre Entwicklungszeit anberaumt waren. Die Firmenleitung kürzte den Zeitraum auf die Hälfte. Diese Träumereien waren im Sommer also geplatzt, als erste Verzögerungen bei der Implementierung auftraten.

Trotz des Drucks, unter dem die Leute am Projekt arbeiten, sehen sie bisher nicht, wie sie den Druck umdrehen und für sich nutzen könnten. Wie sehr das Unternehmen auf die reibungslose und engagierte Mitarbeit der Noch-Mitarbeiter angewiesen ist, wird noch nicht diskutiert. Viele sagen, dass sie die Kündigungen Scheiße finden, aber sie haben keine Idee, was sie dagegen tun könnten. Auch konkrete Vorschläge dazu stoßen auf eine verbreitete Scheu vor einer Konfrontation mit der Firmenleitung. Nicht wenige haben wohl Angst, dass sie die nächsten sein könnten....

Die Gekündigten selbst wollten zwar alle gegen die Entlassung klagen, haben sich aber inzwischen zumindest teilweise mit bezahlter Freistellung und Abfindung zufriedengegeben. Zu geplanten weiteren Entlassungen am Ende des Jahres wird bisher konsequent geschwiegen. Der Betriebsrat verweist in diesem Zusammenhang auf seine Schweigepflicht und die Firmenleitung lügt auf diesbezügliche Nachfragen einfach das Blaue vom Himmel.

Ein Versuch, mit einer anonym verschickten email-message längst überfällige Diskussionen und Aktionen anzustoßen, lief völlig ins Leere. Weder in den Gängen der Firma noch in sich früher oft über -zig Antworten hinziehenden email-Threads wurde in irgend einer Weise laut oder auch verhalten diskutiert. Von Entschlossenheit oder überhaupt dem Willen, sich zu wehren, ist bisher nicht viel zu merken. Inzwischen gehen erst mal die 'passiven Entlassungen' weiter. So wurde etwa einigen Kollegen in Ungarn 'nahegelegt', die Firma zu verlassen, ganze Bereiche sollen demnächst ausgegliedert werden (das läuft ähnlich wie bei anderen Firmen). Ob sich an der Schicksalsergebenheit der Kollegen was ändert, wenn sie merken, dass 'Hartz' auch für sie nicht nur ein leeres Wort sein könnte sondern eine reale Drohung, bleibt abzuwarten. Bislang deutet nichts darauf hin.

Hagar

 

  [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]