10.05.2004 | Brüchige Festungen – Teil 2 |
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2) Kapitalistische Umstrukturierung - Bankrott der alten ArbeiterbewegungDie gegenwärtige Umstrukturierung ist eine Antwort auf die Schwierigkeiten des Kapitalismus der gemischten Ökonomie. Nach dem klassischen keynesianischen Schema soll der Staat Einfluss nehmen auf die »effektive Nachfrage« und den Rückgang der produktiven Investitionen seitens der Kapitalistenklasse ausgleichen. Für Keynes ist die staatliche Intervention »das einzige Mittel, eine völlige Zerstörung der wirtschaftlichen Institutionen zu vermeiden« und so den sozialen Frieden zu bewahren. Diese voluntaristische Konsumpolitik soll über Budgetmittel finanziert werden, indem der Staat vorhandene oder zukünftige (das Defizit!) Profite des Privatsektors anzapft. In der Wiederaufbauperiode nach dem Zweiten Weltkrieg war dieser staatlich gelenkte Wirtschaftsaufschwung erfolgreich. Seit die Kapitalrentabilität abnimmt, ist die Enteignung von privaten Profiten durch den Staat zur Belastung geworden. Die Intervention verwandelte sich vom Stabilisierungsfaktor zum Destabilisierungsfaktor, zu einem zusätzlichen Faktor der Verlangsamung der Wirtschaft. Die neoliberale Strömung schöpft ihre Kraft aus der Reaktion der Privatkapitalisten auf den Staatsinterventionismus. Auch wenn Deregulierung und Kostenreduzierung jetzt die neue Orientierung bestimmen, bleiben doch wichtige Wirtschaftsbereiche, wie der militärindustrielle Komplex und die Landwirtschaft von der staatlichen Nachfrage abhängig. Die andauernden öffentlichen Defizite beweisen, dass trotz der neoliberalen Propaganda die staatlichen Aufträge nicht zurückgegangen sind. Die neoliberale Richtung setzt nicht Markt gegen Staat, sondern sorgt staatlicherseits für die Deregulierung des Arbeitsmarkts. [...] Sie versucht, »die Kosten zu reduzieren« durch Senkung der Kosten der Arbeit (direkte und indirekte Löhne) und »die Produktivität zu erhöhen« durch Intensivierung der Arbeit. Die Flexibilität der Produktion macht die flexible Arbeit zum allgemeinen Standard. Die Aufspaltung der großen Produktionszentren und Unternehmen, der massive Rückgriff auf Zulieferfertigung sind die Bedingungen der Reorganisation der Arbeit und verstärken die Prekarität. Die direkte Konsequenz ist die Zerschlagung der bisherigen Arbeitsregeln, die Zunahme von Umfang und Tempo der Arbeit und das Anwachsen der Massenarbeitslosigkeit. In allen Industriegesellschaften steigen die Ausbeutungsraten, verarmen die ArbeiterInnen und wächst die soziale Ungleichheit. In den Vereinigten Staaten hat die Konzentration des Reichtums heute wieder das Niveau vom Anfang des 20. Jahrhunderts erreicht, und in Frankreich ist der Anteil der Löhne am produzierten Reichtum in den Jahren, in denen die Linke an der Macht war, immer weiter gesunken. In Frankreich begann Mitte der 70er Jahre der Zerfall der alten proletarische Gemeinschaft. Hunderttausende Entlassene wurden in Arbeitslosigkeit oder prekäre Arbeit abgeschoben; d. h. definitiv ausgegrenzt. Damals führte die sozialistische Regierung das Unterstützungssystem RMI ein (»revenue minimum d'insertion«, Mindesteinkommen zur Eingliederung) . Wohnviertel, Industriestädte, ganze Regionen werden zu Katastrophengebieten, wo Perspektivlosigkeit und Parallelökonomie die Alltagsgewalt nähren. Drei Viertel der neugeschaffenen Arbeitsplätze sind inzwischen prekär. Diese rasche Zunahme und die Schwächung des Kündigungsschutzes vertiefen die bestehenden Spaltungen nach Alter, Geschlecht, Qualifikation, Dauer der Betriebszugehörigkeit oder Nationalität. Sie verstärken die Atomisierung, die Individualisierung und die Konkurrenz unter den Arbeitern. Die kapitalistische Umstrukturierungsbewegung ist auf den Widerstand der Arbeiterklasse in der Großindustrie geprallt. Von den großen Streiks in der Hüttenindustrie (Ende der 70er Jahre) bis zu den verzweifelten Widerstandskämpfen in vor der Schließung stehenden Betrieben vor kurzem (von Celatex bis Moulinex und Metaleurop) wird ein roter Faden sichtbar. Die gewerkschaftlichen Organisationen bescheinigten sich Machtlosigkeit und kapitulierten, sie beugten sich der allgemeinen Durchsetzung neuer Ausbeutungsbedingungen und die heftigeren Widerstandskämpfe wurden zerschlagen. Die Bedrängnis, in der sich heute die Arbeitswelt befindet, ist nicht zu trennen von diesem Bankrott der alten Arbeiterbewegung. [...] Die Krise der Arbeiterbewegung ist die Krise politischer Prinzipien, auf denen der Zusammenhalt der Arbeitergemeinschaften der Nachkriegszeit und ihrer Organisationen, Parteien und Gewerkschaften gründete, genauer, es ist die Krise der demokratischen Repräsentationsformen, die nach dem Prinzip der permanenten Delegation von Macht, nach dem Prinzip des Klassenkonsenses funktionierten. Die Glaubwürdigkeitskrise der Gewerkschaftsbewegung drückt ein Misstrauen gegenüber dieser Form von Vertretung aus. Sie ging der Krise der politischen Parteien voraus und kündigte sie an. Diese Krise kann jedoch nicht gleichgesetzt werden mit dem Ende der Klasse der Ausgebeuteten und noch weniger mit dem Ende der Ausbeutung der Arbeit, die das Fundament des kapitalistischen Systems ist. Wenn man die Analyse auf die alten industrialisierten Länder beschränkt, ignoriert man das Ausmaß der Proletarisierung der Welt, die Schaffung immenser Lohnarbeitszonen in Asien, Lateinamerika und anderswo. Dieses neue historische Faktum ist von der laufenden kapitalistischen Umstrukturierung nicht zu trennen. »Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben. Jede Grenze erscheint als zu überwindende Schranke«, stellt schon Mitte des 19. Jahrhunderts eine geistreiche Kritik des Kapitalismus fest. Die derzeitige Umstrukturierung folgt der Logik der Bewegung des Kapitals auf der ständigen Suche nach den niedrigsten Produktionskosten, den geringsten Arbeitskosten. [zurück...] [weiter...]
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