10.05.2004 | |
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Brüchige FestungenCharles Reeve in Oiseau-Tempête Nr. 10 - Frühjahr 2003 Das Desinteresse an Wahlen und an »Politik« überhaupt ist nicht auf Frankreich beschränkt. Überall in Europa sind die Politiker und die klassischen Parteien diskreditiert, und überall nehmen populistische Diskurse zu - trotz der Kampagnen, die moralisierend auf die Wähler einwirken wollen. Es wäre falsch, darin Anzeichen für ein baldiges Scheitern des demokratischen Systems zu sehen. In den USA kann sich das System trotz massiver Stimmenthaltung mit diesem Desinteresse arrangieren. Umgekehrt ist eine plötzliche demokratische Aufwallung nicht auszuschließen. Die vielen Stimmen für rechtsradikale Parteien drücken selbst einen Glauben an Institutionen aus. In Frankreich ist es ganz klar die Krise der klassischen Linken, die die extreme Rechte zur Geltung bringt. Themen der extremen Rechten sind inzwischen breit im gesellschaftlichen Denken verankert und zwar aufgrund der Verschlechterung des Lebensstandards der unteren Klassen und der Zukunftsangst. Politik heißt heute staatliche Repression und Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund der ökonomischen Krise. Die Ausgeschlossenen seien selbst schuld, das Elend wird kriminalisiert. Alle traditionellen politischen Formationen, von rechts bis links, stehen hinter dieser Politik, sie unterscheiden sich nur in Nuancen. 1) EU und NationalstaatSeit Mitte der 70er Jahre hat sich die kapitalistische Restrukturierung in den europäischen Gesellschaften beschleunigt, mit wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen, die sich mehr oder weniger destabilisierend auf die nationalen Kapitalismen auswirken. Für die Länder der Peripherie bedeutete die Konstituierung Europas die vollständige Integration ihrer Ökonomien in den Kern des europäischen Kapitalismus, eine übermäßige Spezialisierung ihrer Produktion, sogar die fast völlige Auflösung ihres nationalen Kapitalismus. Für die großen National-Staaten war derselbe Prozeß von einer zunehmenden Internationalisierung ihrer Ökonomien begleitet. Frankreich ist heute das viertgrößte Exportland der Welt, der sechstgrößte Kapitalimporteur und der zweitgrößte Investor. Diese schnelle Internationalisierung zwang den französischen Kapitalismus dazu, den Protektionismus aufzugeben, und den kapitalistischen Verwertungsprozess den Spielregeln der weltweiten Konkurrenz unterzuordnen. [...] Die verschärfte Konkurrenz im Gefolge der europäischen Vereinigung bedeutete weder die Auflösung der nationalen Kapitale noch der von den verschiedenen Staaten vertretenen geopolitischen Interessen. Das konnte man sowohl an den Konflikten in Bezug auf die des Balkan-Protektorats sehen als auch an der europäischen Uneinigkeit über eine Intervention im Irak. Kurzfristig ist kein Verschwinden der Nationalstaaten in Sicht, aber die Stärkung der politischen Institutionen Europas und seiner Fähigkeit, bei globalen Konflikten Einfluss zu nehmen, scheint untrennbar verbunden mit der Verteidigung der Interessen der europäischen kapitalistischen Zentren. Die starken Mobilisierungen gegen den Irakkrieg können als Ausdruck eines aufkeimenden europäischen Nationalgefühls gegenüber den USA interpretiert werden, als Legitimation der überstaatlichen Institutionen. Ebenso spielen die gesellschaftlichen Konsequenzen eines »schrankenlosen« Kapitalismus, die im Widerspruch zur Erhaltung des sozialen Friedens innerhalb der alten Nationalstaaten stehen werden, diesem nationalistischen Gefühl in die Hände. Die europäischen Institutionen werden als Bollwerk gegen die »Übel« der kapitalistischen Internationalisierung gesehen. [weiter...]
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