20.02.2003 | Das Neueste aus Argentinien | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Das Neueste aus ArgentinienDie Bourgeoisie ist schneller als das ProletariatLa Lettre de Mouvement Communiste, Numéro 6, Jan. 2003 [Druckversion] [Franz. Originalfassung] Wo steht Argentinien ein Jahr nach den Unruhen vom 19. und 20. Dezember 2001? Wie sind die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen? Hat der Staat die Herausforderung gemeistert oder ist er noch genauso gefährdet wie vor einem Jahr? Was hat es mit den Arbeiterkämpfen bei Brukman und Zanon auf sich, einer Art Lip in Argentinien? Wie kann das Proletariat vermeiden, als besondere Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zu verschwinden, wo ganze Bereiche des traditionellen sozialen Gewebes in Fetzen zerreißen und das Leben immer ungesicherter wird, bis hin zur Unterernährung? Wie organisieren sich die »piqueteros«, die Arbeitslosen, die prekären ArbeiterInnen der Grauzone und die DemonstrantInnen, die die Straßen blockieren, um zu überleben und zu kämpfen?
Die Bourgeoisie ist schneller als das ProletariatAuch wenn einige Probleme ungelöst bleiben, hat Duhalde doch schon einige Erfolge zu verzeichnen.
Aber vor allem war er nicht schlecht beim Hinausschieben der Fälligkeitstermine für den Schuldendienst gegenüber dem IWF oder der Weltbank. Seine - reichlich in Szene gesetzte - Weigerung, den Befehlen dieser beiden Kreditinstitutionen nachzukommen, war jedesmal auf der ersten Seite der argentinischen Zeitungen. So hat auch seine Entscheidung, nichts gegen die Abwertung des Peso zu unternehmen (von Januar 2002 bis heute sank der Kurs auf 3,5 Peso für 1 Dollar) und den Umlauf des amerikanischen Dollars einzudämmen, das Überleben der Ökonomie ermöglicht. Wie das nationale Institut für Statistik (INDEC) 2 zuletzt meldete, nahm die industrielle Produktion Argentiniens im November bezogen auf denselben Monat des Vorjahres um 2% zu, was den ersten Anstieg nach 27 Monaten ununterbrochener Abnahme bedeutet. Die Einlagen der Banken wuchsen von 16 Milliarden Dollar im Juni auf 16,7 Milliarden im Oktober. Die Inflation stieg 2002 nicht höher als 41%. Dafür kam das Bankensystem immer noch nicht aus dem Tunnel: Es wurde durch das teuflische Pärchen Abwertung/Inflation und besonders durch die Zunahme von Zahlungsunfähigkeiten 3 schwer belastet, wie der letzte Bericht der Finanzbewertungsagentur Moody's feststellt. Die Pseudowährungen (Lecop, Patacon usw.), die in den Provinzen kursierten, existieren immer noch und werden so schnell auch nicht verschwinden.
Zerfall der bürgerlichen GesellschaftDie Bilanz für die ProletarierInnen sieht ganz anders aus: zunehmende Verarmung (beginnende Unterernährung im Nordosten des Landes; um die 3000 Kinder sind jetzt im ganzen Land schon unterernährt), Lohnsenkungen für die, die arbeiten, gestiegene Prekarisierung (ca. 40% der Bevölkerung sind arbeitslos oder leben von Schwarzarbeit), Preissteigerungen bei den gebräuchlichsten Waren usw.. Die amtlichen Zahlen für Arbeitslosigkeit (im Mai 21,5% der arbeitsfähigen Bevölkerung) und für Armut sind auf Rekordniveau. 49,7% der BewohnerInnen der Provinz Buenos Aires, wo ein Drittel der 36 Millionen ArgentinierInnen lebt, sind unter die Armutsgrenze gerutscht. Ungefähr 22,7% von ihnen (d.h. 2,7 Millionen) haben nach den amtlichen Zahlen ein monatliches Einkommen unterhalb von 300 Pesos (84 Dollar). Landesweit bezifferte das INDEC im Mai 18 Millionen Menschen als »arm«. Eine typische Familie von einem Ehepaar mit zwei Kindern wird als arm betrachtet, wenn ihr monatliches Einkommen unter 598 Pesos (166 Dollar) liegt. Die Bedürftigsten, die in großem Elend leben, sind Familien, die nicht über Einnahmen von mehr als 252 Pesos (70 Dollar) verfügen. Laut einer Studie des Systems für Information, Kontrolle und Bewertung sozialer Programme (Siempro) leben 53,8% der Bevölkerung in Armut, davon sind 8,6 Millionen unter 18 Jahre alt (30% der Argentinier). Derselben Quelle zufolge leiden 8,4 Millionen ArgentinierInnen ohne Einkommen derzeit Hunger. Die Zeitschrift 3 puntos präzisierte, dass die höchsten Armutsraten in den nördlichen und nordöstlichsten Provinzen festgestellt werden, die höchsten mit 71% in Corrientes (Nordost), gefolgt von Formosa (70,5%) und Chaco (70%). In Chaco verfügen 36,1% nicht über das lebensnotwendige Minimum. In Formosa sind es 31, 2% der Bevölkerung und in Misiones, der Provinz im Nordosten, die an Brasilien und Paraguay angrenzt, sind es 30,5%. Die Hälfte der von den amtlichen Instituten erfassten Armen wohnt in der Provinz Buenos Aires, wo auch die Unsicherheit gleichermaßen hoch ist. Seit Beginn der Krise nahm die Armut um 74,8%, die Zahl der Bedürftigen um 303% und die Arbeitslosigkeit um 74,2% zu, erläuterte 3 puntos. Wenn sich die Tendenz nicht umkehrt, wird nach offiziellen Berechnungen die Zahl der Armen im nächsten Jahr 23 Millionen erreichen, d.h. 63% der Bevölkerung des Landes und davon 10, 5 Millionen unter 18 Jahren. Die Einkommenslosen stellen dann um 30% der gesamten Einwohnerschaft dar, d.h. 10,8 Millionen. Die Wiederingangsetzung der Kapitalakkumulation hat diesen Preis. Auch wenn Buenos Aires nicht an Kalkutta erinnert, hat seit Anfang 2002 die Anzahl der Personen, die auf den Status eines Bettlers gebracht wurden, einen spektakulären Sprung gemacht. Die Zunahme der Kleinkriminalität und des organisierten Verbrechens verlief parallel dazu. Ohne eine »permanente Unsicherheit« zu beschwören - dieser Begriff, der in den Medien sehr in Mode ist, verdeckt die Tatsache, dass die Polizei direkt am organisierten Verbrechen beteiligt ist — so sind doch Taschendiebstahl in den Straßen und Transportmitteln ebenso wie in Autos, die an Verkehrsampeln anhalten, für einen sehr breiten Teil der Bevölkerung aus allen Klassen eine erschreckend konkrete und ständig präsente Wirklichkeit geworden. Meistens sind vor allem arme Leute von der Kriminalität betroffen. In der Innenstadt wird man selten angegriffen. Andererseits sollte man sich als Fremder in den Slums und Armenvierteln der Vorstädte besser von jemandem, der dort bekannt ist, begleiten lassen. Auch deswegen, weil die Bewohner dieser Bereiche auch Vorsichtsreaktionen gegenüber der Polizei entwickelt haben. Die Kriminalität hat sich in einem Jahr verdoppelt. 2002 wurden im Ballungsraum Buenos Aires 35 Polizisten ermordet, ein guter Teil davon im Rahmen von Abrechnungen innerhalb der Polizei selbst. Ein Lieblingsthema der Medien sind seit Juni/Juli 2002 die »Schnellen Entführungen« (d.h. Kidnapping von Erwachsenen und vor allem Kindern). Wer wird gekidnappt? Alle Klassen sind Opfer, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Das geht vom Chef eines Kleinunternehmens, von Mitgliedern der Mittelklasse bis zu den Ärmsten. Wie in Brasilien hat die Unterwelt ihre Lösegelder den Einkommen der Familien der Entführten angepasst. Wo finden die Entführungen statt? Die meisten von ihnen in Buenos Aires und seiner Peripherie. Wer sind die Kidnapper? Nach den Medien gibt es zwei Arten von Entführungen. Die meisten werden im Polizeimilieu von Groß-Buenos Aires organisiert. Ein Hauptziel ist offensichtlich Geld. Aber die Verbrechen sind auch Mittel zur Aufrechterhaltung eines Klimas der Unsicherheit, das für die Repressionskräfte immer vorteilhaft ist. Die anderen Kidnappings sind die Tat von Hemmungslosen ohne jede Bindung. Es ist vorgekommen, dass ein Onkel seine Neffen entführen ließ. Am häufigsten endet die Entführung mit der Freilassung des Entführten im Tausch gegen Geld. Aber es gab auch mehrmals einen tragischen Ausgang mit der Hinrichtung der entführten Person. Der große Rummel um dieses bedauerliche Phänomen kommt in der Forderung nach mehr Sicherheit und Schutz zum Ausdruck, und in der Wiederbelebung der Debatte um die Todesstrafe. Buenos Aires war Schauplatz mehrerer »cacerolazos« (Topfdeckeldemos) von Händlern, die mehr Polizei forderten. Eine andere Folge war, dass der Waffenhandel in der Hauptstadt noch nie so gut lief. Die Vermögendsten umgeben sich mit Leibgarden und Privatmilizen. Dieses Wiederaufleben krimineller Gewalt ist nur eines der auffälligsten Symptome des allgemeinen Elends und des fortschreitenden Verfalls gesellschaftlicher Beziehungen. Glücklicherweise halten die ProletarierInnen inmitten dieser Spirale des Zerfalls stand und organisieren sich, wie z.b. in der CTD »Anibal Verón« 4 (siehe weiter unten). Wie in Russland nach 1991 gibt es eine beträchtliche Zunahme des ambulanten Handels. Es wird alles und überall verkauft: Kekse, hot-dogs (»pancho«), Rasierklingen, Heiligenbildchen, jede Art neuer, gebrauchter oder gestohlener Dinge. Seit Dezember 2002 werden die Supermärkte von Groß-Buenos Aires von Privatmilizen bewacht, um Plünderungen zu verhindern. Die Regale sind generell gut sortiert. Man findet hier alles, wie in Europa. Die Preise hingegen sind heute für wachsende Bevölkerungsschichten unerschwinglich. Ende August war ein Liter einheimisches Bier billiger geworden als ein Liter Milch. Fahrten mit Gemeinschaftstransportmitteln sind relativ günstig, aber seit längerer Zeit können es sich die Armen nicht mehr leisten. Schon vor 2001 stagnierte der Verkehr. Im Großraum Buenos Aires fährt man im wesentlichen Zug, aus und nach dem Stadtzentrum. Drei Privatgesellschaften teilen sich den Verkehr: TBA im Norden und Westen (»l'Electrico«), deren Züge meistens neu sind. Der Verkehr wird oft durch Streiks gegen Entlassungen und für Auszahlung bestimmter Zulagen gestört; »Metropolitano« im Süden und »Ferrovias«, das auf den alten Schmalspurgleisen fährt. Der durchschnittliche Preis eines Tickets liegt in Abhängigkeit von der Entfernung vom Stadtzentrum in der Größenordnung von 1,4 Peso. Ticketkontrollen finden ständig statt und sind effizient. Ist man aber einmal außerhalb des Zentrums, besteht die Möglichkeit, nicht zu bezahlen. In den letzten Jahren ließ die Eisenbahngesellschaft Entwerter installieren, später kamen von der Bahnpolizei unterstützte Kontrolleure. Das Metro-Ticket (mit Umsteigen), das »subte«, kostet 70 Centimos. Der Preis des Bustickets (ohne Umsteigen) in der Stadt Buenos Aires kostet 80 Centimos. Dieser Service wird von Privatgesellschaften unterhalten. Isolierte KämpfeSeit den Unruhen von Ende 2001 und den Erschütterungen vom Januar 2002 nahm der Klassenkampf in Argentinien einen »normalen« Verlauf oder genauer, einen Verlauf, der mit dem vor dem 19. und 20. Dezember 2001 identisch ist. Die drei noch offenen Kampffronten sind der Kampf von ArbeiterInnen gegen Entlassungen und Werksschließungen, der von Lehrerinnen und öffentlichen Bediensteten für die Auszahlung von ausstehenden Gehältern und der von Arbeitslosen dafür, Mittel zum Überleben zu bekommen (Nahrung, Kleidung, Medikamente usw.). Die Generalstreiks haben stark abgenommen oder beschränkten sich auf den öffentlichen Dienst, der Hauptgrund dafür ist die Unterstützung der beiden CGT's für Duhalde. Unglücklicherweise entwickelt sich keine Lohnforderungsdynamik in den industriellen Unternehmen oder im tertiären privaten Bereich. Die Streiks bei »Repsol« (Erdöl) im Februar - die schnell von den Gewerkschaften beerdigt wurden - und bei den Hochseefischern im Mai stellen seltene Ausnahmen dar. Im Gegensatz dazu gehen die Straßenblockaden weiter. Sie sind zusammen mit den Demonstrationen der bevorzugte Versammlungsort der zornigen Ausgebeuteten. Aber allgemein machen seit Dezember 2001 relativ weniger Leute bei Demonstrationen und Straßenblockaden mit.
Brukman und Zanon machen keine SchuleEs ist etwas Neues entstanden, auch wenn es sich nicht stark verbreitet: Die Weiterführung der Produktion durch die ArbeiterInnen selber, nachdem ein Betrieb geschlossen oder von den Bossen verlassen wurde. Diese Bewegung umfasst ungefähr 10 000 Arbeitsplätze in ca. 60 Unternehmen, darunter Waserman, Impa, Panificacion 5, baskonia, Penas Duras in Olavarria, sowie Brukman und Zanón. Besonders die beiden letztgenannten sind charakteristisch. Die in der Provinz Neuqúen ansässige Keramikfabrik Zanón wird von den ArbeiterInnen seit dem 2. Oktober 2001 besetzt gehalten, das Textilunternehmen Brukman in Buenos Aires seit dem 18. Dezember des gleichen Jahres. Die Ausgangssituationen sind in beiden Fällen die gleichen: Beide Firmen standen kurz vor der Pleite, die Eigentümer hatten sie aufgegeben, ohne Aussicht darauf, daß ein neuer Eigentümer die Geschäfte wieder in Gang bringen würde. 5 Brukman - eine Fabrik im Zentrum von Buenos Aires, in der Herrenbekleidung hergestellt wurde (Adresse: Jujuy 554) - beschäftigte 115 Leute, in der Mehrzahl Frauen. Bevor die Situation umkippte, hatten die ArbeiterInnen über Wochen nur einen Bruchteil ihres Lohnes erhalten. Manchmal 50 Pesos (was zu dieser Zeit noch 50 US-Dollar waren - mittlerweile ist der Peso nur noch ein Drittel dessen wert), manchmal auch nur 5 Peso pro Woche. In dieser Lage wurde auf einer ArbeiterInnenversammlung die Besetzung der Fabrik beschlossen, um die Arbeitsplätze zu retten. Die Besitzer tauchten kurz auf, um mitzuteilen, daß sie zahlungsunfähig seien, und übergaben die Schlüssel der Fabrik an die BesetzerInnen. Danach verschwanden sie, und mit ihnen alle leitenden Angestellten. Während der folgenden zehn Tage versuchten die ArbeiterInnen unter Einschaltung von Presse und Arbeitsministerium vergeblich, ihre AusbeuterInnen ausfindig zu machen. Deshalb entschieden sie sich, den ersten Streikposten aufzustellen, um sich Produktion und Vermarktung der Produkte zu sichern. Im Fall Brukman fällt das mit dem »Argentinazo« zusammen. 6 So werden die BesetzerInnen von Anfang an durch die BewohnerInnen und die Stadtteilversammlungen unterstützt. Die Leute bringen Nahrungsmittel mit, und vor der Fabrik wird unter Markisen eine Volksküche organisiert. Die ArbeiterInnen organisieren Führungen durch die Fabrik, vor den Toren versammeln sich die SympathisantInnen. Die Belieferung der Stammkundschaft wird wieder aufgenommen und ein Direktverkauf eingeführt, zu niedrigeren Preisen als vor der Besetzung. Die Arbeitsorganisation wird von Vollversammlungen bestimmt, die drei- bis viermal pro Woche stattfinden. Sechs gewählte Delegierte bilden eine Kommission, die die ArbeiterInnen nach außen vertreten soll. Die Besetzung selber wird von 54 ArbeiterInnen getragen. Sie zahlen sich einen Wochenlohn von 150 Pesos aus. Die ArbeiterInnen in der Fabrik beklagen, daß die meisten ihrer KollegInnen überhaupt nicht mehr erscheinen - 400 Leute könnten hier Arbeit finden. Ihr Versuch, die alten KollegInnen zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen, ist fehlgeschlagen. Um das Produktangebot zu erweitern, orientieren die ArbeiterInnen die Produktion auf gängige Dinge, meistens mit »gesellschaftlichem Nutzen« wie z.B. Bettwäsche für die Krankenhäuser oder Hemden für Schuluniformen. Aufgrund der Verschuldung können die ArbeiterInnen das Eigentum an der Fabrik im juristischen Sinn nicht beanspruchen. Deshalb wenden sie sich an den Staat - damit dieser die Fabrik unter ihrer Kontrolle zurückkauft. Falls diese Verhandlungen scheitern sollten, planen sie, die Besetzung fortzuführen. Am Samstag, dem 16. März 2002, räumt die Polizei unter Einsatz von Gewalt die wenigen anwesenden ArbeiterInnen aus der Fabrik und beginnt danach mit der Überprüfung des Inventars. Daraufhin besetzen ungefähr 200 SympathisantInnen das Verwaltungsgebäude. Nach einem »cacerolazo« und Straßenblockaden von mehreren Stunden erreichen sie, daß die Polizei wieder abzieht. Während der nächsten Tage treffen sich die Leute weiter vor dem Betrieb, um den Eingang zu sichern. Obwohl die Mehrzahl von ihnen über keinerlei Erfahrung bezüglich solcher Kämpfe verfügt, konnten die ArbeiterInnen die Besetzung ohne die geringste Intervention durch Gewerkschaften oder politische Parteien durchführen. Nur einer der sechs gewählten VertreterInnen war vorher Gewerkschaftsdelegierter. Die Arbeiterinnen forderten ihn auf, seine Funktion aufzugeben: Seine Gewerkschaft hat ihren Kampf nicht unterstützt. Im Februar verkünden die Gewerkschaften während einer Versammlung der Arbeiterinnen vor dem Ministerium, von nun an die Leitung der Aktionen zu übernehmen. Damit haben sie sich aber zu weit vorgewagt - der Versuch scheitert. Die Brukman-ArbeiterInnen wollen jetzt überhaupt nichts mehr von den Gewerkschaften wissen. Stattdessen nehmen sie Kontakt mit den BesetzerInnen von Zanon in Neuquén auf. Sie kommen zu dem Schluß, daß es nicht mehr ausreicht, die Fabrik am Laufen zu halten und die Arbeitsplätze zu sichern. Von nun an geht es ihnen um die Vereinigung aller an der Bewegung beteiligten Lohnabhängigen. Anfang April fordert das Arbeitsministerium — mit heldenhafter Unterstützung durch die Bekleidungsgewerkschaft SOIVA (Sindicato Obrero de la Industria del Vestido y Afines) 7 - dazu auf, die Besetzung abzubrechen. Dies sei Grundbedingung für die Aufnahme von Verhandlungen. Ein wirksamer Erpressungsversuch: Falls die ArbeiterInnen in das Ende von Produktion und Besetzung einwilligen, verlieren sie ihre einzige Möglichkeit, weiterhin Druck auszuüben. Weisen sie die Forderung hingegen zurück, laufen sie Gefahr, durch einen zwangsweisen Stopp der Materialzulieferungen abgewürgt zu werden. Bis heute hat sich an dieser Situation nichts geändert. Die Justiz hat die Besetzung für illegal erklärt. Die Polizei hat den Betrieb am 24. November angegriffen, einige Maschinen und einen Teil der schon gefertigten Waren zerstört. Danach haben die ArbeiterInnen die Fabrik wieder besetzt. Zanon wurde schon vor Brukman besetzt. Hieran beteiligten sich die 330 ArbeiterInnen des Werks in Neuquén. 8 Nachdem Anfang Oktober 2001 die Schließung des Betriebes verkündet wurde, 9 entschieden sie sich für Besetzung und Weiterführung der Produktion. Diese Aktion erstreckte sich über 60 Tage. Parallel dazu nehmen sie an Piqueter@-Aktionen, Streiks in ihrer Region sowie landesweiten Bewegungen und Versammlungen teil. Mehrere von ihnen werden bei Auseinandersetzungen mit der Polizei verletzt, gut 20 müssen nach dem 30 November, weitere 60 im Dezember einige Zeit im Knast verbringen. Wie bei Brukman fordern auch die Zanon-ArbeiterInnen - und hier besonders die GewerkschaftsvertreterInnen der SOECN (Sindicato de Obreros y Empleados Ceramicas de Neuquén) - die Verstaatlichung des Unternehmens unter Arbeiterkontrolle sowie ohne Arbeitsplatz- und Lohnverluste. Es gibt eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Fall Brukman: Auch hier arbeiten die Unternehmer, die Lokalregierung (unter Gouverneur Sobisch) und die nationale Gewerkschaft (FOECRA: Federacion de Obreros y Empleados Ceramistas de la Republica Argentina) Hand in Hand 10 gegen die ArbeiterInnen, allerdings auch gegen die SOECN, die örtliche Branchen-Gewerkschaft. Die Forderung nach gewerkschaftlicher Demokratie gegen die bösen Bürokraten wird in dieser Situation stärker. Bei den letzten Betriebsratswahlen gewann die von Godoy geführte Liste die Stimmenmehrheit (212 zu 115 Stimmen), die in Opposition zur Bürokratie steht. Am 2. Dezember öffneten die ArbeiterInnen die Fabriktore für andere ProletarierInnen, um eine lokale Vollversammlung abzuhalten.
Die Besetzungen, die nicht zufällig an die von Lip in Frankreich vor gut 30 Jahren erinnern, finden mit dem völlig verkehrten Ziel »Verstaatlichung« statt. Die ständigen Appelle an den schlimmsten Feind der ArbeiterInnen - den Staat - sind ein schlechtes Omen für die Zukunft dieser Bewegung. Für längere Zeit sein eigener Ausbeuter zu werden, ist wirklich nicht erstrebenswert. Die argentinischen ArbeiterInnen haben für diese Erfahrung schon teuer bezahlen müssen. Die durch den Peronismus eingeführte Mitbestimmung endete mit einer der schlimmsten Niederlagen der ArbeiterInnen in der Nachkriegszeit. 11 Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, daß diese Erfahrungen isoliert bleiben und sich darauf beschränken, einfach die »soziale Unverantwortlichkeit« der Bosse anzuprangern. Nach Angaben der Zeitschrift Enfoques alternativos 12 waren im September 2002 insgesamt 73 Betriebe mit 4603 ArbeiterInnen besetzt. Die wichtigsten unter ihnen sind die Zuckerfabrik Ingenio La Esperanza (600 Beschäftigte), die Gefrierfleischfabrik CT Yaguané in La Matanza (480) sowie die Traktorenfabrik CT Las Varillas in Cordoba (280). Es handelt sich also um wenige Unternehmen, an deren Besetzung eine verschwindend kleine Minderheit der argentinischen Arbeiterklasse beteiligt ist. 13 Dadurch wird die Ineffektivität dieser Kampfform für das Proletariat in seiner Gesamtheit deutlich. Trotzdem sind in solchen Kämpfen und Arbeiterorganisierungen immer die Profis dabei, die in den Staat integrieren und die inneren Grenzen dieser Aktionen verschärfen wollen. Deutlich wurde das in den Forderungen, die am 24. August letzten Jahres auf der landesweiten Versammlung der BetriebsbesetzerInnen im Werk Savio SA in Grissinópoli 14 aufgestellt wurden. Für die TeilnehmerInnen des Treffens sind »die Betriebe lebensfähig ... und (wurden) alleine durch die Gier und die Unfähigkeit der Bosse in die Pleite getrieben«. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus selber wird kaum in Frage gestellt, nur die Bosse werden angeklagt. Vom Staat wird verlangt, »die selbstverwalteten Betriebe als Lieferanten zu bevorzugen«.Vom selben Staat, der mit allen Mitteln jegliche unabhängige Aktion der ArbeiterInnen zu unterdrücken oder aufzusaugen versucht!
Wenn ArbeiterInnen ihre eigenen Unternehmer und Chefs werden und mit den gleichen Werkzeugen die gleichen Waren herstellen (wenn auch unter angenehmeren Bedingungen), ändert das nichts an den Grundbedingungen der Ausbeutung. Falls dieses Modell sich durchsetzt, wird sich die Arbeitsteilung früher oder später 15 erneut in den Formen des Klassenantagonismus, der gegensätzlichen Interessen ausdrücken. Mit den Unterschieden in der Lohnhöhe wird sich eine neue Führungsschicht herausbilden, welche die alten Unternehmer ersetzt. Das kapitalistische Unternehmen hat dann zwar die Eigentümer aber nicht seine Grundlagen ausgewechselt. Alles in allem: Im Rahmen der verallgemeinerten Warenproduktion gibt es nicht einschätzbare Hindernisse, die der Ausweitung dieser Erfahrungen im Wege stehen. ArbeiterInnen aus der Konsumgüterindustrie haben für einige Zeit die Möglichkeit, sowohl Lagerbestände zu verkaufen als die Produktion unter eigener Regie fortzusetzen, aber die ArbeiterInnen, die mit der Fertigung von Produktionsmitteln, von Stahl etc. befasst sind, befinden sich in einer anderen Situation. Die CTD ANIBAL VERÓN oder: Die Grenzen des BasiskultsDie CTD (Coordinadora de Trabajadores Desocupados) Anibal Veron ist eine Basisorganisation, die von über 7000 Personen hauptsächlich in der südlichen Region des Großraums Buenos Aires (Städte wie Lanús, Solano, Almirante Brown etc.) getragen wird. Offiziell gegründet wurde sie Ende Dezember 2001 nach dem Auseinanderbrechen der Koordination MTD Teresa Rodriguez (gegründet im Mai 1997), die 2001 aus dem MTR (Movimiento Teresa Rodriguez) hervorging. Die CTD (Name der landesweiten Organisation) versteht sich als »basisdemokratisch« mit einem Minimum an hierarchischen Strukturen. 16 Sie lehnt Wahlbeteiligung, Gewerkschaften und politische Parteien ab - auch jene der Linken. 17 In ihr sind vierzehn lokale MTD (Movimiento de Trabajadores Desocupados) zusammengeschlossen. Die CTD befasst sich mit den alltäglichen Problemen der Arbeitslosen, der Schwarz- und der GelegenheitsarbeiterInnen. Seit dem Sommer des Jahres 2000 18 hat sie ein Netz von Werkstätten, Bäckereien, Kantinen und Schustereien aufgebaut, sie organisieren den Bau von Gebäuden, Bibliotheken, Versammlungslokalen und organisieren in öffentlichen Parks Kulturveranstaltungen. Es gibt sogar eine Gemeinschaftsapotheke. Da die Arbeitslosigkeit in Argentinien extrem hoch ist, finden sich in der CTD eine wachende Zahl von beruflichen Fertigkeiten wieder: Elektriker, Klempner, ArbeiterInnen der Gaswerke, Mechaniker etc.. In La Fe, einem Stadtviertel von Lanus, haben sie eine Ziegelei aufgebaut, in der 30 Leute täglich 3000 Teile produzieren. In der Bäckerei von Solano backen 20 ArbeiterInnen in täglich 4 Schichten rund um die Uhr und verteilen 200 kg Brot zusammen mit einem Glas Milch an 150 Kinder. Weil sie das Mehl kaufen müssen, sind sie ansonsten gezwungen, das Brot zu einem Preis von 1 Peso pro Kilo abzugeben. Die erwirtschafteten Überschüsse verbleiben nicht bei den Bäckern, sondern werden zur Finanzierung anderer Projekte verwendet. Jenseits solcher Aktivitäten zur Resozialisierung der immer mehr isolierten Arbeitslosen organisiert die CTD Straßenblockaden, um Forderungen nach der Bereitstellung von Lebensmitteln, Gesundheitsversorgung, kostenlosen Medikamenten, aber auch nach Bargeld gegenüber den verschiedenen Behörden (Stadtverwaltung, Provinzregierung) durchzusetzen. Das Geld wird entweder direkt übergeben, als »Gegenleistung« für den Abbruch einer Straßenblockade, oder aber im Rahmen von »Entwicklungsplänen« ausgezahlt. Diese Pläne für »arbeitslose Haushaltsvorstände« wurden von De la Rua erlassen und von Duhalde fortgesetzt: Für eine täglich 4-stündige »gemeinnützige Arbeit« gibt es 150 Lecops (1 Lecop entspricht 0,8 Pesos, also ungefähr 0,2 $). Die Verhandlungen mit den Behörden werden durch den MTD grundsätzlich nur kollektiv geführt - jegliche Form der Delegation wird damit verhindert. Übrigens verweigert die Organisation die Ausführung der gemeinnützigen Arbeiten - schließlich habe nicht der Staat, sondern die Piqueter@s selber darüber zu entscheiden, wie die Unterstützungsgelder zu verteilen sind. Die Behörden überweisen deshalb die Gelder auf Bankkonten, und die EmpfängerInnen sind damit beschäftigt, diesen hinterherzulaufen. Das nimmt Zeit in Anspruch - mit dieser Taktik soll ihre Kampfkraft geschwächt werden. Das ist nicht der einzige Versuch, die Piqueter@s zu demoralisieren. Der Staat hat zusätzlich »Punteros« eingesetzt, eine Art offizieller »Stadtteilbevollmächtigter«. Diese sollen über die Sozialpläne entscheiden. Sie versuchen, über die Vergabe der Gelder die gemeinschaftlichen Forderungen und Aktionen zu beeinflussen. In der Stadt Florencio Varela 19 ist der MTD z.B. in elf Stadtteilversammlungen organisiert, die sich einmal wöchentlich treffen. Aufgrund ihrer Stärke mußte die Organisation hier eine Art kommunaler Struktur aufbauen, die von den VertreterInnen dieser elf Versammlungen getragen wird. Diese sind jederzeit absetzbar. Über diesen Stadtteilversammlungen gibt es eine landesweite Struktur, die auf den selben Prinzipien aufgebaut ist. Die CTD gibt ein landesweites, vierseitiges Bulletin heraus. Jede Stadtteilversammlung veröffentlicht ihrerseits monatlich ein zweiseitiges Mitteilungsblatt. Allerdings hängt das Erscheinen solcher Publikationen auch von den jeweiligen Ereignissen ab. Was auch immer daran zu kritisieren ist, so sollten wir ihre Bedeutung und die Bemühungen, die hinter ihnen stehen, nicht unterschätzen, ganz besonders wegen des in Argentinien gerade bei den Ärmsten anwachsenden Analphabetismus. Anhand dieser vielfältigen Aktivitäten wird deutlich, daß es sich bei der CTD nicht lediglich um eine Art karitative Organisation handelt, die Hilfe beim alltäglichen Überleben leistet oder Arbeitslose resozialisiert. Sowohl politische Überlegungen als auch der Wille zu unabhängigen Aktionen bestimmen die CTD. Als der MTD von Almirante Brown im August 2002 ein ungenutztes Gelände besetzte, um dort ein »Kommuniaktionszentrum« aufzubauen und Gärten anzulegen, alarmierte die Stadtverwaltung die Polizei. Die 300 BesetzerInnen sollten geräumt werden. Innerhalb einer halben Stunde versammelten sich 1000 Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft, dazu kamen noch einmal 6000 Leute aus der weiteren Umgebung. Sie zwangen die Polizei, sich zurückzuziehen. Seitdem ist nur ein Mannschaftswagen in der Nähe des Geländes postiert. Die CTD nimmt auch an landesweiten Demonstrationen teil und ist dabei darauf bedacht, ihre Unabhängigkeit zu bewahren: eine Haltung, die sich aus einem gesunden Mißtrauen sowohl gegenüber den Gewerkschaften als auch gegenüber den verschiedenen Organisationen der Linken und Linksradikalen speist. Die CTD ist auch an Solidaritätsinitiativen für die ArbeiterInnen von Brukman beteiligt. Diego Santillan und Maximiliano Kostesky, die von der Polizei am 26. Juni 2002 nahe der Pueyreddon-Brücke umgebracht wurden, waren Mitglieder der Organisation.
Wir befürchten, daß die CTD nach dem Muster von einigen proletarischen Organisationen, die sich nicht ohne Probleme und Widersprüche darum bemühen, die politische Autonomie der ausgebeuteten Klasse zu verkörpern, ein Beispiel dafür ist, wie der kollektive Widerstand nur sehr zögerlich z.B. auf die Wohnungsfrage ausgeweitet wird. In Buenos Aires stehen zahllose Wohnungen leer, gleichzeitig werden die Elendsviertel immer größer. Trotzdem kommt es nur zu sehr wenigen Hausbesetzungen. Zur Zeit beschränkt man sich darauf, die Sanitäranlagen in den alten, in der peronistischen Zeit errichteten Sozialwohnungen zu erhalten oder baut sogar selber neue Häuser. Andererseits werden nicht nur bei der CTD sondern in vielen Arbeitslosenorganisationen sehr ernsthaft Fragen der Selbstverteidigung erörtert: gegen Polizei, Dealer, oder allgemeiner gesagt: gegen das organisierte Verbrechen. Mit vollem Recht bestehen die Menschen darauf, ihren Alltag gegen einen weiteren Verfall zu schützen. In den proletarischen Vierteln von La Mantanza haben die EinwohnerInnen Patrouillen organisiert, die die Verkäufer der chemischen Todesdrogen ohne Einbeziehung der Polizei verjagen. Allerdings läßt sich allgemein eine ausgeprägte Selbstbezogenheit feststellen. Das zeigt sich am geringen Interesse daran, was in anderen Teilen der Welt vor sich geht. Davon ausgenommen scheinen nur die eigenen Genossen und die Situation in den Nachbarländern Uruguay und Brasilien zu sein. Leider fehlt dieser entschiedene Internationalismus nicht nur in Argentinien ... Über den Argentinazo hinausgehen ...Die Aufstände vom 19. und 20. Dezember kamen nicht aus heiterem Himmel. Wie wir im ersten Rundbrief von Mouvement Communiste erklärt haben, waren sie vielmehr das Ergebnis langjähriger Kämpfe, Streiks, Straßensperren und Aufstände, die im »Santiaguenazo« 1993 begonnen haben. Anzahl und Intensität dieser Bewegungen haben im Jahr 2001 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Nichtsdestotrotz stellt der »Argentinazo« einen qualitativen Sprung dar, weil er sich gleichzeitig aufs gesamte Land ausbreitete und eine riesige Masse von Menschen aus allen sozialen Schichten des Landes miteinbezog. Auf die Breite und Unkontrollierbarkeit der Bewegung (erinnern wir uns: es gab 35 Tote, Hunderte von Verletzten und einige tausend Festnahmen) reagierte die Regierung sehr schnell: De la Rua warf den Aufständischen schon nach zwei Tagen sein Amt vor die Füße, sein Nachfolger Saà folgte ihm kurze Zeit später, um den Weg für Duhalde freizumachen. Anders ausgedrückt: Man simulierte eine Regimekrise, der wütenden Bevölkerung wurde die Staatsspitze geopfert, um so das Wesentliche, Verwaltungsapparat und Militär, zu retten. Trotzdem kann diese Tatsache allein nicht den Rückgang der Bewegungen erklären, der mit der Amtsübernahme Duhaldes begann. Der Rückzug hat Gründe, die im Inneren der Bewegung selbst zu suchen sind. Zunächst wird der klassenübergreifende Charakter der Bewegung nicht dadurch verändert, daß die Aktionen hauptsächlich von den kämpferischsten Teilen des argentinischen Proletariats getragen wurden. Der Mittelklasse ist es vor allem in der Hauptstadt gelungen, die Stoßrichtung der Proteste auf die charakteristisch klassenübergreifende Forderung nach Auszahlung der blockierten Gelder 20 und das Anprangern von Kriminalität und Korruption umzulenken. Selbst wenn in der Mittelschicht die Sympathien für die Armen und die Arbeitslosen größer geworden sind, kämpfen ihre ProtagonistInnen doch nur für die Rückkehr ihres »goldenen Zeitalters« - die schönen Jahre unter Menem. Einige werden einwenden, daß die Verschärfung der Krise einen gehörigen Teil dieser Zwischenschichten ins Proletariat gestürzt hätte. Diese Betrachtungsweise ist gleichzeitig richtig und falsch. Es stimmt, daß sich die Lebensbedingungen für die gesamte Gesellschaft brutal verschlechtert haben. Aber es ist falsch, davon auszugehen, daß sich diese Verschlechterung im völligen Verschwinden dieser Schichten niederschlägt. In der Mehrheit konnten sie ihre Position im Gefüge der sozialen Arbeitsteilung sichern, auch wenn selbst bei ihnen Zweit- und Drittjobs mittlerweile die Regel sind. Sie haben kein Bewußtsein davon entwickelt, daß sie bei einem historischen Kampf der Arbeiterklasse dabei sind, das gilt auch für die ArbeiterInnen selber.
In den »cacerolazos« ging es lediglich um die Freigabe der Bankkonten - auch wenn einige der Demonstrationen sich zusätzlich gegen die Polizeigewalt gewandt haben. Die vielgerühmten Stadtteilversammlungen in Buenos Aires haben sich verlaufen. Sie bleiben hauptsächlich auf die Wohngebiete der Mittelschicht beschränkt. Im Durchschnitt beteiligen sich lediglich 50 Personen an ihnen, von denen die Hälfte aus linken Organisationen kommt. Als Konsequenz aus dem Ende des »Corralito« beteiligte sich die Mittelschicht auch nicht an den Demonstrationen zum ersten Jahrestag des »Argentinazo«. Die ArbeiterInnen ihrerseits sind mit einer neuen Situation, dem Zusammenbruch großer Teile des Produktionssystems, konfrontiert. Es entsteht eine tiefe Spaltung zwischen denen, die über Arbeitsplätze in den noch existierenden Unternehmen verfügen, und denen, die Opfer der Firmenpleiten geworden sind. So entsteht die klassische Trennung in LohnempfängerInnen und Arbeitslose. Die Streiks des Jahres 2002 betrafen nur Unternehmen, die von Schließung bedroht sind oder schon geschlossen wurden. Vielleicht ist das eine der schwerwiegendsten Konsequenzen aus dem Scheitern der zweiten Besetzung der FIAT- Fabrik in Ferreya im Jahre 1997. Dieser Betrieb existiert heute nicht mehr. Die Niederlage in diesem Werk, einem Symbol der Klassenkämpfe der 60er und 70er Jahre, hat sicherlich dazu beigetragen, den Kampfeswillen empfindlich zu schwächen. Dazu kommt, daß der harte Alltag einen großen Teil der proletarischen Energien an die pure Reproduktion des Lebens bindet. Schließlich gibt es enorme Verwirrrungen und viele politische Fehler. Der wichtigste ist der starke Patriotismus fast der gesamten Linksradikalen des Landes; und es herrscht die vollkommen berechtigte Angst, daß es zur Wiederholung einer Repression wie in den Jahren 1976 bis 1982 kommt. JedeR hat in Erinnerung, daß diese Periode der Militärdiktatur mit 30 000 Opfern aus dem Proletariat bezahlt wurde. Die Sorge, daß es zu einer Konfrontation mit dem weiterbestehenden, effektiven Repressionsapparat kommen könnte, war in allen Gesprächen, die wir mit revolutionären AktivistInnen in Argentinien geführt haben, präsent. Selbst eine kämpferische Organisation wie die CTD beschränkt illegale Massenkämpfe aus taktischen Gründen, aus Angst, das so schwer Erreichte wieder zu verlieren. Beerdigung erster Klasse auf Grundlage der ErinnerungUm an den »Argentinazo« zu erinnern, hatten alle piqueter@ - Organisationen und die Linksradikalen eine landesweite Demonstration in Buenos Aires organisiert, der ein Marsch durch die wichtigsten Provinzstädte des Landes vorausging. Resultat: Auf der wichtigsten Demonstration, jener der Piqueter@-bewegung Federacion Tierra y Vivienda (die der CTA nahesteht), nahmen am 19. Dezember 2002 nur 10 000 Menschen teil. Am darauffolgenden Tag bildete sich ein weitere Demonstrationszug, diesmal beteiligten sich mindestens 50 000 Leute. 21 Dieser Jahrestag ist eher ein Datum für die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen als ein wirklicher Ausdruck der Bewegung. 22 Auf den lokalen Demonstrationen vom 7. November hatten sich schon genau so viele Menschen versammelt wie auf denen vom 19. und 20. Dezember. In dieser Entwicklung wird deutlich, daß das Programm, das hinter einer Parole wie »¡Que se vayan todos!« steht, zur Sackgasse werden kann. Durch die Abwesenheit starker und unabhängiger ArbeiterInnenkämpfe macht die Ablehnung der korrupten PolitikerInnen Platz für neue PolitikerInnen - egal, ob diese aus den Reihen der alten Parteien oder aus dem Schoß der Zivilgesellschaft kommen. Als Krönung dieser Entwicklung, die für die unabhängige proletarische Bewegung nach dem Argentinazo immer ungünstiger wird, hat die Regierung vom »bösen« IWF die Rückzahlung eines Teils der Schulden gestundet bekommen. 23 Heute gezwungen, eine Übereinkunft mit der internationalen Finanzinstitution zu unterzeichnen, 24 hat das Regime gerade verkündet, daß die Zentralbank nicht mehr zu Gunsten des Peso eingreifen werde. Damit wird ein zusätzlicher Schritt hin zur völligen Freigabe des Wechselkurses gemacht, die der IWF eingefordert hatte. Brüssel-Paris, 6. Januar
Fußnoten:
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