20.02.2003 Das Neueste aus Argentinien

Das Neueste aus Argentinien

Die Bourgeoisie ist schneller als das Proletariat

La Lettre de Mouvement Communiste, Numéro 6, Jan. 2003

[Druckversion]  [Franz. Originalfassung]

Wo steht Argentinien ein Jahr nach den Unruhen vom 19. und 20. Dezember 2001? Wie sind die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen? Hat der Staat die Herausforderung gemeistert oder ist er noch genauso gefährdet wie vor einem Jahr? Was hat es mit den Arbeiterkämpfen bei Brukman und Zanon auf sich, einer Art Lip in Argentinien? Wie kann das Proletariat vermeiden, als besondere Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zu verschwinden, wo ganze Bereiche des traditionellen sozialen Gewebes in Fetzen zerreißen und das Leben immer ungesicherter wird, bis hin zur Unterernährung? Wie organisieren sich die »piqueteros«, die Arbeitslosen, die prekären ArbeiterInnen der Grauzone und die DemonstrantInnen, die die Straßen blockieren, um zu überleben und zu kämpfen?
In einem Wort: Kann sich die unabhängige Arbeiterbewegung dem Klassenfeind widersetzen und ihre eigenen Grenzen hinter sich lassen? Der folgende Artikel versucht, zu diesen Fragen Elemente einer Antwort beizutragen.

Die Bourgeoisie ist schneller als das Proletariat

Auch wenn einige Probleme ungelöst bleiben, hat Duhalde doch schon einige Erfolge zu verzeichnen.

  • Es ist ihm gelungen, an der Macht zu bleiben - trotz der Spaltungen in seinem Lager und trotz des Misstrauens der Bevölkerung;
     
  • Er behielt die Unterstützung der CGT, der bei weitem wichtigsten Gewerkschaft des Landes;
     
  • Er blieb in den Augen der internationalen kapitalistischen Gruppierungen der legitime Repräsentant Argentiniens;
     
  • Er erhielt die Unterstützung der sehr mächtigen peronistischen Provinzgouverneure 1;
     
  • Es ist ihm gelungen, die schärfsten Probleme hinauszuschieben, wie das Abspecken der Beamtenzahlen in den Provinzen sowie die Wiederherstellung der ökonomischen und finanziellen Autorität des Bundesstaates.

Aber vor allem war er nicht schlecht beim Hinausschieben der Fälligkeitstermine für den Schuldendienst gegenüber dem IWF oder der Weltbank. Seine - reichlich in Szene gesetzte - Weigerung, den Befehlen dieser beiden Kreditinstitutionen nachzukommen, war jedesmal auf der ersten Seite der argentinischen Zeitungen. So hat auch seine Entscheidung, nichts gegen die Abwertung des Peso zu unternehmen (von Januar 2002 bis heute sank der Kurs auf 3,5 Peso für 1 Dollar) und den Umlauf des amerikanischen Dollars einzudämmen, das Überleben der Ökonomie ermöglicht. Wie das nationale Institut für Statistik (INDEC2 zuletzt meldete, nahm die industrielle Produktion Argentiniens im November bezogen auf denselben Monat des Vorjahres um 2% zu, was den ersten Anstieg nach 27 Monaten ununterbrochener Abnahme bedeutet. Die Einlagen der Banken wuchsen von 16 Milliarden Dollar im Juni auf 16,7 Milliarden im Oktober. Die Inflation stieg 2002 nicht höher als 41%.

Dafür kam das Bankensystem immer noch nicht aus dem Tunnel: Es wurde durch das teuflische Pärchen Abwertung/Inflation und besonders durch die Zunahme von Zahlungsunfähigkeiten 3 schwer belastet, wie der letzte Bericht der Finanzbewertungsagentur Moody's feststellt. Die Pseudowährungen (Lecop, Patacon usw.), die in den Provinzen kursierten, existieren immer noch und werden so schnell auch nicht verschwinden.

 

Das Verdienst Duhaldes besteht darin, gleichzeitig die gesellschaftliche Explosion und die ökonomische Implosion verhindert zu haben, ohne dadurch (bis jetzt?) den gesellschaftlichen und politischen Block zu erschüttern, aus dem er selber stammt.

 

Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft

Die Bilanz für die ProletarierInnen sieht ganz anders aus: zunehmende Verarmung (beginnende Unterernährung im Nordosten des Landes; um die 3000 Kinder sind jetzt im ganzen Land schon unterernährt), Lohnsenkungen für die, die arbeiten, gestiegene Prekarisierung (ca. 40% der Bevölkerung sind arbeitslos oder leben von Schwarzarbeit), Preissteigerungen bei den gebräuchlichsten Waren usw.. Die amtlichen Zahlen für Arbeitslosigkeit (im Mai 21,5% der arbeitsfähigen Bevölkerung) und für Armut sind auf Rekordniveau. 49,7% der BewohnerInnen der Provinz Buenos Aires, wo ein Drittel der 36 Millionen ArgentinierInnen lebt, sind unter die Armutsgrenze gerutscht. Ungefähr 22,7% von ihnen (d.h. 2,7 Millionen) haben nach den amtlichen Zahlen ein monatliches Einkommen unterhalb von 300 Pesos (84 Dollar).

Landesweit bezifferte das INDEC im Mai 18 Millionen Menschen als »arm«. Eine typische Familie von einem Ehepaar mit zwei Kindern wird als arm betrachtet, wenn ihr monatliches Einkommen unter 598 Pesos (166 Dollar) liegt. Die Bedürftigsten, die in großem Elend leben, sind Familien, die nicht über Einnahmen von mehr als 252 Pesos (70 Dollar) verfügen. Laut einer Studie des Systems für Information, Kontrolle und Bewertung sozialer Programme (Siempro) leben 53,8% der Bevölkerung in Armut, davon sind 8,6 Millionen unter 18 Jahre alt (30% der Argentinier). Derselben Quelle zufolge leiden 8,4 Millionen ArgentinierInnen ohne Einkommen derzeit Hunger.

Die Zeitschrift 3 puntos präzisierte, dass die höchsten Armutsraten in den nördlichen und nordöstlichsten Provinzen festgestellt werden, die höchsten mit 71% in Corrientes (Nordost), gefolgt von Formosa (70,5%) und Chaco (70%). In Chaco verfügen 36,1% nicht über das lebensnotwendige Minimum. In Formosa sind es 31, 2% der Bevölkerung und in Misiones, der Provinz im Nordosten, die an Brasilien und Paraguay angrenzt, sind es 30,5%. Die Hälfte der von den amtlichen Instituten erfassten Armen wohnt in der Provinz Buenos Aires, wo auch die Unsicherheit gleichermaßen hoch ist.

Seit Beginn der Krise nahm die Armut um 74,8%, die Zahl der Bedürftigen um 303% und die Arbeitslosigkeit um 74,2% zu, erläuterte 3 puntos. Wenn sich die Tendenz nicht umkehrt, wird nach offiziellen Berechnungen die Zahl der Armen im nächsten Jahr 23 Millionen erreichen, d.h. 63% der Bevölkerung des Landes und davon 10, 5 Millionen unter 18 Jahren. Die Einkommenslosen stellen dann um 30% der gesamten Einwohnerschaft dar, d.h. 10,8 Millionen. Die Wiederingangsetzung der Kapitalakkumulation hat diesen Preis.

Auch wenn Buenos Aires nicht an Kalkutta erinnert, hat seit Anfang 2002 die Anzahl der Personen, die auf den Status eines Bettlers gebracht wurden, einen spektakulären Sprung gemacht. Die Zunahme der Kleinkriminalität und des organisierten Verbrechens verlief parallel dazu. Ohne eine »permanente Unsicherheit« zu beschwören - dieser Begriff, der in den Medien sehr in Mode ist, verdeckt die Tatsache, dass die Polizei direkt am organisierten Verbrechen beteiligt ist — so sind doch Taschendiebstahl in den Straßen und Transportmitteln ebenso wie in Autos, die an Verkehrsampeln anhalten, für einen sehr breiten Teil der Bevölkerung aus allen Klassen eine erschreckend konkrete und ständig präsente Wirklichkeit geworden.

Meistens sind vor allem arme Leute von der Kriminalität betroffen. In der Innenstadt wird man selten angegriffen. Andererseits sollte man sich als Fremder in den Slums und Armenvierteln der Vorstädte besser von jemandem, der dort bekannt ist, begleiten lassen. Auch deswegen, weil die Bewohner dieser Bereiche auch Vorsichtsreaktionen gegenüber der Polizei entwickelt haben. Die Kriminalität hat sich in einem Jahr verdoppelt. 2002 wurden im Ballungsraum Buenos Aires 35 Polizisten ermordet, ein guter Teil davon im Rahmen von Abrechnungen innerhalb der Polizei selbst.

Ein Lieblingsthema der Medien sind seit Juni/Juli 2002 die »Schnellen Entführungen« (d.h. Kidnapping von Erwachsenen und vor allem Kindern). Wer wird gekidnappt? Alle Klassen sind Opfer, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Das geht vom Chef eines Kleinunternehmens, von Mitgliedern der Mittelklasse bis zu den Ärmsten. Wie in Brasilien hat die Unterwelt ihre Lösegelder den Einkommen der Familien der Entführten angepasst.

Wo finden die Entführungen statt? Die meisten von ihnen in Buenos Aires und seiner Peripherie. Wer sind die Kidnapper? Nach den Medien gibt es zwei Arten von Entführungen. Die meisten werden im Polizeimilieu von Groß-Buenos Aires organisiert. Ein Hauptziel ist offensichtlich Geld. Aber die Verbrechen sind auch Mittel zur Aufrechterhaltung eines Klimas der Unsicherheit, das für die Repressionskräfte immer vorteilhaft ist. Die anderen Kidnappings sind die Tat von Hemmungslosen ohne jede Bindung. Es ist vorgekommen, dass ein Onkel seine Neffen entführen ließ. Am häufigsten endet die Entführung mit der Freilassung des Entführten im Tausch gegen Geld. Aber es gab auch mehrmals einen tragischen Ausgang mit der Hinrichtung der entführten Person.

Der große Rummel um dieses bedauerliche Phänomen kommt in der Forderung nach mehr Sicherheit und Schutz zum Ausdruck, und in der Wiederbelebung der Debatte um die Todesstrafe. Buenos Aires war Schauplatz mehrerer »cacerolazos« (Topfdeckeldemos) von Händlern, die mehr Polizei forderten. Eine andere Folge war, dass der Waffenhandel in der Hauptstadt noch nie so gut lief. Die Vermögendsten umgeben sich mit Leibgarden und Privatmilizen.

Dieses Wiederaufleben krimineller Gewalt ist nur eines der auffälligsten Symptome des allgemeinen Elends und des fortschreitenden Verfalls gesellschaftlicher Beziehungen. Glücklicherweise halten die ProletarierInnen inmitten dieser Spirale des Zerfalls stand und organisieren sich, wie z.b. in der CTD »Anibal Verón« 4 (siehe weiter unten).

Wie in Russland nach 1991 gibt es eine beträchtliche Zunahme des ambulanten Handels. Es wird alles und überall verkauft: Kekse, hot-dogs (»pancho«), Rasierklingen, Heiligenbildchen, jede Art neuer, gebrauchter oder gestohlener Dinge. Seit Dezember 2002 werden die Supermärkte von Groß-Buenos Aires von Privatmilizen bewacht, um Plünderungen zu verhindern. Die Regale sind generell gut sortiert. Man findet hier alles, wie in Europa. Die Preise hingegen sind heute für wachsende Bevölkerungsschichten unerschwinglich. Ende August war ein Liter einheimisches Bier billiger geworden als ein Liter Milch.

Fahrten mit Gemeinschaftstransportmitteln sind relativ günstig, aber seit längerer Zeit können es sich die Armen nicht mehr leisten. Schon vor 2001 stagnierte der Verkehr. Im Großraum Buenos Aires fährt man im wesentlichen Zug, aus und nach dem Stadtzentrum. Drei Privatgesellschaften teilen sich den Verkehr: TBA im Norden und Westen (»l'Electrico«), deren Züge meistens neu sind. Der Verkehr wird oft durch Streiks gegen Entlassungen und für Auszahlung bestimmter Zulagen gestört; »Metropolitano« im Süden und »Ferrovias«, das auf den alten Schmalspurgleisen fährt. Der durchschnittliche Preis eines Tickets liegt in Abhängigkeit von der Entfernung vom Stadtzentrum in der Größenordnung von 1,4 Peso. Ticketkontrollen finden ständig statt und sind effizient. Ist man aber einmal außerhalb des Zentrums, besteht die Möglichkeit, nicht zu bezahlen. In den letzten Jahren ließ die Eisenbahngesellschaft Entwerter installieren, später kamen von der Bahnpolizei unterstützte Kontrolleure. Das Metro-Ticket (mit Umsteigen), das »subte«, kostet 70 Centimos. Der Preis des Bustickets (ohne Umsteigen) in der Stadt Buenos Aires kostet 80 Centimos. Dieser Service wird von Privatgesellschaften unterhalten.

Isolierte Kämpfe

Seit den Unruhen von Ende 2001 und den Erschütterungen vom Januar 2002 nahm der Klassenkampf in Argentinien einen »normalen« Verlauf oder genauer, einen Verlauf, der mit dem vor dem 19. und 20. Dezember 2001 identisch ist. Die drei noch offenen Kampffronten sind der Kampf von ArbeiterInnen gegen Entlassungen und Werksschließungen, der von Lehrerinnen und öffentlichen Bediensteten für die Auszahlung von ausstehenden Gehältern und der von Arbeitslosen dafür, Mittel zum Überleben zu bekommen (Nahrung, Kleidung, Medikamente usw.). Die Generalstreiks haben stark abgenommen oder beschränkten sich auf den öffentlichen Dienst, der Hauptgrund dafür ist die Unterstützung der beiden CGT's für Duhalde.

Unglücklicherweise entwickelt sich keine Lohnforderungsdynamik in den industriellen Unternehmen oder im tertiären privaten Bereich. Die Streiks bei »Repsol« (Erdöl) im Februar - die schnell von den Gewerkschaften beerdigt wurden - und bei den Hochseefischern im Mai stellen seltene Ausnahmen dar. Im Gegensatz dazu gehen die Straßenblockaden weiter. Sie sind zusammen mit den Demonstrationen der bevorzugte Versammlungsort der zornigen Ausgebeuteten. Aber allgemein machen seit Dezember 2001 relativ weniger Leute bei Demonstrationen und Straßenblockaden mit.

 

Zwangsläufig unvollständige Chronologie der Klassenkonfrontation seit April 2002:
17. April:Die Polizei schießt mit Gummigeschossen auf 400 Provinzangestellte, die in La Plata demonstrierten. Dasselbe Szenario spielt sich in Córdoba bei Streiks von Stadtverwaltungs- und Krankenhausangestellten ab.
18. April:Zusammenstöße zwischen Polizei und 4000 Staatsangestellten in Jujuy und Rawson.
19. April:Die Provinzangestellten von San Juan streiken wegen unbezahlter Löhne seit mehreren Wochen — begleitet von zahlreichen Straßenkämpfen.
27. April:Streik und Demonstrationen der Beamten und Staatsangestellten in San Juan und Tucumán.
29. April:Streik der LehrerInnen und Beamten in San Lorenzo.
1. Mai:Demonstrationen im ganzen Land. Nur 25 000 Teilnehmer in Buenos Aires.
22. Mai:Nationaler Streiktag der Hochseefischer, zu dem der SOIP (Sindicato Obrero de la Industria Pescadora) aufrief. Sie erhalten eine Lohnerhöhung von 30%.
23. Mai:Demonstration von 20 000 LehrerInnen in La Plata.
24. Mai:Die 80 000 Mitglieder der CAA (Confederación Argentina de Agricultura der kleinen und mittleren Landwirte) legen die Arbeit auf den Feldern nieder gegen die Wiedereinführung von Ausfuhrsteuern im März und gegen die Verpflichtung, ihre Lieferanten in Dollar zu bezahlen. Sie werden von den Gewerkschaften der Unternehmer und Arbeiter des Straßentransports unterstützt, die gegen die hohen Treibstoffpreise protestieren (seit Februar 2002 um 100% gestiegen). Während die auf 30 Millionen Tonnen geschätzte Sojaernte zu Ende geht, ist deren Export bedroht (Argentinien ist der drittgrößte Exporteur weltweit).
29. Mai:Der Streik im öffentlichen Dienst wird breit befolgt. Etwa tausend Straßensperren werden im ganzen Land errichtet. Buenos Aires ist vollständig isoliert. Die Zusammenstöße mit der Polizei vervielfachen sich. Die CTA organisiert einen Aufmarsch in Buenos Aires. In der Provinz schließen sich zum ersten Mal 4000 Landwirte den Demonstrationszügen an.
20. Juni:Auf einen Aufruf der CTA finden von Salta bis Mar de la Plata mehrere Demonstrationen statt. In Salta widersetzt man sich den Repressionskräften. Die Teilnahme an den Aufmärschen ist jedoch bescheiden: ungefähr 6500 Demonstranten versammeln sich in der Hauptstadt.
26. Juni:Eine Demonstration von Piqueteros, die von d'Avellanada kommt und über die Brücke Puerreydon (über dem Rio Chuelo) ins Zentrum von Buenos Aires ziehen will, wird von der Polizei gestoppt, die ohne Vorwarnung das Feuer mit scharfer Munition eröffnet. Bilanz: 2 Tote, 90 Verletzte und 50 Festnahmen. Die Provokation durch die Polizei steht außer Zweifel. Die gesammelten Videobänder zeigten, daß ehemalige Polizisten, die direkt aus den Zeiten der Diktatur stammten, die Demonstration infiltriert hatten und die amtierenden Polizisten provozierten. Das Ziel war, das Ganze als eine Abrechnung unter Piqueteros erscheinen zu lassen. Die Regierung versucht, sich der Drohung mit Aufständen zu bedienen, um Druck auf den IWF auszuüben, solange Lavagna wieder zu Verhandlungen mit der internationalen Finanzinstitution in Washington ist. »Es gibt nur uns oder das Chaos, helft uns und geduldet euch«, ist die Botschaft der amtierenden argentinischen Exekutive.
27. Juni:Die für diesen Tag ausgerufenen Demonstrationen und Streiks enden mit einem relativen Misserfolg.
10. Juli:Mehrere tausend Arbeitslose, Menschenrechtsaktivisten, Gewerkschafter und linke Aktivisten demonstrieren am Abend gleichzeitig in Buenos Aires und in anderen Städten Argentiniens gegen die Regierung, den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Vereinigten Staaten. »Für die zweite und endgültige Unabhängigkeit« stand an erster Stelle der Parolen des Tages. An dem friedlichen Aufzug auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires beteiligten sich 25 000 Leute.
16. Juli:Beginn des Streiks bei »Turismo Lamín«: 70 Fahrer besetzen das Unternehmen, um gegen seine Schließung zu protestieren.
1. August:Das Stadtparlament von Buenos Aires verabschiedet ein Gesetz, das die tägliche Arbeitszeit von Metrofahrern auf 6 Stunden begrenzt. Roggio, der Konzessionsinhaber der Metro (Metrovias) lehnt das ab. Das führt zu ständiger Unruhe in der Belegschaft, die sich im Sommer und Herbst zu sporadischen Streiks zuspitzt.
1. August:Der Arbeitsminister erklärt die Gewerkschaftswahlen vom 15. März beim SOAP (Hochseefischer) in Mar del Plata teilweise für ungültig, die mit einem Sieg der Basisliste geendet hatten.
6. August:Demonstration gegen die Ankunft von Paul O'Neill, dem amerikanischen Finanzminister.
9. August:Ungefähr hundert Arbeitslose treffen sich in der Verteilerzentrale der Repsol in Buenos Aires, um die Ölleitung aus Chubut (Patagonien) zu unterbrechen und Einstellungen zu fordern. Zwei Tage vorher hatten andere Arbeitslose in Santa Cruz 80 Einstellungen erreicht.
12. August:Hunderte LehrerInnen, Volksvertreter, Ärzte und Arbeitslose nehmen an einem Protestmarsch in der Peripherie der Hauptstadt teil und beginnen einen viertägigen Marsch, um das Rekordniveau der Armut in Buenos Aires anzuprangern. Die Teilnehmer am Marsch der argentinischen Erwerbstätigen (CTA) werden in 15 Tagen hundert Kilometer hinter sich bringen vom Delta des Paraná bis La Plata (Hauptstadt der Provinz Buenos Aires) - mit vielen Propagandaaktionen in den Schulen, Krankenhäusern und Fabriken.
14. August:Protestzug von 1000 Personen gegen die von Bürgermeister Alak beschlossene Omnibustariferhöhung.
14. August:Nach der Suspendierung der Scotia-Bank durch die argentinische Zentralbank beschließen die 1700 Beschäftigten die Besetzung.
22. August:Als Protest gegen die Schließung der Großbäckerei »Savio SA« in Grissinópoli wandeln die 60 Arbeiter das Unternehmen in eine Kooperative um.
24. August:Nationales Treffen von besetzten Fabriken bei »Savio SA« mit 850 TeilnehmerInnen.
26. August:Etwa 2000 Piqueteros sperren erneut die Brücken von Buenos Aires.
22. Oktober:Nach der Annullierung des Gesetzes, das die Arbeitszeit der Metrofahrer in Buenos Aires auf sechs Stunden begrenzte, rufen die Beschäftigten der Metro für den 29. Oktober zum unbefristeten Streik auf. Die gegen die Arbeiter gerichtete Maßnahme war einmütig von der PJ (Peronisten) und der Alianza (die Partei von Cavallo) beschlossen worden. Die nationale Gewerkschaft, die UTA, hatte sich gebeugt. Die Streikenden, die zu einer Demonstration aufgebrochen waren, wurden sofort von der Polizei angegriffen. Spontane Aufruhrstimmung.
8. November:Die Polizei vertreibt die hundert Piqueteros, die den Sitz der Provinzregierung von Rio Gallegos (Patagonien) besetzt hatten. 25 von ihnen werden gerichtlich belangt und zu einer Strafe von 1000 Pesos verurteilt.
8. November:landesweite Demos der Piqueteros: 30 000 in Buenos Aires, 2500 in Corrientes, 2000 in Córdoba, 1000 in Rosario und Tucumán.
19. November:Duhalde annulliert endgültig das Sechs-Stunden-Gesetz für die Metrofahrer.
20. November:Ende der dreitägigen Aktionen der Piquetero-Gruppen auf nationaler Ebene: Demonstrationen und symbolische Besetzungen.
24. November:Polizeiangriff um sechs Uhr morgens bei Brukman, als Konsequenz aus einer Gerichtsentscheidung, die die Besetzung der Fabrik für illegal erklärt hat. Maschinen und Vorräte werden zerstört.
26. November:Unter strenger Überwachung durch die Polizei werden 10 000 Piqueteros, die an einem Gedenkmarsch für Dario Santillan und Maximiliano Kosteki teilnehmen, am Zugang nach Buenos Aires gehindert.
28. November:Die Gesellschaft »Linea 228« der Provinz Paraná meldet Konkurs an. Die 200 Fahrer besetzen die Depots.
5. Dezember:Eintägiger Streik für die Lohnzulagen bei Acindar und Metcon in Villa Constitución. Streik und Protestzug von 700 Volkswagenarbeitern in General Pacheco für Prämien von 150 Pesos und die Wiedereinstellung von 428 gerade entlassenen Arbeitern. Die Geschäftsführung gibt bei der Prämie nach, bleibt aber bei den Entlassungen hart.

 

Brukman und Zanon machen keine Schule

Es ist etwas Neues entstanden, auch wenn es sich nicht stark verbreitet: Die Weiterführung der Produktion durch die ArbeiterInnen selber, nachdem ein Betrieb geschlossen oder von den Bossen verlassen wurde. Diese Bewegung umfasst ungefähr 10 000 Arbeitsplätze in ca. 60 Unternehmen, darunter Waserman, Impa, Panificacion 5, baskonia, Penas Duras in Olavarria, sowie Brukman und Zanón.

Besonders die beiden letztgenannten sind charakteristisch. Die in der Provinz Neuqúen ansässige Keramikfabrik Zanón wird von den ArbeiterInnen seit dem 2. Oktober 2001 besetzt gehalten, das Textilunternehmen Brukman in Buenos Aires seit dem 18. Dezember des gleichen Jahres. Die Ausgangssituationen sind in beiden Fällen die gleichen: Beide Firmen standen kurz vor der Pleite, die Eigentümer hatten sie aufgegeben, ohne Aussicht darauf, daß ein neuer Eigentümer die Geschäfte wieder in Gang bringen würde. 5

Brukman - eine Fabrik im Zentrum von Buenos Aires, in der Herrenbekleidung hergestellt wurde (Adresse: Jujuy 554) - beschäftigte 115 Leute, in der Mehrzahl Frauen. Bevor die Situation umkippte, hatten die ArbeiterInnen über Wochen nur einen Bruchteil ihres Lohnes erhalten. Manchmal 50 Pesos (was zu dieser Zeit noch 50 US-Dollar waren - mittlerweile ist der Peso nur noch ein Drittel dessen wert), manchmal auch nur 5 Peso pro Woche. In dieser Lage wurde auf einer ArbeiterInnenversammlung die Besetzung der Fabrik beschlossen, um die Arbeitsplätze zu retten. Die Besitzer tauchten kurz auf, um mitzuteilen, daß sie zahlungsunfähig seien, und übergaben die Schlüssel der Fabrik an die BesetzerInnen. Danach verschwanden sie, und mit ihnen alle leitenden Angestellten. Während der folgenden zehn Tage versuchten die ArbeiterInnen unter Einschaltung von Presse und Arbeitsministerium vergeblich, ihre AusbeuterInnen ausfindig zu machen.

Deshalb entschieden sie sich, den ersten Streikposten aufzustellen, um sich Produktion und Vermarktung der Produkte zu sichern. Im Fall Brukman fällt das mit dem »Argentinazo« zusammen. 6 So werden die BesetzerInnen von Anfang an durch die BewohnerInnen und die Stadtteilversammlungen unterstützt. Die Leute bringen Nahrungsmittel mit, und vor der Fabrik wird unter Markisen eine Volksküche organisiert. Die ArbeiterInnen organisieren Führungen durch die Fabrik, vor den Toren versammeln sich die SympathisantInnen.

Die Belieferung der Stammkundschaft wird wieder aufgenommen und ein Direktverkauf eingeführt, zu niedrigeren Preisen als vor der Besetzung. Die Arbeitsorganisation wird von Vollversammlungen bestimmt, die drei- bis viermal pro Woche stattfinden. Sechs gewählte Delegierte bilden eine Kommission, die die ArbeiterInnen nach außen vertreten soll. Die Besetzung selber wird von 54 ArbeiterInnen getragen. Sie zahlen sich einen Wochenlohn von 150 Pesos aus. Die ArbeiterInnen in der Fabrik beklagen, daß die meisten ihrer KollegInnen überhaupt nicht mehr erscheinen - 400 Leute könnten hier Arbeit finden. Ihr Versuch, die alten KollegInnen zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen, ist fehlgeschlagen.

Um das Produktangebot zu erweitern, orientieren die ArbeiterInnen die Produktion auf gängige Dinge, meistens mit »gesellschaftlichem Nutzen« wie z.B. Bettwäsche für die Krankenhäuser oder Hemden für Schuluniformen. Aufgrund der Verschuldung können die ArbeiterInnen das Eigentum an der Fabrik im juristischen Sinn nicht beanspruchen. Deshalb wenden sie sich an den Staat - damit dieser die Fabrik unter ihrer Kontrolle zurückkauft. Falls diese Verhandlungen scheitern sollten, planen sie, die Besetzung fortzuführen.

Am Samstag, dem 16. März 2002, räumt die Polizei unter Einsatz von Gewalt die wenigen anwesenden ArbeiterInnen aus der Fabrik und beginnt danach mit der Überprüfung des Inventars. Daraufhin besetzen ungefähr 200 SympathisantInnen das Verwaltungsgebäude. Nach einem »cacerolazo« und Straßenblockaden von mehreren Stunden erreichen sie, daß die Polizei wieder abzieht. Während der nächsten Tage treffen sich die Leute weiter vor dem Betrieb, um den Eingang zu sichern.

Obwohl die Mehrzahl von ihnen über keinerlei Erfahrung bezüglich solcher Kämpfe verfügt, konnten die ArbeiterInnen die Besetzung ohne die geringste Intervention durch Gewerkschaften oder politische Parteien durchführen.

Nur einer der sechs gewählten VertreterInnen war vorher Gewerkschaftsdelegierter. Die Arbeiterinnen forderten ihn auf, seine Funktion aufzugeben: Seine Gewerkschaft hat ihren Kampf nicht unterstützt.

Im Februar verkünden die Gewerkschaften während einer Versammlung der Arbeiterinnen vor dem Ministerium, von nun an die Leitung der Aktionen zu übernehmen. Damit haben sie sich aber zu weit vorgewagt - der Versuch scheitert. Die Brukman-ArbeiterInnen wollen jetzt überhaupt nichts mehr von den Gewerkschaften wissen. Stattdessen nehmen sie Kontakt mit den BesetzerInnen von Zanon in Neuquén auf. Sie kommen zu dem Schluß, daß es nicht mehr ausreicht, die Fabrik am Laufen zu halten und die Arbeitsplätze zu sichern. Von nun an geht es ihnen um die Vereinigung aller an der Bewegung beteiligten Lohnabhängigen.

Anfang April fordert das Arbeitsministerium — mit heldenhafter Unterstützung durch die Bekleidungsgewerkschaft SOIVA (Sindicato Obrero de la Industria del Vestido y Afines7 - dazu auf, die Besetzung abzubrechen. Dies sei Grundbedingung für die Aufnahme von Verhandlungen. Ein wirksamer Erpressungsversuch: Falls die ArbeiterInnen in das Ende von Produktion und Besetzung einwilligen, verlieren sie ihre einzige Möglichkeit, weiterhin Druck auszuüben. Weisen sie die Forderung hingegen zurück, laufen sie Gefahr, durch einen zwangsweisen Stopp der Materialzulieferungen abgewürgt zu werden. Bis heute hat sich an dieser Situation nichts geändert. Die Justiz hat die Besetzung für illegal erklärt. Die Polizei hat den Betrieb am 24. November angegriffen, einige Maschinen und einen Teil der schon gefertigten Waren zerstört. Danach haben die ArbeiterInnen die Fabrik wieder besetzt.

Zanon wurde schon vor Brukman besetzt. Hieran beteiligten sich die 330 ArbeiterInnen des Werks in Neuquén. 8 Nachdem Anfang Oktober 2001 die Schließung des Betriebes verkündet wurde, 9 entschieden sie sich für Besetzung und Weiterführung der Produktion. Diese Aktion erstreckte sich über 60 Tage. Parallel dazu nehmen sie an Piqueter@-Aktionen, Streiks in ihrer Region sowie landesweiten Bewegungen und Versammlungen teil. Mehrere von ihnen werden bei Auseinandersetzungen mit der Polizei verletzt, gut 20 müssen nach dem 30 November, weitere 60 im Dezember einige Zeit im Knast verbringen. Wie bei Brukman fordern auch die Zanon-ArbeiterInnen - und hier besonders die GewerkschaftsvertreterInnen der SOECN (Sindicato de Obreros y Empleados Ceramicas de Neuquén) - die Verstaatlichung des Unternehmens unter Arbeiterkontrolle sowie ohne Arbeitsplatz- und Lohnverluste.

Es gibt eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Fall Brukman: Auch hier arbeiten die Unternehmer, die Lokalregierung (unter Gouverneur Sobisch) und die nationale Gewerkschaft (FOECRA: Federacion de Obreros y Empleados Ceramistas de la Republica Argentina) Hand in Hand 10 gegen die ArbeiterInnen, allerdings auch gegen die SOECN, die örtliche Branchen-Gewerkschaft. Die Forderung nach gewerkschaftlicher Demokratie gegen die bösen Bürokraten wird in dieser Situation stärker. Bei den letzten Betriebsratswahlen gewann die von Godoy geführte Liste die Stimmenmehrheit (212 zu 115 Stimmen), die in Opposition zur Bürokratie steht. Am 2. Dezember öffneten die ArbeiterInnen die Fabriktore für andere ProletarierInnen, um eine lokale Vollversammlung abzuhalten.

 

Es wäre falsch, die Fabrikbesetzungen von einem Standpunkt »revolutionärer Reinheit« aus zu kritisieren. Diese Bewegung steht in einem ausgesprochen schwierigen gesellschaftlichen Zusammenhang. Die Probleme des alltäglichen Überlebens müssen gelöst werden, außerdem fehlt eine wirkliche Dynamik zur Ausweitung und politischen Vereinheitlichung der aktuellen Kämpfe. So bleibt den an diesen Initiativen beteiligten ArbeiterInnen vielleicht keine andere Wahl, als zu ihren eigenen Unternehmern zu werden. Trotzdem würden wir der praktischen Bewegung zum Kommunismus sicherlich einen schlechten Dienst erweisen, wenn wir die zahllosen politischen Beschränkungen dieser wenigen Erfahrungen, auch der in Argentinien, nicht kritisieren.

 

Die Besetzungen, die nicht zufällig an die von Lip in Frankreich vor gut 30 Jahren erinnern, finden mit dem völlig verkehrten Ziel »Verstaatlichung« statt. Die ständigen Appelle an den schlimmsten Feind der ArbeiterInnen - den Staat - sind ein schlechtes Omen für die Zukunft dieser Bewegung. Für längere Zeit sein eigener Ausbeuter zu werden, ist wirklich nicht erstrebenswert. Die argentinischen ArbeiterInnen haben für diese Erfahrung schon teuer bezahlen müssen. Die durch den Peronismus eingeführte Mitbestimmung endete mit einer der schlimmsten Niederlagen der ArbeiterInnen in der Nachkriegszeit. 11

Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, daß diese Erfahrungen isoliert bleiben und sich darauf beschränken, einfach die »soziale Unverantwortlichkeit« der Bosse anzuprangern. Nach Angaben der Zeitschrift Enfoques alternativos 12 waren im September 2002 insgesamt 73 Betriebe mit 4603 ArbeiterInnen besetzt. Die wichtigsten unter ihnen sind die Zuckerfabrik Ingenio La Esperanza (600 Beschäftigte), die Gefrierfleischfabrik CT Yaguané in La Matanza (480) sowie die Traktorenfabrik CT Las Varillas in Cordoba (280). Es handelt sich also um wenige Unternehmen, an deren Besetzung eine verschwindend kleine Minderheit der argentinischen Arbeiterklasse beteiligt ist. 13 Dadurch wird die Ineffektivität dieser Kampfform für das Proletariat in seiner Gesamtheit deutlich.

Trotzdem sind in solchen Kämpfen und Arbeiterorganisierungen immer die Profis dabei, die in den Staat integrieren und die inneren Grenzen dieser Aktionen verschärfen wollen. Deutlich wurde das in den Forderungen, die am 24. August letzten Jahres auf der landesweiten Versammlung der BetriebsbesetzerInnen im Werk Savio SA in Grissinópoli 14 aufgestellt wurden. Für die TeilnehmerInnen des Treffens sind »die Betriebe lebensfähig ... und (wurden) alleine durch die Gier und die Unfähigkeit der Bosse in die Pleite getrieben«. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus selber wird kaum in Frage gestellt, nur die Bosse werden angeklagt. Vom Staat wird verlangt, »die selbstverwalteten Betriebe als Lieferanten zu bevorzugen«.Vom selben Staat, der mit allen Mitteln jegliche unabhängige Aktion der ArbeiterInnen zu unterdrücken oder aufzusaugen versucht!

 

Wir müssen jeden Versuch der politischen Vereinnahmung dieser Überlebenskämpfe kritisieren. Die widerstreitenden Ideologien der Klassenkollaboration finden ihren Nährboden in hehren Begriffen wie Verstaatlichung, Selbstverwaltung und Arbeiterkontrolle, während sowohl der Staat als auch die sozialen Beziehungen kapitalistisch bleiben. Wirkliche Verbesserungen sind für die Ausgebeuteten unter solchen Umständen nicht möglich, und es gibt keine endgültigen Erfolge, selbst wenn sie in harten Kämpfen erreicht wurden. Die ArbeiterInnen, die in dieser verzweifelten Lage ernsthaft gegen das Kapital kämpfen, laufen Gefahr, daß dieser Kampf sich unter den unerbittlichen Bedingungen der Kapitalakkumulation in einen Bumerang gegen sie selbst verwandelt.

 

Wenn ArbeiterInnen ihre eigenen Unternehmer und Chefs werden und mit den gleichen Werkzeugen die gleichen Waren herstellen (wenn auch unter angenehmeren Bedingungen), ändert das nichts an den Grundbedingungen der Ausbeutung. Falls dieses Modell sich durchsetzt, wird sich die Arbeitsteilung früher oder später 15 erneut in den Formen des Klassenantagonismus, der gegensätzlichen Interessen ausdrücken. Mit den Unterschieden in der Lohnhöhe wird sich eine neue Führungsschicht herausbilden, welche die alten Unternehmer ersetzt. Das kapitalistische Unternehmen hat dann zwar die Eigentümer aber nicht seine Grundlagen ausgewechselt.

Alles in allem: Im Rahmen der verallgemeinerten Warenproduktion gibt es nicht einschätzbare Hindernisse, die der Ausweitung dieser Erfahrungen im Wege stehen. ArbeiterInnen aus der Konsumgüterindustrie haben für einige Zeit die Möglichkeit, sowohl Lagerbestände zu verkaufen als die Produktion unter eigener Regie fortzusetzen, aber die ArbeiterInnen, die mit der Fertigung von Produktionsmitteln, von Stahl etc. befasst sind, befinden sich in einer anderen Situation.

Die CTD ANIBAL VERÓN oder: Die Grenzen des Basiskults

Die CTD (Coordinadora de Trabajadores Desocupados) Anibal Veron ist eine Basisorganisation, die von über 7000 Personen hauptsächlich in der südlichen Region des Großraums Buenos Aires (Städte wie Lanús, Solano, Almirante Brown etc.) getragen wird.

Offiziell gegründet wurde sie Ende Dezember 2001 nach dem Auseinanderbrechen der Koordination MTD Teresa Rodriguez (gegründet im Mai 1997), die 2001 aus dem MTR (Movimiento Teresa Rodriguez) hervorging. Die CTD (Name der landesweiten Organisation) versteht sich als »basisdemokratisch« mit einem Minimum an hierarchischen Strukturen. 16 Sie lehnt Wahlbeteiligung, Gewerkschaften und politische Parteien ab - auch jene der Linken. 17 In ihr sind vierzehn lokale MTD (Movimiento de Trabajadores Desocupados) zusammengeschlossen.

Die CTD befasst sich mit den alltäglichen Problemen der Arbeitslosen, der Schwarz- und der GelegenheitsarbeiterInnen. Seit dem Sommer des Jahres 2000 18 hat sie ein Netz von Werkstätten, Bäckereien, Kantinen und Schustereien aufgebaut, sie organisieren den Bau von Gebäuden, Bibliotheken, Versammlungslokalen und organisieren in öffentlichen Parks Kulturveranstaltungen. Es gibt sogar eine Gemeinschaftsapotheke. Da die Arbeitslosigkeit in Argentinien extrem hoch ist, finden sich in der CTD eine wachende Zahl von beruflichen Fertigkeiten wieder: Elektriker, Klempner, ArbeiterInnen der Gaswerke, Mechaniker etc.. In La Fe, einem Stadtviertel von Lanus, haben sie eine Ziegelei aufgebaut, in der 30 Leute täglich 3000 Teile produzieren. In der Bäckerei von Solano backen 20 ArbeiterInnen in täglich 4 Schichten rund um die Uhr und verteilen 200 kg Brot zusammen mit einem Glas Milch an 150 Kinder. Weil sie das Mehl kaufen müssen, sind sie ansonsten gezwungen, das Brot zu einem Preis von 1 Peso pro Kilo abzugeben. Die erwirtschafteten Überschüsse verbleiben nicht bei den Bäckern, sondern werden zur Finanzierung anderer Projekte verwendet.

Jenseits solcher Aktivitäten zur Resozialisierung der immer mehr isolierten Arbeitslosen organisiert die CTD Straßenblockaden, um Forderungen nach der Bereitstellung von Lebensmitteln, Gesundheitsversorgung, kostenlosen Medikamenten, aber auch nach Bargeld gegenüber den verschiedenen Behörden (Stadtverwaltung, Provinzregierung) durchzusetzen. Das Geld wird entweder direkt übergeben, als »Gegenleistung« für den Abbruch einer Straßenblockade, oder aber im Rahmen von »Entwicklungsplänen« ausgezahlt. Diese Pläne für »arbeitslose Haushaltsvorstände« wurden von De la Rua erlassen und von Duhalde fortgesetzt: Für eine täglich 4-stündige »gemeinnützige Arbeit« gibt es 150 Lecops (1 Lecop entspricht 0,8 Pesos, also ungefähr 0,2 $). Die Verhandlungen mit den Behörden werden durch den MTD grundsätzlich nur kollektiv geführt - jegliche Form der Delegation wird damit verhindert. Übrigens verweigert die Organisation die Ausführung der gemeinnützigen Arbeiten - schließlich habe nicht der Staat, sondern die Piqueter@s selber darüber zu entscheiden, wie die Unterstützungsgelder zu verteilen sind.

Die Behörden überweisen deshalb die Gelder auf Bankkonten, und die EmpfängerInnen sind damit beschäftigt, diesen hinterherzulaufen. Das nimmt Zeit in Anspruch - mit dieser Taktik soll ihre Kampfkraft geschwächt werden. Das ist nicht der einzige Versuch, die Piqueter@s zu demoralisieren. Der Staat hat zusätzlich »Punteros« eingesetzt, eine Art offizieller »Stadtteilbevollmächtigter«. Diese sollen über die Sozialpläne entscheiden. Sie versuchen, über die Vergabe der Gelder die gemeinschaftlichen Forderungen und Aktionen zu beeinflussen.

In der Stadt Florencio Varela 19 ist der MTD z.B. in elf Stadtteilversammlungen organisiert, die sich einmal wöchentlich treffen. Aufgrund ihrer Stärke mußte die Organisation hier eine Art kommunaler Struktur aufbauen, die von den VertreterInnen dieser elf Versammlungen getragen wird. Diese sind jederzeit absetzbar. Über diesen Stadtteilversammlungen gibt es eine landesweite Struktur, die auf den selben Prinzipien aufgebaut ist.

Die CTD gibt ein landesweites, vierseitiges Bulletin heraus. Jede Stadtteilversammlung veröffentlicht ihrerseits monatlich ein zweiseitiges Mitteilungsblatt. Allerdings hängt das Erscheinen solcher Publikationen auch von den jeweiligen Ereignissen ab. Was auch immer daran zu kritisieren ist, so sollten wir ihre Bedeutung und die Bemühungen, die hinter ihnen stehen, nicht unterschätzen, ganz besonders wegen des in Argentinien gerade bei den Ärmsten anwachsenden Analphabetismus.

Anhand dieser vielfältigen Aktivitäten wird deutlich, daß es sich bei der CTD nicht lediglich um eine Art karitative Organisation handelt, die Hilfe beim alltäglichen Überleben leistet oder Arbeitslose resozialisiert. Sowohl politische Überlegungen als auch der Wille zu unabhängigen Aktionen bestimmen die CTD. Als der MTD von Almirante Brown im August 2002 ein ungenutztes Gelände besetzte, um dort ein »Kommuniaktionszentrum« aufzubauen und Gärten anzulegen, alarmierte die Stadtverwaltung die Polizei. Die 300 BesetzerInnen sollten geräumt werden. Innerhalb einer halben Stunde versammelten sich 1000 Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft, dazu kamen noch einmal 6000 Leute aus der weiteren Umgebung. Sie zwangen die Polizei, sich zurückzuziehen. Seitdem ist nur ein Mannschaftswagen in der Nähe des Geländes postiert.

Die CTD nimmt auch an landesweiten Demonstrationen teil und ist dabei darauf bedacht, ihre Unabhängigkeit zu bewahren: eine Haltung, die sich aus einem gesunden Mißtrauen sowohl gegenüber den Gewerkschaften als auch gegenüber den verschiedenen Organisationen der Linken und Linksradikalen speist. Die CTD ist auch an Solidaritätsinitiativen für die ArbeiterInnen von Brukman beteiligt. Diego Santillan und Maximiliano Kostesky, die von der Polizei am 26. Juni 2002 nahe der Pueyreddon-Brücke umgebracht wurden, waren Mitglieder der Organisation.

 

Die Beschränkungen der CTD sind dieselben wie bei den Aufständen vom 19. und 20. Dezember 2001. Die Sorge darum, daß die Basis ihren Ausdruck findet, wird wichtiger genommen als das Bedürfnis nach einer politischen Zentralisierung der Bewegung durch beispielhafte Kämpfe — wodurch Perspektiven zur Verallgemeinerung entwickelt werden könnten. Wenn man es für wenig wahrscheinlich hält, daß sich die Klassenkämpfe auf die besetzten Betriebe beziehen und sich um sie herum radikalisieren, dann kann noch immer der Weg ausprobiert werden, leerstehende Häuser zu besetzen und das Nicht-Bezahlen öffentlicher Dienstleistungen zu verallgemeinern. Es waren ja genau solche Massenaktionen, die z.B. in Italien Anfang der 70er Jahre das Bindeglied zwischen den Arbeiterkämpfen und denen auf der Straße darstellten. Die aktuelle Situation in Argentinien ist vom Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft und vom Niedergang ganzer Produktionszweige bestimmt. Deshalb muß der Kampf ums Überleben, wenn er sich unabhängig vom Kapital macht, Forderungen und Massenbewegungen nach kostenloser Reproduktion der Arbeitskraft einschließen.

 

Wir befürchten, daß die CTD nach dem Muster von einigen proletarischen Organisationen, die sich nicht ohne Probleme und Widersprüche darum bemühen, die politische Autonomie der ausgebeuteten Klasse zu verkörpern, ein Beispiel dafür ist, wie der kollektive Widerstand nur sehr zögerlich z.B. auf die Wohnungsfrage ausgeweitet wird. In Buenos Aires stehen zahllose Wohnungen leer, gleichzeitig werden die Elendsviertel immer größer. Trotzdem kommt es nur zu sehr wenigen Hausbesetzungen. Zur Zeit beschränkt man sich darauf, die Sanitäranlagen in den alten, in der peronistischen Zeit errichteten Sozialwohnungen zu erhalten oder baut sogar selber neue Häuser. Andererseits werden nicht nur bei der CTD sondern in vielen Arbeitslosenorganisationen sehr ernsthaft Fragen der Selbstverteidigung erörtert: gegen Polizei, Dealer, oder allgemeiner gesagt: gegen das organisierte Verbrechen. Mit vollem Recht bestehen die Menschen darauf, ihren Alltag gegen einen weiteren Verfall zu schützen. In den proletarischen Vierteln von La Mantanza haben die EinwohnerInnen Patrouillen organisiert, die die Verkäufer der chemischen Todesdrogen ohne Einbeziehung der Polizei verjagen. Allerdings läßt sich allgemein eine ausgeprägte Selbstbezogenheit feststellen. Das zeigt sich am geringen Interesse daran, was in anderen Teilen der Welt vor sich geht. Davon ausgenommen scheinen nur die eigenen Genossen und die Situation in den Nachbarländern Uruguay und Brasilien zu sein.

Leider fehlt dieser entschiedene Internationalismus nicht nur in Argentinien ...

Über den Argentinazo hinausgehen ...

Die Aufstände vom 19. und 20. Dezember kamen nicht aus heiterem Himmel. Wie wir im ersten Rundbrief von Mouvement Communiste erklärt haben, waren sie vielmehr das Ergebnis langjähriger Kämpfe, Streiks, Straßensperren und Aufstände, die im »Santiaguenazo« 1993 begonnen haben. Anzahl und Intensität dieser Bewegungen haben im Jahr 2001 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Nichtsdestotrotz stellt der »Argentinazo« einen qualitativen Sprung dar, weil er sich gleichzeitig aufs gesamte Land ausbreitete und eine riesige Masse von Menschen aus allen sozialen Schichten des Landes miteinbezog. Auf die Breite und Unkontrollierbarkeit der Bewegung (erinnern wir uns: es gab 35 Tote, Hunderte von Verletzten und einige tausend Festnahmen) reagierte die Regierung sehr schnell: De la Rua warf den Aufständischen schon nach zwei Tagen sein Amt vor die Füße, sein Nachfolger Saà folgte ihm kurze Zeit später, um den Weg für Duhalde freizumachen.

Anders ausgedrückt: Man simulierte eine Regimekrise, der wütenden Bevölkerung wurde die Staatsspitze geopfert, um so das Wesentliche, Verwaltungsapparat und Militär, zu retten. Trotzdem kann diese Tatsache allein nicht den Rückgang der Bewegungen erklären, der mit der Amtsübernahme Duhaldes begann. Der Rückzug hat Gründe, die im Inneren der Bewegung selbst zu suchen sind.

Zunächst wird der klassenübergreifende Charakter der Bewegung nicht dadurch verändert, daß die Aktionen hauptsächlich von den kämpferischsten Teilen des argentinischen Proletariats getragen wurden. Der Mittelklasse ist es vor allem in der Hauptstadt gelungen, die Stoßrichtung der Proteste auf die charakteristisch klassenübergreifende Forderung nach Auszahlung der blockierten Gelder 20 und das Anprangern von Kriminalität und Korruption umzulenken. Selbst wenn in der Mittelschicht die Sympathien für die Armen und die Arbeitslosen größer geworden sind, kämpfen ihre ProtagonistInnen doch nur für die Rückkehr ihres »goldenen Zeitalters« - die schönen Jahre unter Menem.

Einige werden einwenden, daß die Verschärfung der Krise einen gehörigen Teil dieser Zwischenschichten ins Proletariat gestürzt hätte. Diese Betrachtungsweise ist gleichzeitig richtig und falsch. Es stimmt, daß sich die Lebensbedingungen für die gesamte Gesellschaft brutal verschlechtert haben. Aber es ist falsch, davon auszugehen, daß sich diese Verschlechterung im völligen Verschwinden dieser Schichten niederschlägt. In der Mehrheit konnten sie ihre Position im Gefüge der sozialen Arbeitsteilung sichern, auch wenn selbst bei ihnen Zweit- und Drittjobs mittlerweile die Regel sind. Sie haben kein Bewußtsein davon entwickelt, daß sie bei einem historischen Kampf der Arbeiterklasse dabei sind, das gilt auch für die ArbeiterInnen selber.

 

Die Mittelschicht, so erschüttert und wütend sie angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung auch sein mag, kann sich nicht im Sinne des Kommunismus entwickeln, wenn es keine solide praktische Orientierung der Bewegung durch die entschiedensten Teile der ausgebeuteten Klasse gibt.

 

In den »cacerolazos« ging es lediglich um die Freigabe der Bankkonten - auch wenn einige der Demonstrationen sich zusätzlich gegen die Polizeigewalt gewandt haben. Die vielgerühmten Stadtteilversammlungen in Buenos Aires haben sich verlaufen. Sie bleiben hauptsächlich auf die Wohngebiete der Mittelschicht beschränkt. Im Durchschnitt beteiligen sich lediglich 50 Personen an ihnen, von denen die Hälfte aus linken Organisationen kommt. Als Konsequenz aus dem Ende des »Corralito« beteiligte sich die Mittelschicht auch nicht an den Demonstrationen zum ersten Jahrestag des »Argentinazo«.

Die ArbeiterInnen ihrerseits sind mit einer neuen Situation, dem Zusammenbruch großer Teile des Produktionssystems, konfrontiert. Es entsteht eine tiefe Spaltung zwischen denen, die über Arbeitsplätze in den noch existierenden Unternehmen verfügen, und denen, die Opfer der Firmenpleiten geworden sind. So entsteht die klassische Trennung in LohnempfängerInnen und Arbeitslose. Die Streiks des Jahres 2002 betrafen nur Unternehmen, die von Schließung bedroht sind oder schon geschlossen wurden. Vielleicht ist das eine der schwerwiegendsten Konsequenzen aus dem Scheitern der zweiten Besetzung der FIAT- Fabrik in Ferreya im Jahre 1997. Dieser Betrieb existiert heute nicht mehr. Die Niederlage in diesem Werk, einem Symbol der Klassenkämpfe der 60er und 70er Jahre, hat sicherlich dazu beigetragen, den Kampfeswillen empfindlich zu schwächen. Dazu kommt, daß der harte Alltag einen großen Teil der proletarischen Energien an die pure Reproduktion des Lebens bindet. Schließlich gibt es enorme Verwirrrungen und viele politische Fehler. Der wichtigste ist der starke Patriotismus fast der gesamten Linksradikalen des Landes; und es herrscht die vollkommen berechtigte Angst, daß es zur Wiederholung einer Repression wie in den Jahren 1976 bis 1982 kommt. JedeR hat in Erinnerung, daß diese Periode der Militärdiktatur mit 30 000 Opfern aus dem Proletariat bezahlt wurde.

Die Sorge, daß es zu einer Konfrontation mit dem weiterbestehenden, effektiven Repressionsapparat kommen könnte, war in allen Gesprächen, die wir mit revolutionären AktivistInnen in Argentinien geführt haben, präsent. Selbst eine kämpferische Organisation wie die CTD beschränkt illegale Massenkämpfe aus taktischen Gründen, aus Angst, das so schwer Erreichte wieder zu verlieren.

Beerdigung erster Klasse auf Grundlage der Erinnerung

Um an den »Argentinazo« zu erinnern, hatten alle piqueter@ - Organisationen und die Linksradikalen eine landesweite Demonstration in Buenos Aires organisiert, der ein Marsch durch die wichtigsten Provinzstädte des Landes vorausging. Resultat: Auf der wichtigsten Demonstration, jener der Piqueter@-bewegung Federacion Tierra y Vivienda (die der CTA nahesteht), nahmen am 19. Dezember 2002 nur 10 000 Menschen teil. Am darauffolgenden Tag bildete sich ein weitere Demonstrationszug, diesmal beteiligten sich mindestens 50 000 Leute. 21

Dieser Jahrestag ist eher ein Datum für die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen als ein wirklicher Ausdruck der Bewegung. 22 Auf den lokalen Demonstrationen vom 7. November hatten sich schon genau so viele Menschen versammelt wie auf denen vom 19. und 20. Dezember. In dieser Entwicklung wird deutlich, daß das Programm, das hinter einer Parole wie »¡Que se vayan todos!« steht, zur Sackgasse werden kann. Durch die Abwesenheit starker und unabhängiger ArbeiterInnenkämpfe macht die Ablehnung der korrupten PolitikerInnen Platz für neue PolitikerInnen - egal, ob diese aus den Reihen der alten Parteien oder aus dem Schoß der Zivilgesellschaft kommen.

Als Krönung dieser Entwicklung, die für die unabhängige proletarische Bewegung nach dem Argentinazo immer ungünstiger wird, hat die Regierung vom »bösen« IWF die Rückzahlung eines Teils der Schulden gestundet bekommen. 23 Heute gezwungen, eine Übereinkunft mit der internationalen Finanzinstitution zu unterzeichnen, 24 hat das Regime gerade verkündet, daß die Zentralbank nicht mehr zu Gunsten des Peso eingreifen werde. Damit wird ein zusätzlicher Schritt hin zur völligen Freigabe des Wechselkurses gemacht, die der IWF eingefordert hatte.


Brüssel-Paris, 6. Januar
Kontakt: B.P. 1666, Centre Monnaie, Bruxelles

 


Fußnoten:
1 Aber die Bevölkerung schenkt ihm weniger Vertrauen als dem farblosen Saá, der Rückkehr des flotten Menem oder selbst den aus der »Zivilgesellschaft hervorgegangenen« neuen Kandidaten. Anders gesagt, die Korruption bleibt eine Eigenschaft des politischen Lebens in Argentinien.

2 Ein Krisenausstieg verpflichtet: Fabrikschließungen und Entlassungen gehen weiter, so wie bei Whirlpool, wo der Besitzer am 30. Dezember die Schließung der Fabrik in San Luis und die Verlagerung der Produktion in sein Werk in Joinville in Brasilien verkündete.

3 Am 14. April 2002 wurde die Quilmes Scotia Bank, eine Filiale der Bank of Nova Scotia, wegen Zahlungsunfähigkeit für 30 Tage geschlossen. Die Regierung wollte damit auch ein Signal an alle ausländischen Banken geben, sich mit den Problemen ihrer argentinischen Filialen zu befassen. Schließlich wurde die Bank am 15. August durch die Zentralbank endgültig geschlossen. Im Juni gab die Crédit Agricole ihre Aktivitäten in Argentinien wegen zu großen Risikos auf. Allerdings weigerte sich die Regierung immer, die ausländischen Banken mit neuer Liquidität auszustatten, solange sie ihre Filialen nicht finanziell unterstützten. Nach Schätzungen besagter grüner Bank (Crédit Agricole) hatte sie zur Ausgleichung der Abwertung des Peso schon 324 Millionen Euro verloren, warf dann das Handtuch und ließ ihre 345 Zweigstellen, 6 100 Beschäftigten und 200 000 Kunden im Stich.

4 Die CTD stellt nur eine der Organisationen der Piqueteros dar, unter denen es noch den »Bloque piquetero nacional«, den »Polo Obrero«, die von der CTA organisierten Arbeitslosen usw. gibt.

5 Siehe dazu den Artikel in der Beilage zu Wildcat-Zirkular 64, Juli 2002, S. 9-11.

6 So werden inzwischen die Unruhen des 19. und 20. Dezember 2001 genannt.

7 Zum großen Erstaunen von Yuri Fernández, Gewerkschaftsdelegierter in der Fabrik (siehe »La Verdad«, Zeitung der PTS vom 10.4.2002).

8 Der Kampf betrifft vier Keramikfabriken: Zanón (330 ArbeiterInnen), Estefani (65), del Valle (23) und Neuquén (50). Cerámica Zanón als größter lateinamerikanischer Produzent der Branche produzierte im Jahr 2000 ca 600 000 qm Porzellan im Wert von 120 Mio. Dollar.

9 Der Unternehmer wollte die Produktion mit einem Zehntel der Beschäftigten wiederaufnehmen.

10 Am 5. Mai starb der Streikführer Juan Carlos Acuna bei einem Entführungsversuch durch »Polizisten«, und der lokale Arbeiterführer Raul Godoy bekam eine Reihe von Todesdrohungen.

11 Siehe unsere vorherigen Artikel zu Argentinien [deutsch in Beilage zu Wildcat-Zirkular 63, März 2002].

12 Nr. 8, Oktober 2002, S. 12 f.

13 Im Dezember 2002 konnte man diese Zahl auf 10 000 aufrunden.

14 Im Stadtviertel Chacarita in Buenos Aires.

15 Vgl. die französischen Minenarbeiter, die seit sieben Jahren eine alte Kohlenmine ausbeuten.

16 Zu dieser Position kam der MTD in langen Debatten. Um »Spezialistentum« zu vermeiden, hat man sich geeinigt, jede Aktion auf lokalem Niveau zu diskutieren und sie nur bei ausdrücklicher Zustimmung durchzuführen. Eine bereits getroffene Entscheidung kann immer in Frage gestellt und neu diskutiert werden. Die AktivistInnen des MTD sehen, daß es Individualismus und Lokalismus insofern gibt, daß bestimmte Gruppen sich nicht auf die Vorhaben anderer beziehen.

17 Trotzdem nimmt die CTD an gemeinsamen lokalen und nationalen Aktionen zusammen mit anderen piquetero-Gruppen und linksradikalen Organisationen wie PO, PTS, MAS, PCR usw teil. Am 28. August hat sie sich allerdings geweigert, sich den Demos aus dem Umfeld der CTA anzuschließen, da sie diese als Sprungbrett für die Wahlen ansah.

18 Die erste Einrichtung wurde 1999 gebaut. Zu dieser Zeit hatte der MTD nur 60 Mitglieder.

19 Eine Stadt mit 360 000 EinwohnerInnen im Süden von Buenos Aires, wo 31 000 Menschen die erwähnten Unterstützungsgelder bekommen.

20 Am 22. November kündigt Lavagna die völlig Freigabe der Konten mit mehr als 7000 Pesos an. Diese Maßnahme ist seit dem 2. Dezember in Kraft. Damit ist der »corralito« beendet. Die vor einem Jahr eingefrorenen Dollarkonten werden auf Pesobasis freigegeben und sind jetzt um ungefähr 71 Prozent weniger wert. Abgesehen von der Wiederbelebung des Konsums hat diese Maßnahme das Ziel, die Wut der Mittelschicht zu entschärfen. Andererseits erhalten die 400 000 InhaberInnen von Festgeldkonten einen Teil ihrer Einlagen, 15 Mrd. Pesos (ca. 4,3 Mrd. Dollar), erst im Jahr 2003 zurück.

21 Die Unrealistischsten wie z.B. die PO hatten bis zu 100 000 DemonstrantInnen angekündigt — als könnte das Aufblasen von Zahlen die politische Schwäche solcher Jahrestage übertünchen.

22 Anstelle einer politischen Regeneration faßt die CTA seit ihrem Kongreß im Dezember 2002 und im Taumel über den Sieg von Lula in Brasilien die Gründung der Organisation »Soziale und Politische Bewegung« (MSP — Movimiento Social y Político) ins Auge. Diese Formation wird sich nicht auf die einfache Rolle einer politischen Partei beschränken, sondern die sozialen Ansprüche dadurch verkörpern, daß sie ihren Generalsekretär De Gennaro bei den Wahlen im März 2003 antreten läßt.

23
Monat zurückzuzahlendes Kapital
(sämtliche Gläubiger in Mio $, ohne Zinsen)
November 2002 979
Dezember 2002 1339
Januar 2003 1167
Februar 2003 1198
März 2003 3635
April 2003 1103
Mai 2003 982
Juni 2003 2129
Gesamtsumme 12.532
24 Jeder versteht, daß diese Kursänderung, diese neue Vernunft der Regierung nur Fassade sind. Die früheren Kritiken der Duhalde-Mannschaft am IWF haben in Wirklichkeit nur das innenpolitische Terrain für das was kommen mußte vorbereitet. Ihre patriotischen und anti-imperialistischen Auftritte haben es ermöglicht, den Peronismus der Basis und einen guten Teil politischer und gewerkschaftlicher Gruppen des Landes hinter sich zu bringen. Der angeschlagene Ton hat es auch erleichtert, die ausländischen Gläubiger gefügig zu machen.

 

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