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Karl Heinz Roth:

Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven

Zusammenfassung der ersten Ergebnisse – Stand: 21.12.08

Einleitung

Wir bewegen uns in eine weltgeschichtliche Situation hinein, in der alle Weichen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens neu gestellt werden. Für meine Generation wird es nach den Jahren 1967 bis 1973 der zweite Epochenumbruch sein. Alle wichtigen Fakten und Indikatoren der letzten Wochen weisen darauf hin, dass eine Weltwirtschaftskrise begonnen hat, die schon jetzt das Ausmaß der Krise von 1973 und der Zwischenkrisen von 1982 und 1987 überschreitet und sich an die Dimensionen der Weltwirtschaftskrise und der anschließenden Depression von 1929 bis 1940 annähert.

Wie sollen wir auf diese gigantische Herausforderung antworten? Das ist inzwischen zur entscheidenden Frage geworden, und deshalb habe auch ich ein gerade in der Werkstatt befindliches Traktat, in dem ich auf die Kritik an meinen 2005 veröffentlichten Hypothesen über den »Zustand der Welt« antworten wollte, völlig neu konzipiert. Ich präsentiere meine bis jetzt erarbeiteten Untersuchungsergebnisse und Überlegungen schon im unfertigen Zustand eines Exposés, denn sie müssen im laufenden Dialog noch vor der Veröffentlichung des Buchs überprüft, korrigiert und sicher auch erweitert werden. In sie sind auch schon die ersten Diskussionsbeiträge einer Veranstaltung eingegangen, die am 27. November in der Schorndorfer Manufaktur stattfand, aber auch die Ergebnisse einer Internetdebatte von Wildcat, eines Seminars der Interventionistischen Linken vom 13. Dezember und der Dialoge mit Einzelpersonen aus meinem Freundeskreis. Dadurch konnten viele Schwachstellen, Unklarheiten und Defizite überwunden werden; auf einige gewichtige Einwände kann ich aber aus Gründen der Arbeits- und Zeitökonomik erst im Rahmen des Buchmanuskripts eingehen, und dafür bitte ich um Nachsicht. Ich hoffe, dass meine Thesen trotzdem ausreichen, um die Grundlinien des analytischen Ansatzes und meiner konzeptionellen Vorschläge klar zu machen. Ich danke allen, die sich auf die Debatte einließen: Sie haben mir nicht nur mit ihrer Kritik weitergeholfen, sondern mir auch Mut gemacht, denn einen derart breiten, solidarischen und konstruktiven Dialog habe ich seit Jahren nicht mehr erlebt.


1. Die neue Weltwirtschaftskrise

1.1 Der bisherige Ablauf

Die erste Weltwirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts begann im Verlauf des Jahrs 2006 als Überkapazitäts- und Strukturkrise in der Automobilindustrie und als Immobilienkrise in den USA, Großbritannien, Irland und Spanien. Sie beendete einen beispiellosen sechsjährigen globalen Boom, der zu einer kaum mehr für möglich gehaltenen weiteren Expansion des Kapitalverhältnisses mit allen ihren klassischen, aber auch einigen neuartigen spekulativen Begleiterscheinungen geführt hatte. Die überhöhten Preise für Häuser, Eigentumswohnungen und gewerbliche Immobilien begannen rapide zu fallen, und dieser Wertverfall machte die durch die Immobilien besicherten Hypotheken und Hypothekenderivate zunehmend notleidend. Hinzu kamen markante Absatzeinbrüche bei den drei US-amerikanischen und einigen europäischen und japanischen Autokonzernen: Sie signalisierten den Beginn einer weltweiten Branchenkrise im kapitalintensivsten Sektor der industriellen Produktion.

Seit der Jahreswende 2006/2007 griff die Krise auf den Finanzsektor über. Der Absturz der Häuser- und gewerblichen Immobilienpreise weitete sich zu einer weltweiten Hypothekenkrise aus. Regionale Hypothekenbanken gerieten durch massive Abschreibungen in die Verlustzone, und im Juni 2007 musste die amerikanische Investmentbank Bear Stearns erstmalig zwei ihrer Hedge Funds liquidieren. Da die notleidend gewordenen amerikanischen Hypothekenkredite zu erheblichen Teilen in undurchsichtige Kreditderivate (Collateralized Debt Obligations = CDO) verpackt und über die USA hinaus weltweit weiterverkauft worden waren, lösten ihr Preisverfall und der damit verbundene massive Anstieg der Risikoprämien eine globale Kettenreaktion aus, die sich mit den Hypothekenkrisen in Großbritannien, Irland und Spanien überschnitt. Die Subprime-Krise erreichte im Sommer 2007 ihren ersten Höhepunkt. Ihr globaler Charakter kam schlagartig dadurch zum Ausdruck, dass die ersten Stützungsaktionen für kollapsbedrohte Banken an der Peripherie des Geschehens stattfanden, deren Schieflagen aber alle ihren Ursprung in den angelsächsischen Krisenzentren hatten, so etwa die Illiquidität der Düsseldorfer Internationalen Kreditbank (IKB) oder der Sächsischen Landesbank (SachsenLB), aber auch die massiven Abschreibungen und Geschäftsverluste der schweizerischen Universalbank UBS.

Seit dem Sommer 2007 weitete sich die Hypothekenkrise in fünf bis sechs Schockwellen zur weltweiten Kreditkrise aus und griff bis September 2008 auf das gesamte Bankwesen über. Im März 2008 kollabierten die US-amerikanische Investmentbank Bear Stearns und die britische Hypothekenbank Northern Rock. Dabei kam es im Anschluss an die ersten deutschen Rettungsaktionen vom Sommer des Vorjahrs erstmalig auch in England und den USA zu massiven Staatseingriffen: Northern Rock erhielt eine umfassende staatliche Stützungsgarantie, und Bear Stearns wurde von der Universalbank JP Morgan Chase übernommen, während die Federal Reserve Bank (Fed), die Zentralnotenbank der USA, die Ausgliederung und Refinanzierung der notleidend gewordenen Wertschriften organisierte. Eine weitere Schockwelle folgte dann im September: Zu Beginn des Monats standen die beiden größten Hypothekenförderbanken der USA, Fannie Mae und Freddie Mac, vor dem Kollaps und konnten nur durch eine umfassende staatliche Rettungsaktion aufgefangen und rekapitalisiert werden. Darauf folgte zur Monatsmitte der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers, während die Investmentbank Merrill Lynch durch einen Notverkauf an die Universalbank Bank of America gerettet wurde. Aber nicht nur die Investmentbanken waren tödlich getroffen und verschwanden in den folgenden Monaten von der Bildfläche, indem sie sich in Geschäftsbanken umwandelten oder mit Geschäftsbanken fusionierten. Auch führende Unternehmen der Versicherungsbranche waren in ihrer Weiterexistenz bedroht, wie der faktische Ruin des größten US-amerikanischen Versicherungskonzerns American International Group (AIG) eine Woche später zeigte. Bei der AIG waren vor allem spezifische Kreditderivate (Credit Default Swaps = CDS) notleidend geworden. Mit CDS versichern sich weltweit Käufer von Anleihen gegen die Ausfallsrisiken der Emittenten in außerbörslichen bilateralen Verträgen. Da es keine zentrale Gegenpartei gibt und die CDS-Verträge außerhalb der traditionell üblichen Rückversicherungsbestimmungen abgeschlossen werden, sind sie mit hohen Risiken behaftet, und die sich inzwischen auf mindestens 60 Billionen US-$ belaufenden und weltweit verteilten CDS könnten beim Ausfall einer ihrer führenden Säulen, zu denen die AIG gehört, eine fatale Kettenreaktion auslösen. Tatsächlich wurde die AIG bis jetzt durch mehrere staatliche Rettungspakete, die sich inzwischen auf 153 Mrd. US- $ summieren, gestützt. Dessen ungeachtet zeigte aber das im September 2008 erfolgte Ausgreifen der weltweiten Hypothekenkrise auf ein Schlüsselelement der globalen Derivatemärkte, deren Gesamtvolumen inzwischen auf mindestens 600 Billionen und maximal 1.000 Billionen $ geschätzt wird, dass sich die Finanzbranche als entscheidende Triebkraft des vergangenen Expansionszyklus auf den Abgrund zubewegt. Im September 2008 wankte das gesamte internationale Finanzwesen, und zwar die Geschäftsbanken und die seit den 1970er Jahren entstandenen Investmentfonds (Hedge Funds, Private Equity Funds und Pensionsfonds) gleichermaßen.

Die Schockwellen gingen aber bis heute unaufhörlich weiter, wie die massiven Abschreibungen und operativen Verluste praktisch aller global operierenden Banken zeigen, und die praktisch in allen Metropolenländern in Gang gekommenen Rettungsoperationen in Form staatlicher Bürgschaften für die zunehmend ausgelagerten toxic assets, die öffentlichen Kapitalspritzen zur Auffüllung des Eigenkapitals sowie die zunehmenden staatlichen Kapitalbeteiligungen dürften noch lange auf der Agenda der Regierungen bleiben. Sie versuchen seit dem Sommer 2007, die Geld- und Kapitalmärkte durch koordinierte Leitzinssenkungen ihrer Zentralbanken, durch die Liquiditätsversorgung der zusammengebrochenen Interbankenmärkte und die Übernahme notleidend gewordener Wertschriften und Schuldenpapiere in die öffentliche Regulationssphäre in Gang zu halten. Wie die neuesten Daten zeigen, ist es bis jetzt nicht gelungen, die weltweite Verknappung der Kredite und die Flucht der Kapitalvermögensbesitzer aus den Finanzfonds in die »sicheren Häfen« der »harten« Währungen und Staatsanleihen aufzuhalten. Der Grund dafür ist einfach: Auf den Absturz der Hypothekenpapiere und Kreditderivate folgen inzwischen die zunehmend »faul« werdenden Kreditkarten-, Leasing- und Kaufhauskreditschulden, deren Umfang noch weitgehend unbekannt ist und inzwischen den De facto-Zusammenbruch der Citigroup, der einstmals größten US-Geschäftsbank, ausgelöst hat. Ein Ende der globalen Finanz- und Kreditkrise ist nicht abzusehen, und das in einer Situation, in der sie längst die parallel zu ihr in Gang gekommenen Struktur- und Branchenkrisen verstärkt hat und sich wie ein Schwelbrand auf alle Komponenten des Weltwirtschaftssystems ausweitet.

Die Ereignisse des »schwarzen« Vierteljahrs vom September bis November 2008 erfassten im Gefolge der um sich greifenden Kreditrestriktion und Kapitalfluchtbewegungen auch die weltweiten Aktienmärkte, also jene Sektoren der Kapitalreproduktion, auf denen langfristige Kapitalkredite an den Börsen als Unternehmensaktien und Aktienderivate (Optionen, Anleihen und Terminpapiere) gehandelt werden. Der Absturz der Finanztitel riss zuerst die Notierungen der strukturschwachen Branchenunternehmen, insbesondere der Autoindustrie, mit sich und weitete sich dann strukturell und geographisch auf das gesamte börsennotierte Kapital aus. Seit Jahresbeginn 2008 fielen die Aktienindizes der US-amerikanischen, europäischen und japanischen Börsen um durchschnittlich 35 bis 40 Prozent, wobei die Turbulenzen in den Monaten September und Oktober immer stärker die Erinnerung an die Ereignisse der Weltwirtschaftskrise des vergangenen Jahrhunderts wachriefen. In den Herbstmonaten wurden aber auch die Aktienbörsen der Schwellenländer voll erfasst, und hier sind die Kapitalverluste inzwischen derart angestiegen, dass sie nicht nur die spekulativen Überbewertungen beseitigten, sondern auch eine Phase der massiven Kapitalvernichtung einleiteten. Aus den Börsen der so genannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) werden inzwischen Jahresverluste zwischen 60 und über 70 Prozent gemeldet.

Eine entscheidende dritte Komponente des Wegs in die Weltwirtschaftskrise stellte der weltweite Zerfall der Rohwarenpreise dar, der im Verlauf des Juli 2008 nach einer nochmaligen massiven Steigerung der Lebensmittel- und Energiepreise einsetzte und auf fast klassische Manier den Umschlag von der spekulativen Überexpansion zum krisenhaften Absturz markierte. Der Erdölpreis ist inzwischen von seinem Spitzenpreis von 147 $ pro Fass (barrel = 159 Liter) auf unter 40 $ gefallen, die Preise für Industriemetalle und landwirtschaftliche Industrierohwaren (Baumwolle usw.) haben sich mehr als halbiert, und auch die Preise für die Grundnahrungsmittel (Reis, Mais, Getreide) sind um durchschnittlich ein Drittel zurückgegangen. An ehesten können sich noch die Edelmetalle auf den Rohwarenterminbörsen behaupten, aber selbst der Goldpreis zeigte bis jetzt eine rückläufige Tendenz.

Angesichts dieser Entwicklungen nimmt es nicht wunder, dass auch die Transportkosten, die in vielen Fällen eine wesentliche Komponente der Rohwarenpreise darstellen, drastisch eingebrochen sind. Vor allem bei den maritimen Transporten, dem Hauptträger der globalen Transportkette, setzten sich dabei deflationäre Tendenzen durch, die die Selbstkosten in einigen Sektoren weit unterschritten und in ihrem Ausmaß und Verfallstempo sogar die Vergleichsdaten der Weltwirtschaftskrise des vergangenen Jahrhunderts übertreffen. Die Container-Frachtraten der Rotterdam-Taiwan-Linien stürzten beispielsweise von 2.500 $ pro Container zu Jahresbeginn bis Ende Oktober auf 400 $, und die Charterraten für die größten Schiffstypen der Massengutfracht sind bis Ende November auf ein Elftel ihres Höchstwerts in der Boomphase des Jahrs 2007 zurückgegangen. Dadurch verstärkt sich aber nicht nur der Verfall der Rohwarenpreise weiter, sondern es werden auch weit reichende Folgeprozesse ausgelöst. Die bis zum Sommer dieses Jahrs auf einen massiven Kapazitäts- und Infrastrukturausbau getrimmte maritime Hafen- und Logistikkette ist in ihren Grundfesten erschüttert, und in den letzten Wochen sind weltweit mindestens 80 Prozent der Schiffsneubaukontrakte mit den führenden Werften in China, Südkorea, Japan und Vietnam storniert worden.

Parallel dazu hat sich die Überkapazitäts- und Strukturkrise des Automobilsektors, des Baugewerbes und des Immobiliensektors weiter vertieft. Zwei der »big three« der US-Autoindustrie – General Motors und Chrysler – stehen inzwischen vor dem Bankrott. Die Bush-Administration gab ihnen jedoch in der Vorweihnachtswoche durch die Bewilligung von Notkrediten eine Galgenfrist bis März 2009, wobei zugleich die letzten Errungenschaften der amerikanischen Automobilarbeiterinnen und -arbeiter geschleift werden (Herunterstufung der Löhne, Einschnitte bei Kurzarbeit und Betriebsrenten). Aber die Branchenkrise hat mittlerweile alle Unternehmen der Kraftfahrzeugbranche erfasst. Auch die Umsätze der besonders arbeitsintensiven, technologisch innovativen und auf schadstoffarme Erzeugnisse setzenden Vorzeigeunternehmen sind inzwischen weltweit zwischen 20 und 30 Prozent eingebrochen. In den meisten Fällen sind mittlerweile die so genannten Randbelegschaften – befristet Beschäftigte, LeiharbeiterInnen usw. – aus den Betrieben verschwunden, während die Belegschaftskerne mit der Aussicht auf eine längere Periode der Kurzarbeit in verlängerte Weihnachtsferien geschickt wurden. Derartige Übergangslösungen sucht man inzwischen auf den unteren Ebenen der Wertschöpfungskette der Kraftfahrzeugindustrie vergebens, und die Nachrichten über abrupte Betriebsschließungen bei den kleinen und mittleren Zulieferern beginnen sich zu häufen.

Alle diese Entwicklungstendenzen werden durch die weltweite Verteuerung der Kredite wechselseitig verstärkt und verallgemeinert. Spätestens seit dem dritten Quartal des Jahrs 2008 befinden sich die Triade-Regionen Nordamerika, Europa und Japan in der Rezession. Die Massenerwerbslosigkeit ist seit Oktober in den USA, England und Spanien dramatisch angestiegen und hat inzwischen ausgehend von der transatlantischen Region auf alle entwickelten Nationalökonomien übergegriffen. Ihr ökonomisches Gegenüber sind drastisch sinkende Zins- und Profitraten, die im Verein mit den zunehmend verteuerten Krediten und der sich rasant verschlechternden Auftragslage zu einem drastischen Rückgang der Investitionsvorhaben geführt haben. Das wiederum hat eine immer raschere Kontraktion des Außenhandels zur Folge, wobei vor allem die besonders exportintensiven Länder der Triade – Japan, Deutschland und die Schweiz – auf den Verfall ihrer Ausfuhren mit einer überproportionale Drosselung der Importe reagieren und dadurch eine sich selbst verstärkende Spirale des weltwirtschaftlichen Niedergangs in Gang bringen.

Aufgrund dieser massiven Importrestriktionen griff die inzwischen voll ausgebildete Krise der Triade seit Oktober 2008 mit voller Wucht auf die Schwellen- und Entwicklungsländer über. Sie wurden und werden von dieser Entwicklung in einer Situation getroffen, in der ihre Exporte in die Triade-Regionen den tragenden Pfeiler ihres nachholenden Wirtschaftswachstums bilden und sie die damit einhergehenden volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Zahlungsbilanz durch die Anhäufung hoher Bestände an Devisenreserven ausgeglichen hatten. Dieser labile Zustand wurde nun abrupt beendet. Die weltwirtschaftliche Kreditrestriktion, der Verfall der Aktienkurse und der Niedergang der Rohwarenpreise addierten sich mit den Einbrüchen im Exportsektor zu einer brisanten Mixtur, die vorübergehend durch den Rückgriff auf die Währungsreserven und den Wiederanstieg der Staatsverschuldung ausgeglichen wurde.

Aber die BRIC-Staaten und noch weniger die Schwellenländer der zweiten Garnitur wie Mexiko, Südkorea, Indonesien, Ungarn oder die Ukraine sind nicht die USA, die sich mit ihrer auch heute noch unangefochtenen Weltleitwährung gigantische Zahlungsbilanzdefizite und Schuldenberge leisten kann, ohne von ihren Gläubigern dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die internationalen Investoren zogen ihr Kapital ab, sobald sich die Währungsreserven der Schwellenländer verminderten, sich ihre Zahlungsbilanzen verschlechterten und die Verschuldung ihrer öffentlichen Budgets wieder zunahm. Massive Währungsabwertungen sind seither die Folge und provozieren brisante Turbulenzen auf den internationalen Devisenmärkten. Zusätzlich werden nun die strukturellen Defizite und die vielfältigen Überschuldungskonstellationen sichtbar, in denen vor allem die südostasiatischen, südamerikanischen und ostmitteleuropäischen Schwellenländer befangen sind. Sie führten seit dem Spätherbst zu ersten faktischen Staatsbankrotten, wobei neben Ungarn, Pakistan, Lettland und der Ukraine auch die nordatlantische Inselrepublik Island notleidend wurde. Die sozialen Folgen spitzen sich in diesen Ländern dramatisch zu. Aber auch in den USA werden inzwischen ganze Stadtviertel durch die Vertreibung der Familien aus ihren Eigentumshäusern und Mietwohnungen »stillgelegt«, und im Bundesstaat Kalifornien ist gerade ein Sanierungsprogramm zur Abwendung der drohenden Zahlungsunfähigkeit gescheitert.

In der globalen Perspektive wurde bis heute ein dramatischer Absturz des Bruttosozialprodukts durch die massiven finanzpolitischen Stützungsmaßnahmen der Länder und Machtblöcke des kapitalistischen Zentrums – ihr Volumen wird derzeit auf mindestens 7 Billionen $ geschätzt – und die inzwischen breit anlaufenden antizyklischen Konjunkturprogramme (China, EU, USA und Japan) verhindert. Auch die Währungsturbulenzen wurden einigermaßen unter Kontrolle gehalten, die Dollarwährung ist bis jetzt überraschend stabil geblieben (aber dies könnte sich rasch ändern). Dies ist die Voraussetzung für das weitere Funktionieren der in den 1990er Jahren entstandenen strategischen Schuldner-Gläubiger-Achse des Weltsystems, Chinas und der USA. Trotzdem hat die Krise schon jetzt das Ausmaß der Krise von 1973 überschritten und wird, selbst wenn sie in den nächsten Monaten erfolgreich eingedämmt werden sollte, einen neuen Zyklus der Ausbeutung und eine neue Ära des kapitalistischen Weltsystems einleiten. Eine kurzfristige Stabilisierung ist jedoch wenig wahrscheinlich. Die dem monetaristischen Denken verhaftete erste Phase der finanzpolitischen Rettungsoperationen ist gescheitert, denn sie war viel zu stark dem Verdikt des Vordenkers der ökonomischen Konterrevolution Milton Friedman verhaftet, der die Ausbreitung der Weltwirtschaftskrise von 1929 so gut wie ausschließlich einer falschen Geldpolitik der amerikanischen Notenbank angelastet hatte. Der um sich greifende Kredit-. und Investitionsstreik der Kapitalvermögensbesitzer und der von ihnen kontrollierten Unternehmens-, Bank- und Fondsmanager kann durch eine Politik des billigen Gelds und des Überflutens der Kredit- und Kapitalmärkte mit zinsloser Liquidität nicht gestoppt werden. Genau so unsicher ist, ob die teilweise keynesianisch orientierten Konjunkturprogramme greifen werden, denn sie sind nicht weltweit abgestimmt und müssten vor allem von den stärksten Gläubiger- und Exportländern (Japan, China, Länder der Euro-Zone) mit größter Beschleunigung und in gigantischem Ausmaß vorangetrieben werden. Sogar das mehr oder weniger komplette Überschaufeln der faulen Kredite und Privatschulden in die öffentlichen Kassen und Haushalte beeindruckt die Investoren so lange nicht, als dadurch die offen zutage getretenen strukturellen Defizite und die strategischen Fehler der Fonds- und Bankenmanager folgenlos bleiben und vertuscht werden. Darüber hinaus wird der Krisenmechanismus dadurch nur verschoben, nicht aber eingedämmt. Denn die Kapitalvermögensbesitzer nehmen die Federal Reserve Bank der USA längst als einen riesigen Hedge Fund wahr, für den das Schatzamt (Treasury Department) als gigantischer Investmentbroker die Mittel beschafft. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis sie auch »Uncle Sam« als nicht mehr kreditwürdig einstufen – aber wo sollen sie dann überhaupt noch investieren? Derzeit ist kein neuer strategischer Wirtschaftssektor sichtbar, und auch die Hoffnung, die Schwellenländer könnten im Schlepptau ihres Vorreiters und strategischen USA-Gläubigers China die Karre aus dem Dreck ziehen, ist längst verflogen.

1.2 Wesentliche Eigenschaften der Krise

Wir haben uns einige Mühe gegeben, um die sich allmählich entwickelnde Synchronisierung der verschiedenen Krisenfaktoren des neuesten Krisenzyklus nachzuzeichnen. Was aber waren die wesentlichen Ursachen für den Schwelbrand, der vor zwei Jahren von einigen Dachstühlen des weltwirtschaftlichen Gebäudekomplexes ausging und inzwischen alle Sektoren und Territorien des globalen Wirtschaftskreislaufs erfasst hat? Schon ein oberflächlicher Blick auf die wesentlichen Schnittstellen dieses Prozesses macht klar, dass sie sich auf drei wesentliche Charakteristika zurückführen lassen. Es handelt sich erstens um eine Krise der weltweiten Überakkumulation des Kapitals in allen seinen Erscheinungsformen und Metamorphosen: Der Industriesektor ist durchschnittlich zu 25 Prozent (in der Autoindustrie noch wesentlich stärker), die globale Transportkette ist zu 30 bis 35 Prozent und der Banken- und Finanzsektor zu mindestens 50 Prozent überakkumuliert. Diese Überakkumulation geht zweitens mit einer massiven globalen Unterkonsumtion einher, weil das Kapital im vergangenen Zyklus die Masseneinkommen in den Zentren massiv senkte, in den Schwellenländern die überproportionalen Wachstumsraten auf der Basis von Niedrigstlöhnen erwirtschaftete und die Massenarmut des Südens (Slum Cities, Schattenwirtschaft) im Zustand des drohenden Hunger-Genozids belassen wurde. Zwar gelang es den Unterklassen genau jener entwickelten Weltregionen, von denen die Krise ausging, ihre Einkommensverluste teilweise durch diverse Techniken der Schuldenaufnahme zu kompensieren, aber ihre untersten Segmente blieben davon konstant ausgeschlossen, und im Vergleich mit den gewaltigen Steigerungen der Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit verbreiterte sich die Schere zwischen Produktivkraftentwicklung und Arbeitseinkommen trotzdem auch in den USA, Großbritannien und Spanien massiv zum Nachteil der Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter. Dennoch wurde dadurch drittens in den entwickelten Zentren des Weltsystems das Wechselspiel von Überkapazitäten und Unterkonsumtion zeitweilig durch die Finanzpolitik des billigen Gelds und der billigen Kredite kompensiert, aber dies vermochte den Ausbruch der Krise nur um ein paar Jahre hinauszuzögern. Während sich die Niedriglohnsektoren ausdehnten und die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse zunehmend bis in die Mittelschichten vordrang, verschuldeten sich zig Millionen Menschen weltweit in einem Gesamtvolumen von mindestens 12 Billionen $ (Hauskredite ohne Eigenmittel, Kreditkartenschulden, Kauf- und Leasingschulden, Studentendarlehen usw.) Dieser Mechanismus funktionierte so lange, weil die in die Unterklassen gepumpten Kreditschulden weltweit diversifiziert wurden. Aber er stieß im Verlauf des Jahrs 2006 an seine äußere Grenze und riss das gesamte Finanzsystem umso abrupter in die Tiefe. Er verstärkte dadurch die seit längerem bestehenden strukturellen Verwerfungen und Überkapazitäten in wirtschaftlichen Schlüsselbranchen (Baugewerbe, Automobilindustrie und deren Zuliefersektoren, aber auch IT-Branche und Stahlindustrie) und löste zusammen mit den Preisstürzen der Rohwaren, im Zirkulationssektor und auf den Aktienmärkten sowie der um sich greifenden Kreditrestriktion die neue Weltwirtschaftskrise aus. Die Folge war ein weltweiter Investitionsstreik der Kapitalvermögensbesitzer, der inzwischen auf alle wesentlichen Kapitalsphären übergreift, weil in ihnen innerhalb weniger Monate nacheinander die Zins- und Profitraten abgestürzt sind.


2. Der voraufgegangene Zyklus (1973-2006)

Um die innere Dynamik, die Entwicklungsperspektive und die wahrscheinlichen Folgen der aktuellen Weltwirtschaftskrise abschätzen zu können, ist ein kurzer Rückblick auf die wesentlichen Merkmale des voraufgegangenen globalen Zyklus der Jahre 1973 bis 2006 erforderlich. Dabei müssen wir uns zunächst darauf beschränken, die wesentlichen Charakteristika des Wirtschaftszyklus 1973 bis 2006 herauszuarbeiten.

2.1 Eigenschaften einer typischen langen Welle (Kondratieff)

Der Zyklus begann mit der Weltwirtschaftskrise 1973, die in eine mehrjährige Depression überleitete. Diese Krise war durch die weltweiten Arbeiter- und Sozialrevolten von 1967 bis 1973, eine Weltwährungskrise (Abkopplung der Goldbindung des Dollar, Übergang zu flexiblen Währungskursen) und den Erdölschock des Jahrs 1973 (Yom Kippur-Krieg) ausgelöst worden und hatte in den folgenden Jahren wegen des vorherrschenden Gebrauchs der Inflationspolitik gegen die Lohnrigidität der arbeitenden Klassen den Charakter einer so genannten Stagflation angenommen. In den folgenden 35 Jahren lösten mehrere fünfjährige Konjunkturzyklen einander ab, die durch teilweise schwere Teilkrisen unterbrochen wurden: 1982 (zweite Ölkrise), 1987 (USA), 1992/93 (Japankrise), 1997/98 Ostasien- und Russlandkrise) und 2000/2001 (Kollaps der New Economy). Eine entscheidende Zäsur bildeten die Jahre 1989 bis 1991, als das Sowjetimperium implodierte und der Aufstieg Chinas begann. Ohne den sich daraus ergebenden schlagartigen und gewaltigen Expansionsschub wäre die letzte »lange Welle« sehr viel früher zu Ende gegangen. Hinzu kam die Kreditexpansion vor allem der letzten Konjunkturperiode von 2001 bis 2006, die die Wechselwirkungen von Überakkumulation und geschrumpften Masseneinkommen nochmals überlagerte und den Kriseneinbruch um mehrere Jahre hinauszögerte.

2.2 Vom Krisenangriff zur Überausbeutung der globalen Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter

Der Krisenangriff des Kapitals zwang die Arbeiterklasse bis Ende der 1970er Jahre weltweit zum Rückzug und unterwarf sie in der Peripherie, in den Schwellenländern und den entwickelten Zentren trotz heftiger Klassenauseinandersetzungen auch in den 1980er Jahren ausgeprägten Prozessen der (Re-)Proletarisierung. Darauf werde ich weiter unten noch genauer eingehen. Hier interessieren zunächst nur die ökonomischen Folgen: Die Masseneinkommen sanken relativ und absolut zur Kapital- und Kapitalvermögensbildung, und dieser Prozess wurde durch eine systematische Strategie der Unterbeschäftigung bis zum Ende des Zyklus in Gang gehalten. Es gelang den Aktionszentren des Kapitals trotz aller temporären und regionalen Einbrüche und trotz teilweise heftiger Konstitutionskämpfe der neuen industriellen Arbeiterklasse in einigen Schwellenländern (vor allem Südkorea und einige südamerikanische Länder), in den konjunkturellen Aufschwungperioden hohe Zinsen und Profite einzuheimsen. Die Niederhaltung und überproportional starke Ausbeutung der Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter und die Pauperisierung wesentlicher ihrer Segmente in Richtung »Arbeitsarmut« waren somit trotz aller entgegenwirkenden Tendenzen ein wesentliches Merkmal der vergangenen langen Welle – aber auch die Ursache ihres durch den Kreditboom des »verrückten« ersten Jahrzehnts des Millenniums nur hinausgeschobenen Zusammenbruchs.

2.3 Neue Technologien

Ein weiterer entscheidender endogener Faktor war die Potenzierung der technologischen Herrschaft des Kapitals. Der »Kondratieff« des Zyklus 1973-2006 verhalf dem Kapital durch massive technische Innovationen zur Steigerung der Profitraten, indem er – bei fortschreitend sinkenden relativen Lohnraten – die organische Zusammensetzung des Kapitals in strategischen Bereichen verringerte: Umwälzung und Standardisierung der Transportketten durch den Container, Umwandlung der Kommunikationsstrukturen durch Informatik und Informationstechnologie, Mikrominiaturisierung und Roboterisierung der Produktionsanlagen und Umstellung der Maschinenparks auf numerisch gesteuerte Aggregate. Bis jetzt liegen keine gesicherten Daten über die im vergangenen Zyklus erreichte Steigerung der Ausbeutungsraten durch die weitere Verdichtung der Arbeitsprozesse, die Einführung der neuen technologischen Instrumente der reellen Subsumtion, die Indienstnahme und Verwertung der subjektiven Kreativität der Ausgebeuteten sowie die arbeitsorganisatorische Totalisierung betrieblicher Herrschaft (»total productive management« usw,) vor. Wir können aber mit Sicherheit davon ausgehen, dass sich die dem Umverteilungsprozess entzogene Produktivkraft des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters im vergangenen Zyklus mit jährlichen Steigerungsraten zwischen 2,5 und 3,0 Prozent mindestens verdoppelt hat.

2.4 Nochmalige Expansion des Weltmarkts und der weltweiten Arbeitsteilung

Als entscheidender exogener Faktor schlug die – oben schon angedeutete – Expansion der Kapitalanlagesphären und Märkte zu Buch, die zu Beginn der 1990er Jahre ihren Höhepunkt erreichte. In diesen Jahren konnte sich der Sohn eines Schrotthändlers von Kalkutta aus den Investitionsruinen Osteuropas und in den Sonderwirtschaftszonen der Peripherie ein Stahl-Imperium aufbauen – das ist nur ein Beispiel von vielen. Entscheidend war die Verknüpfung dieses geographischen Expansionsprozesses mit neuartigen Formen der internationalen Arbeitsteilung, die durch die Miniaturisierung der fixen Kapitalien, die neuen Informationstechnologien und die massive Senkung der Transportkosten ermöglicht wurde: Der Aufbau globaler Netzwerkunternehmen, deren Wertschöpfungsketten von zumeist in den Metropolen gelegenen Entwicklungs-, Design- und Marketingzentren gesteuert werden, war möglich geworden: Die segmentierten Arbeitsprozesse konnten über die Weltregionen mit den niedrigsten Ausbeutungsraten verteilt und miteinander verknüpft werden.

2.5 Die neue Weltwirtschaftsachse Washington – Peking

Dass die neuen Formen der internationalen Arbeitsteilung in der Tat die entscheidende strategische Achse des vergangenen Zyklus darstellten, wird uns schlagartig klar, wenn wir unseren Blick auf die beiden wichtigsten Volkswirtschaften richten, die seit Beginn der 1990er Jahre eine folgenreiche stille Symbiose eingingen: Die USA und China. Diese symbiotische Beziehung bestand und besteht darin, dass der eine Partner spart und hart arbeitet, während der andere die ihm übereigneten Produkte und Revenuen mit beiden Händen ausgibt. Sicher ist dieses Bild sehr unscharf, aber es reflektiert die entscheidenden Tatbestände. Im Prozess der nachholenden kapitalistischen Entwicklung kettete der chinesische Staatsdespotismus die ihm unterworfenen Bauern-Arbeiter und WanderarbeiterInnen an die verlängerte Werkbank der Welt, exportierte ihre Produkte zu Dumpingpreisen in die entwickelten Zentren – insbesondere die USA – und ließ sie sich überwiegend mit Zahlungsversprechen – Staatsanleihen – begleichen, was es den USA wiederum ermöglichte, die aus der eigenen Niedriglohnstrategie resultierende Pauperisierungsprozesse durch eine – ihrerseits wieder in die Welt umgeleitete – Kreditexpansion zu kaschieren. Die verlängerte Werkbank avancierte auf diese Weise zusätzlich zur Hausbank der USA und ist auf Gedeih und Verderb an sie gekettet, weil ein markanter Sturz des Dollar beide Partner gleichzeitig ruinieren würde. Denn die chinesische Zentralbank hält seit längerem den größten Teil ihrer Devisenreserven in US-$ (2 Billionen) und hat US-Schatzanleihen in Höhe von fast 1 Billion $ aufgenommen: Ein unkontrollierter Kursverfall des US-Dollar würde also ihre Gläubigerposition dramatisch entwerten, während er die USA aufgrund der dann einsetzenden internationalen Kapitalflucht umgekehrt in den Staatsbankrott treiben würde. Aber auch ohne den Eintritt eines solchen Horrorszenarios erscheint die auf jeden Fall unausweichlich gewordene Überwindung der grotesk überspitzten Schuldner-Gläubiger-Position fast unmöglich. Eine einfache Rechenüberlegung zeigt, wie schwer es sein wird, den jetzt begonnen Rückgang der relativen Überkonsumtion der USA und die damit einher gehende Rückkehr ihrer Bevölkerung zur früher üblichen Sparquote von 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) durch eine komplementäre Steigerung des chinesischen Massenkonsums auszugleichen und dadurch die wechselseitigen Verwerfungen der Zahlungsbilanz zu überwinden: Der derzeit extrem niedrige chinesische Massenkonsum müsste schlagartig um 40 Prozent erhöht werden. Dies erscheint fast unmöglich, aber es wirft ein Schlaglicht auf die Tatsache, dass der Hebel zu einer weltweiten antizyklischen – und wohlgemerkt systemkonformen – Krisenüberwindung an erster Stelle in China liegt, und dass der weitere Verlauf der Krise und der sich mit großer Wahrscheinlichkeit daran anschließenden Überschuldungsdepression im Fall des Ausbleibens einer revolutionären Transformationsalternative in erster Linie durch die weitere Entwicklung des »Chimerica«-Projekts bestimmt werden wird.

2.6 Weltweite Expansion der Finanz- und Kreditmärkte

Die Umstrukturierung und Internationalisierung der Ausbeutungs- und Wertschöpfungsketten wäre ohne die internationale Ausweitung des Finanzsystems nicht möglich gewesen. Die Flexibilisierung der Wechselkurse führte – bei weiter fortbestehender Vormachtstellung des Dollars – zum Aufbau transnationaler Devisenmärkte (Eurodollarmarkt, Petrodollarmarkt, Asiendollarmarkt), von denen ausgehend neuartige Geld- und Kreditinstrumente zur Absicherung der Wechselkursrisiken, der Risiken der ständig schwankenden Rohstoffpreise und der Kursrisiken der Aktienbörsen entwickelt wurden. Die bisherige »moderate« Kreditbeziehung zwischen Banken und Industrieunternehmen, die auf mittelfristige Rentabilität gesetzt hatte, wurde zunehmend durch die Autokratie einer wachsenden Schicht von Kapitalvermögensbesitzern ersetzt, die kurzfristige Maximalprofite ansteuerten, indem sie eine neue Sphäre von Investmentfonds gründeten und mit ihrer Hilfe die Managementstäbe aller Wirtschafts- und Handelssektoren an die kurze Leine einer maximalen Eigen- und Fremdkapitalrendite legten. Dadurch kam es zur »Finanzialisierung« des gesamten Wirtschaftssystems und aller Metamorphosestadien des Kapitals, die die durchschnittlichen Kapitalrenditen auf Sätze zwischen 20 und 25 Prozent steigerte – mit ihnen aber auch die Risiken und Instabilitäten. Parallel dazu wurden durch den expandierenden Finanzsektor Kredite in die Unter- und Mittelklassen gedrückt, die diese akzeptieren mussten, weil sie es ihnen ermöglichten, ihren Lebensstandard trotz der zunehmenden Prekarisierung der Arbeits- und Einkommensverhältnisse einigermaßen zu halten. Und drittens bildete sich, inspiriert durch den neuen Finanzsektor, eine neuartige Dimension der Kapitalexpansion in das Innere der Gesellschaften heraus, die ich als »Gebühren-Kapitalismus« bezeichnen möchte: Die öffentlichen – zumeist kommunalen – Güter wurden enteignet, um die alltäglichen Reproduktionsbedingungen der Menschen – vom Trinkwasser über die Energieversorgung bis hin zum Gesundheitswesen und zur Absicherung vor den übrigen Existenzrisiken – in Waren zu verwandeln und die auf sie gelegten Kapitalrevenuen zu steigern.

2.7 Zunehmende Zerstörungen der materiellen Grundlagen der Produktion und Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft

Ein letzter bedeutender exogener Faktor des vergangenen Zyklus war die zunehmende Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Wirtschaftssystems. Dies war nicht nur Folge der gewaltigen qualitativen und quantitativen Expansion der unmittelbaren Produktionsprozesse und der sie vernetzenden Transportketten, sondern auch der gleichzeitigen Marginalisierung der Massenarmut des Südens, die zunehmend in die Nischen der noch intakten Ökosysteme hineingedrückt wurde, während umgekehrt die neuen Regime und Mittelklassen der Schwellenländer damit begannen, die Umweltsünden der Metropolen zu kopieren. So wie der vergangene Zyklus erbarmungslos mit den weltweiten Ressourcen des Arbeitsvermögens umsprang, so gnadenlos hat er auch die Vernutzung der Ökosysteme auf die Spitze getrieben. Zweifellos wurden inzwischen erhebliche Anstrengungen zur »Ökologisierung« der Kapitalreproduktion in die Wege geleitet, aber sie waren bislang nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Trotzdem haben aber schon diese geringgradigen, durch ein zunehmendes Umweltbewusstsein erzwungenen Anstrengungen genügt, um Industriesektoren, die wie die Autoindustrie diesem Trend nicht oder nur verspätet folgten, in eine schwere Strukturkrise hineinzutreiben.


3. Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Vergleich mit den früheren Weltwirtschaftskrisen

Das Nachdenken über die wesentlichen endogenen und exogenen Faktoren des vergangenen Zyklus ist für ein vertieftes Verständnis des aktuellen Krisenprozesses unverzichtbar. Sie gibt uns aber keine Hilfsmittel in die Hand, um uns – so weit dies überhaupt möglich ist – Gedanken über ihre weitere Entwicklung und ihren möglichen Ausgang zu machen. Hier hilft uns ein kurzer ergänzender Blick auf die bisherigen großen Weltwirtschaftskrisen weiter, die die kapitalistische Gesellschaftsformation in ihrem industriellen Stadium, also in den letzten 150 Jahren, durchmachte. Die vergleichende Herausarbeitung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den jetzigen und den früheren Weltwirtschaftskrisen ist ein entscheidendes Hilfsmittel, um bei der Auseinandersetzung mit den komplexen Strukturen und Manifestationen der Gegenwart den roten Faden nicht aus den Augen zu verlieren.

3.1 Die Weltwirtschaftskrise 1857/58.

Die Weltwirtschaftskrise von 1857/58 war die erste, die den damaligen entwickelten Kapitalismus synchron erfasste. Sie hatte ihren Ursprung in den USA, wo gewaltige Spekulationen im Eisenbahnwesen, dem damals führenden Sektor der kapitalistischen Entwicklung, eine schwere Krise auslösten. Sie sprang rasch nach England, in die norddeutschen Handelsstädte sowie nach Skandinavien, Frankreich und Südosteuropa über, wobei sie, verstärkt durch anfänglich massive prozyklische Aktivitäten der Bank of England, den Welthandel weitgehend ruinierte und schließlich auch auf die damaligen Industrie- und Infrastrukturzentren (Sheffield, Birmingham und Manchester, Ruhrgebiet, Nordfrankreich, weltweite Eisenbahnbauprojekte usw.) durchschlug. Da der Kapitalismus in den Jahren zuvor eine durch den Krim-Krieg (1853-1856) ausgelöste enorme Handelsexpansion und einen gewaltigen geographischen Ausweitungsschub absolviert hatte – Kolonisierung Kaliforniens, Mexikos und Australiens, Vertiefung der britischen Herrschaft über Indien und gewaltsame Öffnung Chinas –, erwartete Karl Marx 1857/58 eine transatlantische Arbeiterrevolution. Er sah sich recht bald getäuscht. Die Krisenfolgen wurden im Verlauf des Jahrs 1858 weitgehend überwunden, und es begann eine neuerliche Expansions- und Prosperitätsperiode, die bis 1870/71 andauerte. Von den damaligen Zeitgenossen wurde die simultane Wucht dieses Krisenprozesses hervorgehoben, aber im Vergleich mit den späteren Weltwirtschaftskrisen hatte sie eher einen embryonalen Charakter.

3.2 Die Große Depression der Jahre 1873 bis 1895

Die Große Depression begann mit »Gründerkrächen«, die simultan in mehreren Zentren der nachholenden Kapitalakkumulation, insbesondere im neu begründeten kaiserlichen Deutschland und in der Habsburg-Monarchie, in Gang kamen und dann auf England und insbesondere die USA übergriffen. Sie dauerte bis 1879 und ging danach in eine langjährige Depression über, die erst 1895 zu Ende ging. Ihre Auswirkungen wurden von den einzelnen Nationalökonomien des Weltsystems sehr unterschiedlich überwunden. In den USA führte sie zum brutalen Abschluss der West-Kolonisation und zum Aufbau von Mammutunternehmen (Trusts), die am damaligen Vorstoß in die neuen Hochtechnologiesektoren Chemieindustrie und Elektroindustrie führend beteiligt waren. Eine analoge wissenschaftsintensive zweite Industrialisierungswelle absolvierte auch das kaiserliche Deutschland, nachdem es die Folgen des »Gründerkrachs überstanden hatte. Dadurch wurden vor allem in den USA und Deutschland die Grundlagen zu einer umfassenden Rekonstruktion des industriellen Ausbeutungs- und Akkumulationsprozesses geschaffen, die die arbeitenden Klassen ihres handwerklichen Geschicks enteignete und sie als Massenarbeiter der Despotie der Maschinenrhythmen und verfahrenstechnischen Anlagen unterwarf. Insofern handelte es sich hier um die erste Weltwirtschaftskrise, die die technologisch-arbeitsorganisatorische Neuzusammensetzung des industriellen Verwertungsprozesses außerordentlich beschleunigte. Das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital wurde auf eine völlig neue Grundlage gestellt, auf die die Weltarbeiterklasse dann 1905 mit ihrer ersten weltweiten Revolte und der Herausbildung des revolutionären Syndikalismus (Industrial Workers of the World) antworten sollte. England und Frankreich arrondierten dagegen vor allem ihre Kolonialimperien. Insbesondere das viktorianische England zerstörte dabei die Subsistenzökonomie der damaligen Peripherie derart umfassend, dass eine Hungerkatastrophe die Folge war, die Millionen von Menschen das Leben kostete und die »Dritte Welt« hervorbrachte.

3.3 Die Weltwirtschaftskrise von 1929-1932 und die Depression von 1933-1940

Die Weltwirtschaftskrise des vergangenen Jahrhunderts gibt heute noch immer viele Rätsel auf, obwohl über sie seit Jahrzehnten intensiv geforscht wird. Als gesichert kann heute gelten, dass sie ihre Massivität vor allem dem merkwürdig verlaufenen Wachstumszyklus seit 1896 verdankte: Kurz vor einem sich abzeichnenden globalen Abschwung wurde der erste Weltkrieg entfesselt. Der Zyklus wurde deshalb durch eine globale Kriegskonjunktur verlängert und mündete nach der Niederschlagung der internationalen Arbeiterrevolution von 1916-1921 und der Überwindung einer massiven Hyperinflationsperiode in die »goldenen« zwanziger Jahre, die dem »verrückten«ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts frappierend ähneln: Sie waren durch exzessive Aktien- und Kreditspekulationen, niedrig gehaltene Masseneinkommen und die Überakkumulation der industrialisierten Segmente der Landwirtschaft und der durchrationalisierten industriellen Kapitalsektoren geprägt. Die Krise begann als internationale Agrarkrise mit dem Verfall der wichtigsten landwirtschaftlichen Rohwarenpreise, griff im Oktober 1929 auf die US-amerikanischen Aktienmärkte über und führte ab 1930 zum Zusammenbruch des Welthandels, nachdem die USA durch ein praktisch alle Wirtschaftssektoren umfassendes Schutzzollgesetz eine weltweite Welle des Protektionismus ausgelöst hatten. Danach griff die Krise auf die meisten Industriesektoren über und endete, seit 1931/32 verstärkt durch eine von Europa ausgehende Bankenkrise und einen sich daran anschließenden Abwertungswettlauf der großen Währungen, in der Halbierung des Bruttosozialprodukts und in einer alle Industrieländer erfassenden Massenerwerbslosigkeit zwischen 25 und 35 Prozent. Alle Versuche zur Überwindung der anschließenden Depression scheiterten, auch der amerikanische New Deal. Es kam zu einem internationalen Wirtschaftskrieg, der durch die Hochrüstungs- und Expansionspolitik der Zentren der faschistischen Achse – Deutschland, Italien und Japan – radikalisiert wurde. Die große Krise wurde erst durch das seit 1938 in Europa beginnende und ab 1940 auch die USA erfassende internationale Wettrüsten und die Rüstungswirtschaften des zweiten Weltkriegs überwunden. Dieser katastrophale Ausgang der Krise war keineswegs »gesetzmäßig« vorgezeichnet. Deshalb sollte er uns in der Auseinandersetzung mit der sich jetzt ausbreitenden Weltkrise klar machen, dass unsere Aufgabe darin besteht, Wege zur Krisenüberwindung vorzuschlagen und mit durchzusetzen, die den Weg in einen neuen Weltwirtschaftskrieg verbauen und zugleich als Hebel zur sozialistischen Transformation des Weltsystems genutzt werden können.


4. Globale Proletarisierung

Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sollten wir uns darüber verständigen, wer in der Lage sein könnte, einen Weg der Krisenüberwindung durchzusetzen, der nicht erneut in die kapitalistische Barbarei führt, sondern eine sozialistische Transformationsperspektive freimacht. Dies können nur diejenigen Klassern und Schichten sein, die der kapitalistischen Akkumulations- und Regulationsmaschinerie ihr Arbeitsvermögen feilhalten oder entäußern müssen, um leben zu können: Die Eigentumslosen der Welt, aus denen das sich ständig wandelnde Multiversum der Weltarbeiterklasse hervorgeht.

4.1 Historische und methodische Voraussetzungen

Dieser Ansatz ist alles andere als selbstverständlich, und deshalb möchte ich ihn etwas näher erläutern. Seine Grundlage ist das Konzept der Weltarbeiterklasse, das aus der Kritik an den bisherigen »nationalen« und eurozentristischen Sichtweisen der Arbeitergeschichtsschreibung und der Weiterentwicklung des marxistischen Arbeits- und Klassenbegriffs entstanden ist.

4.1.1 Prozesse der globalen Proletarisierung und De-Proletarisierung

Die globale Arbeitsgeschichte ist ein sehr junger Zweig der labour history, aber sie hat einige wichtige Ergebnisse aufzuweisen:

Der Konstitutionsprozess der Arbeiterklasse ist von Anfang an in globalen Zusammenhängen verlaufen. Er begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Verlauf transozeanischer und transkontinentaler Sozialrevolten, bei denen die zwangsrekrutierten Seeleute der Handels- und Kriegsflotten gemeinsam mit den Sklavenarbeitern (der Karibik), den in die Kolonien emigrierten selbständigen Arbeitern (Kleinbauern, Handwerker) und den Manufaktur- bzw. Industrieproletariern agierten. Diese Aufstände der commoners initiierten 1775/76 nicht nur den nordamerikanischen Revolutionskrieg gegen die koloniale Abhängigkeit vom britischen Mutterland, sondern hatten auch enorme Rückwirkungen auf die Konstituierung der dortigen Arbeiterklasse. Durch diese Erkenntnis wurde die bisherige eurozentristische und transatlantikfixierte Beschränktheit, die selbst die besten Arbeiterhistoriker gefangen gehalten hatte (E.P. Thompson), endgültig überwunden.

Seit dieser ersten Konstituierungsphase im späten 18. Jahrhundert gab es spezifische Phasen der Proletarisierung und relativen De-Proletarisierung der subalternen Klassen der Weltbevölkerung, die die globalen Expansionsschübe des Kapitals teilweise vorwegnahmen (politische und soziale Massenmigration über die Kontinente hinweg) oder in ihrem Gefolge in Gang kamen. Die letzte Phase einer relativen De-Proletarisierung haben wir im sozialstaatlich dominierten Akkumulations- und Regulationszyklus der 1950er und 1960er Jahre erlebt, der mit der zeitweiligen Dekolonisierung der Peripherie einher ging. Sie wurde seit 1973 durch eine neue Welle der globalen Re-Proletarisierung abgelöst, über die noch einiges zu sagen sein wird, weil die innere Zusammensetzung der Weltarbeiterklasse zu Krisenbeginn Einblicke in ihre aktuellen Handlungsmöglichkeiten eröffnet.

4.1.2 Das Multiversum der Weltarbeiterklasse

Die Weltarbeiterklasse wird nicht durch die doppelt freie Lohnarbeit dominiert, sondern stellt seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein vielschichtiges Multiversum dar, innerhalb dessen die großindustrielle Lohnarbeit eine wichtige und zeitweilig auch politisch hegemoniale Rolle spielte, aber nie die Aussicht hatte, die übrigen Segmente des Proletariats zu absorbieren und / oder in eine reine industrielle Reservearmee verwandelt zu sehen. Die globale Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter konstituiert sich bis heute in einem Fünfeck von Massenarmut und Massenerwerbslosigkeit, kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft, von selbständiger Arbeit (Kleinbauern, Kleinhandwerker und Kleinhändler, scheinselbständige Wissensarbeiter), industrieller Lohnarbeit und unfreien Arbeitsverhältnissen aller Schattierungen (Sklaverei, Schuldknechtschaft, Kuli- bzw. Kontraktarbeit, militarisierte und internierte Zwangsarbeit bis hin zu den ihrer Freizügigkeit beraubten Arbeitsarmen der Metropolen, etwa den Hartz IV-Empfängern). Zwischen diesen Segmenten der Weltarbeiterklasse, die in den verschiedenen Regionen in sehr unterschiedlichen Relationen zueinander vorhanden sind, gibt es laufende Übergänge und Vernetzungen, deren Fäden vor allem in der Massenmigration zusammenlaufen zwischen den proletarisch-kleinbäuerlichen Familienverbänden einerseits und den transkontinentalen Subkulturen andererseits. Wir gehen mit dem jungen Marx davon aus, dass die Klasse der Eigentumslosen der wichtigste Akteur bei der Durchsetzung von sozialer, wirtschaftlicher, geschlechtsspezifischer und ethnischer Gleichheit ist, weil nur sie durch die generelle Aufhebung des Eigentums die doppelte Entfremdung der Menschen gegenüber ihren tätigen Lebensprozessen und der ihnen als fremde Macht – als Kapital – gegenübertretenden vergegenständlichten Arbeit aufzuheben vermag. Deshalb sind diese Homogenisierungs- und Konvergenzprozesse innerhalb des proletarischen Multiversums unser entscheidender Bezugspunkt. Es geht also nicht nur um die Aufhebung der Lohnarbeit, sondern um die Aufhebung aller Arten von Ausbeutung und Herrschaft, die vor allem dadurch bedingt sind, dass die meisten Menschen ihr Arbeitsvermögen entäußern müssen, um überleben zu können.

4.2 Der aktuelle Zustand der globalen Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter

Soweit die konzeptionellen Voraussetzungen. Wie gestalteten sich nun aber im Verlauf des vergangenen Zyklus der strategischen Unterbeschäftigung und der forcierten Ausbeutung ihre inneren Prozesse der Klassenformierung und Klassenfragmentierung? Welches sind ihre elementaren Lebensbedürfnisse, und wie werden sie versuchen, sie gegen die neu heraufziehende Phase der Massenerwerbslosigkeit und Massenverarmung zu verteidigen? Werden sie – oder wenigstens wichtige Teile von ihnen – die Kraft haben, über diese Defensivpositionen hinauszugehen und die soziale und egalitäre Wiederaneignung des gesellschaftlichen Reichtums auf die Tagesordnung zu setzen?

4.2.1 Die subsistenzbäuerlichen Familien des Südens

Die subsistenzbäuerlichen Familien des Südens und einiger wichtiger Schwellenländer stellen auch heute noch mit 2,8 Milliarden Menschen, davon etwa 700 Millionen in China, das Gros der globalen Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie reproduzieren sich in familiären Subsistenzwirtschaften vom Caianov-Typ, Diese komplexen, in Dorfgemeinden und Klientelsysteme eingewobenen Strukturen sind aber immer stärker gefährdet und können nur noch durch periodische oder dauerhafte Arbeitseinkommen aus nichtlandwirtschaftlichen Sektoren überleben (kontinentale und transkontinentale Migrationsarbeit). Im vergangenen Zyklus wurden ihnen durch die Umwandlung der ertragreichsten Flächen und Anbaugebiete in mechanisierte Großfarmen, durch die Folgen des Klimawandels und durch Landenteignungen zunehmend die Existenzgrundlagen entzogen.

4.2.2 Massenmigration und Migrationsarbeit

Hunderte von Millionen Menschen waren in den vergangenen Jahrzehnten kontinental und transkontinental auf Wanderschaft, um der Massenarmut des Subsistenzsektors und der Barbarei der Bürgerkriegszonen zu entrinnen oder ihre zurückgebliebenen subsistenzbäuerlichen Familien über Wasser zu halten. Massenmigration in China, Massenwanderungen aus Südost- und Südasien in die Golfregion, aus Afrika über die Mittelmeerregion nach Südeuropa, aus Ost- nach Westeuropa und aus Süd- und Zentralamerika nach Nordamerika. Die Unterklassen der Metropolen und vieler Schwellenländer bestehen heute zu 10 bis 20 Prozent aus Migrantinnen und Migranten. Es haben sich dabei mehrere Migrationswellen überlagert, und es ist eine grenzüberschreitende Alltagskultur im Entstehen, die mehrsprachig und hochintelligent ist, und in der sich Tendenzen der multikulturellen Identitäten mit Bestrebungen zur ethnischen Identitätsvergewisserung überlagern. Diese Entwicklungen prägten den Proletarisierungsprozess der vergangenen Jahrzehnte entscheidend und stellen heute einen der wichtigsten Referenzpunkte der aktuellen globalen Klassenzusammensetzung dar.

4.2.3 Die Massenarmut und Schatten-Ökonomie der Slum-Cities

Nicht allen, die aus den ländlichen Subsistenz- und den Bürgerkriegsregionen auswandern, gelingt es, sich vorübergehend oder dauerhaft in den Schwellen- und Metropolenländern niederzulassen. Diese globale Surplusbevölkerung lebt heute in den Slum-Cities der Peripherie und vieler Schwellenländer. Sie treibt Urbanisierungsprozesse voran, die fast ohne Industrialisierung und ohne wirtschaftliches Wachstum stattfinden. Die Massenarmut der Slum Cities überlebt in den Schattenwirtschaften am Rand des Hunger-Genozids und der Massenepidemien und ist mit extremen Formen der Überausbeutung konfrontiert, bei denen unfreie oder scheinselbständige Arbeitsverhältnisse überwiegen. Es handelt sich inzwischen um über eine Milliarde Menschen, die riesige Agglomerationen bevölkern, entlang der Transportrouten und Flussläufe der Metropolen des Südens vegetieren und zunehmend in die von Naturkatastrophen bedrohten Küsten- und Wüstenzonen abgeschoben werden. Die Übergänge zu den ländlichen Subsistenzökonomien und den Kommunikationskanälen der Massenmigrationen werden immer prekärer. Es steht zu befürchten, dass die aktuelle Weltwirtschaftskrise diesen gigantischen Gettoisierungsprozess noch weiter beschleunigen wird, und schon jetzt mehren sich die Anzeichen dafür, dass die städtische Massenarmut mit ihren versteckten wie offenen Obdachlosenunterkünften und Erwerbslosenspeisungen auch die Global Cities des Nordens mitzugestalten beginnt.

4.2.4 Die neue industrielle Arbeiterklasse der Schwellenländer

Die Entwicklung der neuen industriellen Arbeiterklasse der Schwellenländer hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten die globale Klassenzusammensetzung entscheidend verändert. Im Verlauf der beiden letzten Konjunkturzyklen absolvierte sie rasant steigende Qualifikationsprozesse und erkämpfte sich erhebliche Einkommenssteigerungen. Die low tech- Sektoren der 1980er und 1990er Jahre wurden zunehmend an die benachbarten Peripherieländer weitergegeben, und mit ihnen verlagerte sich auch die Arbeiterklasse der »verlängerten Werkbank«, insbesondere der Textil- und Konsumgüterindustrien. Aufgrund des sich abflachenden Technologiegefälles und der inzwischen weitgehend abgeschlossenen Verlagerung wichtiger Schlüsselsektoren (Werften, Automobilindustrie, Elektro- und Elektronikindustrie, Chemieindustrie. Textilproduktion) hat sich die Klassenzusammensetzung zwischen den Schwellenländern und den entwickelten Regionen des Weltsystems zunehmend aufeinander zu bewegt. Das gilt auch für die prekären Segmente des arbeitenden Multiversums: Während sie sich in den emerging economies zunehmend verringerten, breiteten sie sich in den Metropolen erheblich aus.

4.2.5 Relative De-Industrialisierung und Prekarisierung der Arbeiterklasse in den bisherigen Zentren

Der industrielle Lohnarbeitssektor der Triade-Regionen (USA, Europa und Japan) ist in den vergangenen Jahrzehnten erheblich geschrumpft. Zugleich hat sich auch seine technische Zusammensetzung dramatisch verändert, weil die technologischen Innovationen alle Produktions- und Dienstleistungsbereiche erfassten und umwälzten. Viele besonders kampferfahrene und resistente Segmente der Arbeiterklasse sind auf diese Weise verschwunden (Drucker, die klassische manuelle Hafenarbeit) oder selbst in den großen Nationalökonomien auf wenige Hunderttausend reduziert worden. Parallel dazu sind prekäre und scheinselbständige Arbeitstätigkeiten zu einer wesentlichen Komponente der Klassenzusammensetzung in den Metropolen geworden. Der Rückgang der Arbeitseinkommen hat in den letzten Jahren alle Segmente erfasst, auch die so genannten Kernbelegschaften der Großindustrie, und durchschnittlich ein Viertel aller zur abhängigen Erwerbsarbeit Gezwungenen ist trotz überlanger Arbeitszeiten nicht mehr in der Lage, seinen Lebensstandard über der Armutsgrenze zu halten.

4.2.6 Homogenisierungs- und Fragmentierungstendenzen der Weltarbeiterklasse

Insgesamt hielten sich die Homogenisierungs- und Fragmentierungstendenzen der Weltarbeiterklasse im vergangenen Zyklus in etwa die Waage. In allen Regionen des Weltsystems gerieten die kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaften in eine möglicherweise finale Krise und setzten Prozesse der Massenmigration und der Herausbildung einer globalen Surplusbevölkerung frei, die der globalen Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter ein völlig neues Gesicht gaben, das vor allem durch transkontinentale und transkulturelle Mentalitäten geprägt ist. Ein umgekehrt gerichteter Homogenisierungsprozess ging auch von den lohnarbeitenden und industriellen Segmenten der Arbeiterklasse aus, die vor allem der – inzwischen abgeschlossenen – Periode der »Peripherisierung« der industriellen Massenproduktion geschuldet war.

Aber auch die Fragmentierungstendenzen waren erheblich. Obwohl sich die Arbeits- und Lebensbedingungen weltweit verschlechterten, haben sich die regionalen Unterschiede der proletarischen Lebensstandards erheblich vertieft. Zwischen den Überlebenschancen der Bewohnerinnen und Bewohner am Rand der Kloaken und Müllberge der Slum-Cities und den multikulturellen Prekären der metropolitanen »Kieze« bestehen gewaltige Unterschiede. Hinzu kommen Elemente einer »negativen« Homogenisierung, die wie etwa die zunehmende Fixierung auf die religiösen Heilsgüter oder die Unterwerfung unter mafiöse Klientelstrukturen weltweit die Tendenzen zur patriarchalischen und ethnopolitischen Regression verstärken. Gerade diese Tendenzen sollten wir nicht unterschätzen, denn sie beeinträchtigen unsere künftigen Handlungsmöglichkeiten erheblich. Es ist eine schwere Hypothek, dass 1979/80 im Iran der sozialrevolutionäre Flügel des shiitischen Islam durch die archaisch-gottesstaatliche Ayatollah-Fraktion vernichtet wurde; dass wenige Jahre später islamistische Organisationen die Restkader der nah- und mittelöstlichen Linken massakrierten und den Pauperismus der Region in patriarchat-reaktionären Strukturen der Sozialpolitik einfriedeten; dass die Unterklassen des US-amerikanischen rust belt heute von den Evangelikalen dominiert werden; und dass in den Slum Cities die Rudimente sozialer Sicherheit und eines minimalen Bildungswesens nur noch von den über hundert Millionen Mitgliedern chiliastischer Kirchengemeinden aufrecht erhalten werden. Aber auch in Europa hat die traditionelle Arbeiterbewegung die Arbeiterklasse verlassen: Wohin dies auch führen kann, zeigt uns der Fall Marseille, wo die zweite Generation der ArbeitsmigrantInnen nach dem Exodus der Sozialistischen Partei sich seit Beginn der 1980er Jahre zunehmend an die Sozialbüros des Front National anlehnte. Dadurch wird die durch die Krise so dringlich gewordene Rückkehr der Linken in die alltäglichen Realitäten der Arbeiterklasse zweifellos erschwert. Aber es gibt dazu keine Alternative.

Und diese Alternative scheint mir nicht aussichtslos zu sein. Nicht erst seit dem Übergang zur Krise beobachten wir eine deutliche Zunahme von Kämpfen und Revolten, in denen die Akteurinnen und Akteure solidarisch für einander eintreten, egalitäre Verhaltensweisen entwickeln und sich zunehmend weigern, die sozialen Kosten der Krise auf sich zu nehmen. Inzwischen wird von Massenrevolten ganzer Betriebsbelegschaften im chinesischen Perlflussdelta berichtet, die sich gewaltsam gegen die abrupten Fabrikschließungen und die Vorenthaltung der ihnen zustehenden Löhne zur Wehr setzen. Auch in den ländlichen Westprovinzen Chinas gärt es, und die lokalen und regionalen Aufstände gegen willkürliche Landenteignungen und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen häufen sich. Aber auch im Norden mehren sich die Zeichen eines neuen Aufbruchs. In Chicago und Schleswig-Holstein ließ die Betriebsbesetzung abrupt geschlossener Zulieferfirmen der Autobranche aufhorchen, und die Jugendlichen Frankreichs, Italiens und Griechenlands wehren sich gegen die Zerstörung ihrer Bildungschancen, zumal sie mit einer dramatischen Verschlechterung einer ihren erworbenen Qualifikationen entsprechenden Berufsperspektive einher gehen. In allen diesen Eruptionen schärft sich ein wachsendes Krisenbewusstsein, das sich mit der Parole »Wir bezahlen Eure Krise nicht« zu homogenisieren beginnt. Wird es gelingen, diesen solidarischen Grundtenor auch auf die Belegschaften der großen Fabriken zu übertragen und die von den meisten Betriebsräten und Gewerkschaften mit getragene hierarchisierte Abfolge der Entlassungen von den Prekären hin zu den »Kernbelegschaften« zu durchbrechen? Es sollte unter der Parole »Drei-Tagewoche? Prima – aber mit vollem Lohnausgleich für alle unabhängig vom jeweiligen Beschäftigungsverhältnis, denn wir brauchen zwei Tage pro Woche für die Übernahme der Anlagen in Selbstverwaltung –, zumindest versucht werden.

Alles in allem ist aufgrund der Krise ein weiterer globaler Proletarisierungsschub zu erwarten, der von der heraufziehenden neuen Welle der Massenerwerbslosigkeit in den bisherigen Krisenzentren USA, Europa und Ostasien ausgeht. Erneut werden Millionen von Menschen sozial abstürzen. Wie werden sie reagieren? Die proletarischen Familien, die sie umgebenden sozialen Gruppen und die vielschichtigen Segmente des proletarischen Multiversums haben unterschiedliche Optionen, sobald sie nichts mehr zu verlieren haben: Sie können revoltieren, um sich ihr Existenzrecht zu sichern und eine egalitäre Gesellschaft zu erkämpfen; sie können aber auch den Prozess der individuellen, familiären und sozialen Selbstzerstörung beschreiten, indem sie etwa die patriarchale Gewalttätigkeit restaurieren oder ethnische Konflikte aufladen, um ihr Überleben auf Kosten anderer proletarischer Gruppen zu sichern. Sie können drittens auch den Weg der politischen Regression wählen, indem sie ihre Ängste und Frustrationen auf neue Führer-Figuren und Exekutiv-Despotien projizieren, die ihr gesellschaftliches Potenzial zugunsten der Interessensicherung der nicht-proletarischen Klassen missbrauchen. Im Gegensatz zu diesen drei Handlungsoptionen wäre es selbstverständlich auch möglich, dass sie sich mit staatsinterventionistischen Reformprojekten der Krisenüberwindung zufrieden geben, die sich auf das nach wie vor enorme Erneuerungspotential der kapitalistischen Gesellschaftsformation stützen und dabei auch die proletarischen Überlebensinteressen – wie begrenzt auch immer – berücksichtigen. Wie könnten die egalitären Homogenisierungs- und Emanzipationstendenzen unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise gestärkt werden?


5. Umrisse eines Übergangsprogramms

5.1 Vorüberlegungen

Wir sollten uns zunächst einmal nicht denjenigen anschließen, die aus linksradikaler Perspektive auf die Beschleunigung und Vertiefung der Krisendynamik setzen, weil sie sich dadurch einen automatisch in Gang kommenden revolutionären Kollektivierungsprozess aller derjenigen erwarten, die nichts mehr zu verlieren haben. Die konzeptionelle Automatik von Krise und Revolution ist spätestens seit dem Ausgang der Großen Depression des vergangenen Jahrhunderts widerlegt. Darüber hinaus haben wir spätestens aus der Analyse der Dekolonisierungsprozesse die Erkenntnis gewonnen, dass die Waffen der Kritik nach ihrer Transformation in die Kritik der Waffen aus einer selbstbestimmten Position der Avantgarde heraus nicht zwangsläufig die ersehnte Befreiung, sondern häufig nur eine neue Klasse von government people hervorbringen und in blutige Bürgerkriege einmünden, sodass das emanzipatorische Anliegen nicht nur in sein Gegenteil verkehrt, sondern auch für Jahrzehnte seiner materiellen Grundlagen beraubt ist. Wir wollen verhindern, dass die Weltwirtschaftskrise in einen Weltwirtschaftskrieg der multipolaren Großmächte mit seinen Weiterungsfolgen zu neuen Großkriegen umschlägt. Wir sollten uns aber auch vor emotionsgeladenen, eschatologischen und gewaltfixierten Revolutionserwartungen in Acht nehmen, denn das proletarische Emanzipationsanliegen kann auch in einem zum Bürgerkrieg eskalierten Klassenkonflikt untergehen. Es gibt keinen Freibrief für diejenigen, die mit den Realitäten oder Gefahren des sozialen Absturzes konfrontiert sind. Diese Auffassung sollte jedoch nicht als Votum für einen »gandhistischen« Weg des gewaltlosen »zivilen Ungehorsams« missverstanden werden. Die selbstorganisierten Massenkämpfe zur Sicherung der materiellen Existenzgrundlagen und zur Wiederaneignung der Produktionsanlagen, des Wohnraums und der öffentlichen Güter sind ohne die Anwendung proletarischer Gewalt nicht denkbar. Gerade dieser Aspekt sollte genau so reflektiert und kollektiv gesteuert werden wie alle anderen Komponenten des neu heraufziehenden Klassenkonflikts.

Aus allen diesen Gründen benötigt die emanzipatorische Perspektive eine analytisch ausgewiesene Vision der Gesellschaftstransformation, die mit unmittelbar greifenden Aktionsprogrammen verknüpft ist. Damit die Krise weder in eine Reformperspektive zur »Erneuerung des Kapitalismus« noch in die drei möglichen Varianten der Barbarei führt – innere Selbstzerstörung, Bürgerkrieg und kapitalistischer Weltwirtschaftskrieg als Vorstufe neuer Großkriege –, sollte die Perspektive der proletarischen Selbstemanzipation auf zwei Handlungsebenen verteilt werden, damit diese ineinander greifend wirksam werden: Erstens in einen Handlungsrahmen zur radikalen Zuspitzung der anlaufenden antizyklischen Reformprogramme, und zweitens davon ausgehend in eine Programmatik zur Initiierung eines Projekts der revolutionären Transformation der kapitalistischen Gesellschaftsformation.

5.2 Forcierung und Zuspitzung der reformorientierten Programme zur Krisenüberwindung

5.2.1 Die Kapitalvermögensbesitzer sollen für die Krise bezahlen

Auf der ersten Handlungsebene sollten wir die Regierungsgarantien für das Finanzsystem und die jetzt in Gang kommenden großen Konjunkturprogramme in China, den EU-Ländern, USA und Japan umkehren. Die Hauptmasse der bis jetzt mobilisierten 7 Billionen $ soll zur Existenzsicherung der globalen Massenarmut, der kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaften des Südens, der Erwerbslosen und Prekären der Schwellen- und Metropolenländer sowie der industriellen Arbeiterklasse umgeleitet werden. Dieses Vorgehen ist mit einer radikalern Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich sowie der Egalisierung der Arbeitsbedingungen zu verbinden, und die sozialen Sicherungssysteme sind entweder neu zu begründen (China und andere Schwellen- und Entwicklungsländer) oder wieder auszubauen (Ausdehnung der unbefristet auf drei Viertel des Durchschnittseinkommens anzuhebenden Arbeitslosengeldbezüge, Rückerstattung der in den letzten Jahren gestrichenen Rentenanwartschaften und Rentenbezüge, Ausbau des Bildungswesen und Rekonstruktion des Gesundheitssektors entsprechend den Massenbedürfnissen). Dieser Transfer soll nicht etwa durch den weiteren Ausbau der Staatsverschuldung, sondern vielmehr durch die Konfiskation der großen Kapitalvermögen (ab 50 Millionen $) und die progressiv ansteigende Besteuerung aller Kapitalvermögen über 1 Millionen $ sowie aller Jahreseinkommen ab 150.000 $ finanziert werden.

Diese massive Umverteilung des Reichtums von oben nach unten strebt keineswegs eine systemimmanente Stabilisierung des Krisenzyklus an, aber sie macht sich das Bestreben der keynesianischen Reformökonomen zunutze, die Schere zwischen Überakkumulation und Unterkonsumtion durch die Steigerung der Masseneinkommen zu schließen und dadurch den Krisenzyklus zu überwinden. Denn zwischen den Lebens- und Konsumtionsbedürfnissen der Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter und der volkswirtschaftlichen Größe der »Massenkaufkraft« besteht ein unüberwindlicher qualitativer Unterschied, der den Eigentumslosen im Prozess ihrer Homogenisierung die Chance eröffnet, die antizyklische Krisenpolitik der jetzt an die wirtschaftspolitischen Schalthebel gelangenden Machtgruppen über sich hinauszutreiben. Dafür sind weltweit koordinierte Massenaktionen, aber auch eine weltweit vernetzte Informationskampagne erforderlich, die jegliche institutionelle Anbindung an die Projekte und Parteien einer systemimmanent bleibenden antizyklischen Politik der Krisenüberwindung vermeidet.

5.2.2 Neue Weltwährung und Wiedereinführung fester Wechselkurse

Parallel dazu sollten wir uns für die Einführung einer neuen Weltwährung einsetzen, die aus einem repräsentativen Währungskorb der Nationalökonomien aller Reichtumsgrade zusammengestellt und garantiert ist. Ausgehend davon können auch wieder feste Wechselkurse durchgesetzt werden, die durch Transfers zum Ausgleich von Unter- und Überbewertungen, zur Standardisierung der Währungsreservenbestände und zur wechselseitigen Stabilisierung der Zahlungsbilanzen genutzt werden. Dadurch kommt das überakkumulierte Weltfinanzsystem weitgehend zum Verschwinden. Aber auch die tödliche, immer mehr dem Abgrund zutreibende Dollarsymbiose zwischen Washington und Peking könnte dadurch überwunden werden.

5.2.3 Demokratisierung der wirtschaftlichen Restrukturierungsprogramme

Drittens sollten wir im Rahmen der sich weltweit entwickelnden Massenkämpfe dafür eintreten, dass basisdemokratisch gewählte Repräsentationen der Arbeiterinnen und Arbeiter in die anlaufenden Redimensionierungs- und Restrukturierungsprozesse der großen Wirtschaftszweige eingeschaltet werden und die Co-Manager der Arbeiterbürokratien (Gewerkschaften und Betriebsräte) ablösen. In den nächsten Wochen und Monaten wird vor allem die Restrukturierung der Kraftfahrzeugbranche im Vordergrund stehen. Deshalb erscheint es dringend geboten, ausgehend von den zu erwartenden Betriebsbesetzungen eine weltweit vernetzte Assoziation der AutomobilarbeiterInnen zu gründen, die dem Kampf für radikale Arbeitszeitverkürzungen und egalisierte Arbeitsbedingungen (vor allem Aufhebung der Kluft zwischen »Rand-» und »Kernbelegschaften«) mit der Forderung nach der beschleunigten Entwicklung schadstoff-freier und »re-sozialisierter« Transportmittel verbindet. Vom Gelingen dieser Initiative wird es weitgehend abhängen, inwieweit der Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter ein weltweiter Aufbruch zur selbstbestimmten Krisenüberwindung gelingt und ein protektionistischer Prozess der De-Globalisierung im kapitalintensivsten Segment des kapitalistischen Weltsystems verhindert wird. Zugleich wäre damit eine Matrix geschaffen, um auch in den benachbarten Sektoren (Energie, Transportmittelkette) Masseninitiativen zu starten und diese dann hinsichtlich ihrer handlungsorientierten Zielsetzungen untereinander abzustimmen. Darüber hinaus würden auf diese Weise auf Massenebene Lernprozesse in Gang kommen, die von Anfang an global vernetzt sind und als Vorbereitung auf die kollektive Selbstverwaltung der gesellschaftlichen Lebens- und Reproduktionsprozesse dienen können.

5.3 Lokal – International – Global: Erste Eckpunkte eines revolutionären Transformationsprogramms

5.3.1 Drei elementare Voraussetzungen

Durch die Forcierung und Zuspitzung der antizyklischen Reformprogramme soll der Weg für einen revolutionären Transformationsprozess freigemacht werden: Sie ermöglicht kollektive Lernprozesse, die das Massenbedürfnis nach einem Umbruch in Richtung Selbstemanzipation und gesellschaftlicher Autonomie hervorbringen. Denn der Übergang zum Sozialismus hat nur dann eine Chance, wenn er weltweit zu einem dominierenden Massenbedürfnis herangewachsen ist. Dieser Prozess benötigt Zeit sicher mehrere Jahre. Aber auch der Transformationsprozess selbst wird sich über Jahrzehnte hinziehen, bevor der point of no return erreicht ist, an dem die Selbstverwaltung der unmittelbaren Produzenten über die von ihnen angeeigneten Produktions- und Reproduktionsgrundlagen egalitäre und basisdemokratische Strukturen erzeugt hat, die eine Restauration von Klassenherrschaft unmöglich machen.

5.3.2 Lokal und Regional: Soziale Wiederaneignung auf basisdemokratischer Grundlage

Elementare Voraussetzung ist erstens die Durchsetzung basisdemokratischer Strukturen (Umstellung der Gewerkschaften auf das Vertrauenleutekörpermodell: keine »Freistellungen« mehr, also keinerlei verdeckte oder offene Privilegien durch die Delegation; jederzeit widerrufbares Mandat durch die Basis; Rotation, damit alle, auch die scheinbar weniger Fähigen, in diese Funktion hineinwachsen; Entbürokratisierung und Abbau der Co-Manager-Gehälter ihrer Leitungsgremien; basisdemokratische Umgestaltung der Kommunalparlamente und -verwaltungen als erste Schritte einer allgemeinen und von unten nach oben fortschreitenden Entstaatlichung.

Zweitens sind die Steuereinkommen schwerpunktmäßig auf die kommunalen Strukturen umzuleiten (Modell Schweiz, wo 60 Prozent der Gesamtsteuern in die Kommunen gehen). Wenn dies erreicht ist, wird das Interesse der Bevölkerung an der Selbstverwaltung ihrer Einkommensabzüge geweckt, wodurch sich die basisdemokratischen Lernprozesse mit legitimen Eigeninteressen verbinden.

Drittens sollten wir eine radikale Senkung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Anhebung und Homogenisierung der Arbeitseinkommen ansteuern, um die erforderliche disponible Zeit und die nötigen Ressourcen für den Aufbau einer basisdemokratischen Selbstverwaltung zu schaffen. Die Akteure der basisdemokratischen Selbstverwaltung treiben nicht nur die Sozialisierungsprozesse voran, sondern verabschieden auch die »Politische Klasse« im Prozess einer von unten voran schreitenden Aufhebung der Machtstrukturen (Entstaatlichung).

Ausgehend von diesen drei elementaren Prämissen sollte es möglich sein, erste Initiativen für lokale bzw. regionale Autonomie zu begründen, sie mit den lokalem bzw. regionalen Segmenten der Arbeiterbelegschaften zu verknüpfen und gemeinsam mit ihnen ein erstes Untersuchungsprojekt über die lokalen und regionalen Besonderheiten der Klassenzusammensetzung in Gang zu bringen.

Wenn dies gelingt, dann wird auch das heute unmöglich Erscheinende zu einem Massenbedürfnis werden. Die AkteurInnen der kommunalen Basisdemokratien werden darangehen, sich die für die Lebensprozesse ihrer Region wichtigen Produktionsanlagen anzueignen und gemäß ihren Bedürfnissen umzugestalten: Die Trink- und Abwassersysteme der Slum Cities, die kommunale Sozialisierung des Bodens zugunsten der Landlosen und Kleinbauern, aber auch die Sozialisierung des Wohnungssektors und der kommunalen Wirtschaftsbetriebe. Parallel dazu werden sie die kommunale und regionale Sozialisierung der öffentlichen Güter (Sozialfonds, Transport, Bildungswesen, Gesundheitswesen, Sparkassen usw.) in Gang bringen. Auf diesen elementaren Grundlagen der aufeinander aufbauenden kommunalen und regionalen Selbstverwaltung der gesellschaftlichen Lebensprozesse werden schließlich Strukturen der gesellschaftlichen Autonomie entstehen, die nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Manager-Eliten verabschieden, sondern auch das Aufkommen einer neuen Experten- und Bürokratenkaste verhindern. Parallel dazu werden sich die kommunalen Sozialisierungsprozesse auf regionaler, subkontinentaler und kontinentaler Ebene miteinander verbinden.

5.3.3 Gründung internationaler Föderationen der Arbeiterinnen und Arbeiter

Ohne den gleichzeitigen Aufbau internationaler Schnittstellen sind die kommunalen und regionalen Transformationsprozesse auf Dauer nicht lebensfähig. Diese könnten am ehesten aus den oben vorgeschlagenen transnationalen Branchengewerkschaften hervorgehen, indem sie die strategischen Segmente der Weltwirtschaft in ihre Selbstverwaltung überführen. Sie hätten von Anfang an auch die Aufgabe, die sich bildenden kommunalen und regionalen Basisdemokratien global zu vernetzen und vor konterrevolutionären Angriffen durch Generalstreiks zu schützen.

Die transnationalen Gewerkschaften sollten sich beim Übergang zu Selbstverwaltungsföderationen auf alle diejenigen Wirtschaftsbranchen konzentrieren, die weltweit operieren und über die regionalen Produktions- und Reproduktionssysteme hinausreichen, die regionalen Rätedemokratien beliefern und die Gegenmacht der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Schlüsselsektoren des Weltsystems etablieren, insbesondere in der internationalen Transportkette, aber auch in den Medien, der Informationstechnologie usw.

Als exemplarisches Modell könnte im Anschluss an die Rekonstruktion und Sozialisierung der Kraftfahrzeugindustrie die globale Transportkette dienen, weil in ihr besonders reiche Organisations- und Kampferfahrungen vorliegen (ITF, Streiks in der Luftfahrt, im Eisenbahnwesen und bei den LKW-Fahrern). Die ITF bräuchte nur demokratisiert und auf alle Segmente der Transportkette ausgedehnt zu werden.

5.3.4 Weltföderation der Autonomie

Sobald sich die ersten Rätedemokratien und Arbeiterföderationen konsolidiert haben, könnten sie an die Gründung einer Weltförderation der gesellschaftlichen Autonomie herangehen, die als Schnittstelle zwischen den Rätedemokratien und den internationalen Förderationen der Arbeiterinnen und Arbeiter fungieren wird. In dieser Weltföderation werden die rätedemokratischen und föderativen Repräsentationen der Subkontinente bzw. Kontinente gleichberechtigt vertreten sein. Sie gründet eine Reihe von Rekonstruktions- und Transformationsfonds, um die geographischen Ungleichgewichte in der materiellen Existenzsicherung, der Lebensmittel- und Energieversorgung, beim Einkommen sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen aufzuheben. Weitere Fonds werden sich darauf konzentrieren, die weltweite Abrüstung durchzuführen (Fonds für Rüstungskonversion), die Ökosysteme wieder herzustellen und die materiellen Produktionsprozesse als tätige Lebensprozesse der Menschheit mit den Naturprozessen in Übereinstimmung zu bringen. Darüber hinaus könnte sich ein spezieller Konfliktfonds um die Überwindung der auch außerhalb des kapitalistischen Systems entstandenen Herrschaftsstrukturen (patriarchale Herrschaft, ethnische Konflikte, Rassismus) bemühen.

5.3.5 Globale Assoziation für Autonomie

Nach langem Zögern habe ich mich dazu durchgerungen, eine organisatorische Vorwegnahme dieses Konzepts durch eine weltweit vernetzte Assoziation vorzuschlagen, die auf allen drei Ebenen gleichzeitig aktiv wird. Es soll sich dabei nicht um eine Kaderorganisation mit Avantgardeanspruch handeln, sondern um einen freien und basisdemokratisch verfassten Zusammenschluss von Menschen, die das hier vorgelegte Konzept kritisiert, korrigiert, überarbeitet, erweitert und sich sodann zu eigen gemacht haben, um seine Nützlichkeit im Dialog mit dem proletarischen Multiversum zu testen. Die sich dabei ergebenden Erfahrungs- und Lernprozesse werden zu einer fortlaufenden Korrektur des Modells führen. Sobald das proletarische Multiversum den Übergang zur globalen Autonomie unumkehrbar zu machen beginnt, wird sich diese Assoziation wieder auflösen.

In diesem Sinn wären die ersten drei simultanen Schritte zur Begründing eines solchen Zusammenschlusses folgendermaßen zu bestimmen: Es sollten erste lokale bzw. regionale Initiativegruppen auf allen Kontinenten gegründet und ein gemeinsames Kommunikations- und Öffentlichkeitsnetz (Internet, regionale Medien) installiert werden. Die Assoziation sollte sich zweitens an der Gründung transnationaler Föderationen der Arbeiterinnen und Arbeiter in den wichtigsten Schlüsselsektoren beteiligen. Drittens sollte sie eine globale Krisenanalyse initiieren, wobei die sozialen Krisenauswirkungen besonders zu berücksichtigen wären (Globale Sozialberichte). Parallel dazu sollten der konzeptionelle Rahmen und die sich daraus ergebenden Handlungsoptionen erarbeitet und laufend weiterentwickelt werden.


Ausblick

Diese Vorschläge erscheinen überzogen und utopisch. Ich halte konkrete Utopien jedoch für angemessene Antworten auf historische Umbruchsituationen, weil sie uns von der »Tradition der toten Geschlechter« befreien, »die wie ein Alb auf dem Gehirn der Lebenden« lastet (Marx) und uns den Blick auf plötzlich auftauchende Handlungsmöglichkeiten verstellt. Wer aber soll sie umsetzen? Wie können wir es wagen, eine neue Dialektik zwischen der konzeptionell-organisatorischen Vorwegnahme einer neuen »politischen« Klassenzusammensetzung und der sozialen und kulturellen Zusammensetzung des Multiversums der Eigentumslosen vorzuschlagen? Wer gibt uns das Recht dazu nach Jahrzehnten der Niederlagen und der strategischen Fehler, durch die wir im vergangenen Zyklus unglaubwürdig wurden?

Bedenken wir aber im Gegenzug, dass wir uns in eine welthistorische Situation hineinbewegen, in der sich das strategische Fenster neu öffnet, so dass die Karten neu gemischt werden. So wie unsere Kinder, Nichten und Neffen uns heute fragen, was wir zwischen 1967 und 1973 gemacht haben, so werden die nachwachsenden Generationen an die Jüngeren unter uns später die Frage richten, wo und wie sie in den Krisen- und Depressionsjahren 2008 bis 2012 aktiv gewesen sind. Nichts ist unmöglich. Wer weiß, ob die chinesischen Bauern-Arbeiter sich im kommenden Frühjahr des Staatsdespotismus entledigen werden, der sie seit den 1990er Jahren mit eiserner Faust an die zentrale Schuldner- und Gläubigerachse des Weltwirtschaftsmotors kettet. Der Dollar würde sofort ins Bodenlose stürzen, und wir wären mit zwei Tatsachen konfrontiert: Erstens mit der abrupten Vertiefung der Weltwirtschaftskrise über das Niveau der Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts hinaus, und zweitens mit dem Auftreten eines neuen Akteurs auf der weltgeschichtlichen Bühne, der sich in der ersten Krisenphase eher weggeduckt hat: Der Weltarbeiterklasse. Es kann aber genau so gut sein, dass die sich in China und sonst wo abzeichnenden Massenrevolten scheitern und durch die Konterrevolution brutal erstickt werden – noch gewalttätiger als die Aufbrüche zu neuen Ufern in der Türkei 1970/71, in Chile 1973, in Argentinien 1976 und in Italien 1979. Dann wäre der Weg zu einem Szenario frei, in dessen Verlauf der sich verschärfende Weltwirtschaftskrieg der multipolaren Mächte nicht mehr »ultraimperialistisch« gekittet werden kann und eine neue Ära der Großkriege eröffnet. Vielleicht wird es aber auch nicht zu derartigen Zuspitzungen kommen, vielleicht gelingt es der Achse Washington-Peking, die Krise zu bändigen und eine neue Etappe des staatsinterventionistischen Klassenkompromisses einzuleiten. Aber auch in diesem Fall würden sich neue Handlungsmöglichkeiten ergeben, denn dann wird ein neuer Zyklus des Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital beginnen. Auch für den Fall der Durchsetzung dieser »milden« Variante des Krisenausgangs sollten wir schlüssige Antworten vorbereiten, die dem Projekt der sozialen Gleichheit und des gesellschaftlichen Fortschritts verpflichtet sind.



[1] Das Buch wird im März 2009 unter dem Titel "Globales Proletariat – Provinzielle Linke?" im VSA-Verlag Hamburg erscheinen.


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