Brief aus Paris im Ausnahmezustand, verfasst kurz nach den Anschlägen. Für die Übersetzung haben wir den Text leicht gekürzt. Eine aktualisierte Fassung wird in Wildcat 99 erscheinen, die Anfang Januar herauskommt.
Die Attentate vom 13. November haben zuallererst die Schwäche eines Landes aufgezeigt, das sich in Sicherheit wähnte vor den Konsequenzen der Kriege, die sein Staat im Nahen Osten und in Afrika führt. Da die französischen Truppen seit gut 15 Jahren bombardieren und töten, musste man aber damit rechnen, dass eines Tages die Rechnung präsentiert würde. Ihr mörderischer Wahnsinn hindert die Terroristen nicht daran, nach einer gewissen Logik zu handeln; sie legten Wert darauf, ihren Geiseln, bevor sie viele von ihnen töteten, zu erklären, dass ihr Angriff eine Antwort auf die französischen Bombardements in Syrien und dem Irak ist und sie den Franzosen das gleiche antun wollten, was die Menschen unter den Bombardierungen des Westens erleiden.
Dem unmittelbar nach den Attentaten erklärten Ausnahmezustand stimmte das Parlament am 19. November zu. Er erweitert die Befugnisse der Polizei, Hausdurchsuchungen, Festnahmen und die Verhängung von Hausarrest sind ohne richterlichen Beschluss möglich, Demos in einem großen Gebiet rund um Paris verboten. Im Kontext einer Sicherheitshysterie wurde der Ausnahmezustand fast einstimmig gebilligt, von 577 Abgeordneten sprachen sich nur sechs gegen seine Verlängerung auf drei Monate aus (drei Sozialisten und drei Grüne). Gegen den Beschluss, Syrien zu bombardieren, stimmten nur vier Abgeordnete (darunter zwei Sozialisten aus Versehen....). Seit der Verhängung des Ausnahmezustands haben sich die Willkürmaßnahmen der Polizei vervielfacht.1
Der Ausnahmezustand beschleunigt die autoritäre Entwicklung des Staats, die sich seit Jahren in immer weiteren repressiven Gesetzen ausdrückt. Der Kampf gegen den Terrorismus bestätigt zwar ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Sicherheit (auf das Sarkozy seine Wahlsiege aufgebaut hatte), er verschiebt aber vor allem die politische Achse des Landes insgesamt nach rechts. Der Front National wächst weiterhin, weil die gesamte politische Klasse in Verruf geraten ist. Die linke Opposition aus KPF, Linkspartei und Ökologisten kann sich zur Zeit nach innen nicht einigen und nach außen weder eine alternative Politik vorschlagen, noch das Kräfteverhältnis zur Sozialistischen Partei verändern.
Reaktionen aus den linksradikalen Milieus bleiben bisher sehr bescheiden. Am Sonntag, 22. November gab es trotz Demonstrationsverbot eine kleine Solidaritätsdemo mit den Migranten; die Bullen haben im Vorfeld vergeblich versucht, sie zu verhindern. Kaum 500 Leute, aber 68 Vorladungen zur Polizei, denen Verhöre folgten und manchmal Polizeigewahrsam, die sofortige Vorführung vor den Strafrichter oder Hausarrest – das betraf insbesondere Leute, welch Zufall!, die stark in die Vorbereitung von Protesten gegen den Klimagipfel einbezogen waren. Am Donnerstag, 26. November kam es zu einer nicht genehmigten, aber tolerierten Demo gegen das Demoverbot.
Bereits am Samstag, 29. November, einen Tag vor Eröffnung des Klimagipfels, bildeten im Zentrum von Paris etwa 20 000 Menschen eine große Kette, um das Demonstrationsverbot zu umgehen. Aufgerufen hatten die Clima Coalition und Alternatiba. Allen war klar, dass der Ausnahmezustand der Regierung eine wunderbare Gelegenheit bot, den großen Stachel zu ziehen, den die großen Operationen und Demos dargestellt hätten, die von der Clima Coalition vorbereitet worden waren. Die hatte aber nicht den Mumm, ihren Demoaufruf aufrechtzuerhalten – was bei der großen Anzahl kein großes Risiko gewesen wäre – sondern begnügte sich mit 45 Minuten Menschenkette auf dem Bürgersteig. Plötzlich liefen die TeilnehmerInnen zum Platz der Republik, und dieser freundlich gemeinte Auflauf wurde von den Bullen mit Tränengas und Gummiknüppeln beendet, mit 317 Festnahmen, die wahrscheinlich schwerwiegende juristische Konsequenzen haben werden. Die Medien haben sich selbstverständlich auf die »schwarzgekleideten Gewalttäter« konzentriert, die Steine geworfen und die Zusammenstöße provoziert hätten; damit haben sie lediglich von der Gewalt der Bullen abgelenkt, die so heftig wie selten war.
Die Reaktionen aus der Welt der Verbände sind weniger spektakulär, aber wahrscheinlich folgenreicher: Teile der Basis von Verbänden wie der Liga für Menschenrechte, Attac, Solidaires, verschiedenen ökologischen Gruppen und sogar der CGT haben darauf gedrängt, an der Demo teilzunehmen und sich damit über das Verbot hinweggesetzt; damit haben sie staatlichen Anordnungen zuwidergehandelt, was normalerweise nicht zu ihren Gewohnheiten gehört. Das Vorgehen der Bullen in den letzten Tagen könnte den Unmut vertiefen und verbreitern und Bevölkerungsteile erreichen, die für gewöhnlich nicht protestieren. Die vom Ausnahmezustand gerechtfertigten Polizeipraktiken zwingen sogar die allerlegalsten Verbände unter dem Druck ihrer Basis dazu, ihre Reserviertheit zu überwinden.
Die Maßnahmen während des Empfangs der Staatschefs haben den Verkehr in der gesamten Region chaotisiert (Autobahnen und Ausfallstraßen waren blockiert, der öffentliche Nahverkehr war zwar gratis, aber es wurde stark davor gewarnt), und das hat jedenfalls weit größere Kreise erbost als die üblichen Linken. Die großen Medien ihrerseits haben sich schnell hinter die Regierung gestellt; sie verteidigten den Ausnahmezustand und priesen im Voraus den Erfolg des Klimagipfels. Sein vorhersehbares Scheitern wird diese Schwärmereien abkühlen. Aber die Regierung will retten, was zu retten ist von einer Sozialistischen Partei, die sich vor allem aus Mandatsträgern zusammensetzt und nur noch von öffentlichen Geldern lebt.
In Wirklichkeit zeigt die Propaganda rund um den Klimagipfel nur das wachsende Misstrauen gegenüber der Politik. Die sicherheitspolitischen Niederlagen und die Ineffizienz der Überwachung durch die Geheimdienste führen dazu, dass sich die Parteien zerfleischen.
Der Ausnahmezustand legt sich wie ein Schalldämpfer über mehrere derzeit laufende Kämpfe – die aber trotzdem weiter gehen. Allein in der Pariser Region ist das der Streik der Postbeamten im Departement Hauts-de-Seine, der bereits seit über einem Monat andauert, oder der Streik bei der Pariser Reinigungsfirma OMS, der seit acht Wochen läuft, sowie der Kampf bei Air France gegen die geplanten 2900 Entlassungen, der gerade durch Strafverfahren gegen einige von ihnen verschärft wurde (die Anklage lautet auf »Körperverletzung«, wo sie doch den Personalchef in einem kollektiven Wutausbruch nur symbolisch verletzt haben).
Der Kontext zu all dem ist die schwelende, aber andauernde Wirtschaftskrise. Austerität und wachsende Ungleichheit stehen weiterhin auf der Tagesordnung – genauso wie die Unzufriedenheit, die überall hervorquillt.
Paris, 30. November 2015
G. Soriano et N. Thé