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15.09.2017

»Es gibt wahrscheinlich keinen besseren Maßstab für die Krise eines Akkumulationsmodells als den Verkehr und seine Infrastruktur.«1 Stuttgart 21, BER, Konkurs von Air Berlin, Super-GAU auf der Rheintalbahn, Pleite beim ÖPP-Vorzeigeprojekt A1 Mobil, Dauerkrise bei der Berliner S-Bahn, Rekordstaus auf den Fernstraßen, Dieselgate, drohende Fahrverbote...

Erstickt der Kapitalismus am Verkehr?

Keine Wahlempfehlung, sondern ein paar Gedanken zum Verfall der Infrastruktur und eines Gesellschaftssystems

Angesichts der vielen Pannen meinte die Berliner Zeitung Ende August, Infrastruktur sei nun »Sprengstoff im Wahlkampf«. Das sollte wohl den langweiligsten Wahlkampf seit Bestehen der BRD etwas aufmöbeln – machte aber nur umso deutlicher, wie groß die Probleme sind und wie sehr das Parteiensystem davon abgehoben ist.

Das verfilzte Kartell aus Politik, Autoindustrie und Verkehrsunternehmen verarscht alle: die Bewohner der Städte, die Leute, die sich ein Auto gekauft haben oder mit dem Zug fahren, die Beschäftigten in der Autoindustrie und im Logistikbereich, die seit vielen Jahren mit Privatisierung, immer schlechteren Bedingungen und miesen Löhnen zu tun haben.

Alle sehen, wozu der jahrzehntelange Angriff auf die Bedingungen, die sich die ArbeiterInnen in den Großbetrieben erkämpft hatten, geführt hat: Just-in-time verstopft die Straßen; Auslagerungen drücken die Löhne; Kostensenkung führt zu Dieselgate; das Schaffen neuer Profitmöglichkeiten führt zu Stuttgart 21, ÖPP und Korruption.

Wie können wir im Kampf gegen die Ursache von all dem zusammen kommen? Das ist gar nicht so einfach, und die Deutsche Umwelthilfe hilft uns dabei ganz sicher nicht! Auf der anderen Seite arbeitet die AfD mit dem ADAC-Spruch »Freie Fahrt für freie Bürger«; schon 1989 haben die Republikaner damit beim Kampf gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Berliner Avus geschickt Stimmen gefischt.

Bankrott von A1 Mobil und Klage gegen die Bundesregierung

Seit Jahren betreibt der Staat die Privatisierung möglichst vieler Bereiche. Dabei geht es immer um die Absenkung der Bedingungen der Beschäftigten einerseits und um neue Geschäftsmodelle für das (Finanz-)Kapital andererseits. Das aktuelle Modell der Wahl ist dabei ÖPP (oder auch PPP abgekürzt: Private-Public-Partnership). Es wird eingesetzt bei der Verwaltungsmodernisierung (Archivierung und Aktenbeschaffung), beim Bau von Rechenzentren, im Dienstleistungs- und Gesundheitssektor, bei Schulen, Bibliotheken usw. Allem voran aber im Straßenbau, der bei der Durchsetzung dieses Modells eine wichtige propagandistische Funktion hat. Private Unternehmen übernehmen die Finanzierung, den Bau und Betrieb der Fernstraßen. Der Staat räumt ihnen die Möglichkeit ein, beim Bau die Generalunternehmerregelung zu benutzen – was er bei seinen eigenen Ausschreibungen nicht darf. Die ÖPPs können deshalb mit Subunternehmern bauen und das Projekt in einem Rutsch durchziehen. Das soll Akzeptanz bei den von vielen hundert Dauerbaustellen geplagten Autofahrern schaffen – und es verschlechtert die Bedingungen der Bauarbeiter.

Die Baukosten refinanzieren die Unternehmen mit den Einnahmen aus dem Betrieb der Straße. Deshalb fordert die Bauindustrie den schnellen Umstieg in eine »nutzerfinanzierte Verkehrswegefinanzierung«, und deshalb kommt nun zu der LKW- auch die PKW-Maut; dabei handele es sich wohl »um eine Art Privatisierungsmaut?« mutmaßte Heribert Prantl in der Süddeutschen.2

Für das bisher größte deutsche PPP-Projekt, A1 Mobil, ein Teilstück der Autobahn A1 kommt die womöglich zu spät, denn es steht vor der Pleite – und zwar seit 2013, wie man inzwischen weiß; dabei war es erst im Oktober 2012 fertig geworden. Die Gewinne sind nicht so gesprudelt, wie die »Investoren« sich das ausgerechnet hatten; aktuell reichen die Einnahmen aus der Maut nicht einmal, um die Zinsen zu bezahlen. Nun verklagt die Firma den Staat auf die Differenz zwischen den tatsächlichen und den zuvor erwarteten Einnahmen, 778 Millionen Euro – schließlich geht es bei ÖPP um garantierte Gewinne! Interessanterweise hat das Konsortium mit der Klage so lange gewartet, bis Bundestag und Bundesrat extra das Grundgesetz geändert und die Errichtung einer zentralen Infrastrukturgesellschaft beschlossen hatten. Im Deal mit Ministerpräsidenten und SPD wurde die größte Grundgesetzänderung seit über zehn Jahren im Juni 2017 in 48 Stunden durch Bundestag und Bundesrat gepeitscht.

Die Klage ist aus einem zweiten Grund interessant; ihr zufolge wurden insgesamt 1,3 Milliarden Euro investiert, davon 515 Millionen Euro für den Ausbau, 265 Millionen auf Unterhalt und Betrieb – und 518 Millionen Euro kostete die Finanzierung. Es ging also mehr Geld in die »Finanzierung« (das heißt als Zinsen an die Banken), als in den tatsächlichen Ausbau!3 Das macht die Funktion des Finanzprodukts ÖPP deutlich: der Bau-Industrie und dem Finanzkapital garantierte Einnahmen zuschustern. Verkehrsminister Dobrindt (und sein Vorgänger Ramsauer) wussten das – anders würden sich die Banken und »Investoren« gar nicht auf das Geschäft einlassen.

Rechtsexperten zufolge würde die Bundesregierung den Prozess wahrscheinlich verlieren. Deshalb kaufen sich bereits Hedge Fonds bei A1 Mobil ein, darunter zwei, die in den vergangenen Jahren Milliardenzahlungen von der argentinischen Regierung erstritten und das Land zu einem rigiden Sparkurs gezwungen haben. Erste deutsche Banken haben ihre Forderungen bereits weiterverkauft und zwar machte ausgerechnet die staatliche (!) L-Bank aus Baden-Württemberg den Anfang.

Am Ende zahlen den Scheiß wir alle. Das hat man bereits in der globalen Krise vor zehn Jahren gesehen, als die Banken mit Billionenbeträgen gerettet wurden. Der deutsche Staat hat genau damals die Privatisierung des Autobahn-Neubaus und des Unterhalts der Strecken forciert.

In Spanien hat man bereits Erfahrung mit der Pleite von privat betriebenen Autobahnen. Ende August wurde dort beschlossen, neun Pleiteautobahnen in eine staatliche Gesellschaft zu überführen.

Am 11. September wurde bekannt, dass der Staat Beträge in zweistelliger Millionenhöhe zuviel an private Autobahnbetreiber überwiesen hat. Ihnen steht nur die Maut von LKWs über 12 to zu, sie haben aber auch die im Oktober 2015 eingeführte Maut auf 7,5-Tonner eingestrichen. Auch die von der Pleite bedrohte A1 Mobil hat etwa vier Millionen zuviel erhalten.

Trotz all des Geldes ist die A 1 nicht das einzige bankrotte ÖPP-Projekt. Auch die Via Solutions Südwest auf dem A 5-Abschnitt zwischen Karlsruhe und Offenburg rechnet noch lange mit hohen Verlusten. Und auf dieser Strecke zwischen Karlsruhe und Offenburg ist noch ganz was anderes los:

Rheintalbahn: der Supergau

Die rund 200 Kilometer lange zweigleisige Strecke zwischen Karlsruhe und Basel ist eine der meistbefahrenen Bahnstrecken und die wichtigste Nord-Süd-Trasse in der BRD. Sie ist Teil einer der bedeutendsten Güterschienenstraßen Europas von Rotterdam nach Genua; rund die Hälfte des Warenaustauschs zwischen Nordeuropa und Italien läuft darüber. Mit täglich bis zu 300 Zügen ist sie bis an die Kapazitätsgrenze ausgelastet. Seit Mitte August ist sie zwischen Rastatt und Baden-Baden komplett gesperrt.

1980 wurde das Projekt in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen, die Strecke vierspurig auszubauen, damit der Güter- und der Personenverkehr entkoppelt werden können. 1996 verpflichteten sich die BRD und die Schweiz gemeinsm auf dieses Ziel. Die Schweiz und vor allem die Niederlande haben seither große Fortschritte gemacht (der Gotthard-Basistunnel ist fertig; bereits seit 2007 gibt es eine reine Güterverkehrsstrecke von Rotterdam bis zur deutschen Grenze). Italien und die BRD hingegen sind viele Jahre in Verzug. Italien könnte allerdings 2021 fertig werden – die BRD nach optimistischen Schätzungen 2035.

Das Problem sind nicht nur »bürokratische Hürden, Korruption und Ineffizienz der Bauarbeiten« (NZZ), sowie der Bund, der immer wieder die Finanzierung verzögert hat; es sind vor allem die politischen Entscheidungen, die Hochgeschwindigkeitsstrecken für Personenzüge auszubauen und Protzprojekte wie Stuttgart 21.

Inzwischen sind die Fernstraßen dermaßen verstopft, dass es eine leichte Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene gibt. Laut der letzten Prognose des Bundesverkehrsministeriums wird der Güterverkehr auf der Schiene bis 2030 um 43 Prozent zunehmen, der Personenverkehr um 19 Prozent.

Eine aktuelle Datenerhebung der Grünen brachte zutage, dass mehr als 1000 deutsche Eisenbahnbrücken so baufällig sind, dass sich eine Reparatur nicht mehr lohnt.4 Im Sommer 2017 hatte die Bahn die Rekordzahl von 1000 Baustellen gleichzeitig.

Die Havarie bei Rastatt

2015 begann die DB endlich mit dem Bau bei Rastatt. Auf 182 Kilometern Länge werden nun zwei zusätzliche Gleise sowie mancherorts Tunnel gebaut. Es ist neben Stuttgart 21 das größte Bahnprojekt in Baden-Württemberg. Am 12. August havarierte eine Tunnelbohrmaschine bei der Unterquerung der bestehenden Trasse. Nach einem Wassereinbruch in den Tunnel senkten sich die Gleise stark ab. Seitdem ist die Bahnstrecke komplett gesperrt; die folgenreichste Vollsperrung der letzten Jahrzehnte mit Schäden in Milliardenhöhe. Für den Personenverkehr fahren Busse zwischen Rastatt und Baden-Baden. Aber Güterzüge müssen weiträumig umgeleitet werden, mit massiven Auswirkungen auf den Regionalverkehr. Zunächst war sogar die Haupt-Umleitungsstrecke wegen Bauarbeiten ebenfalls gesperrt,5 und es kam nur ein Zehntel des normalen Transportvolumens durch. Inzwischen ist es etwa ein Fünftel. Einige mittelständische Transportunternehmen stehen vor dem Bankrott. Vor allem die Chemiebranche ist betroffen; ihr Branchenverband mahnte bereits die künftige Bundesregierung, das Thema Infrastruktur ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen: »Die Menschen müssen endlich verstehen, dass wir ohne Infrastruktur keine Chance haben, unsere Prosperität zu erhalten«.

Nach derzeitigem Planungsstand soll die Strecke nach dann sieben Wochen Sperre am 2. Oktober wieder eröffnet werden.

Die gesamte europäische Logistikbranche ist darüber aufgebracht, dass die DB und ihre Tochter DB Netz nicht nur die eigene Hauptachse ohne ausreichende Sicherung untertunneln ließen, sondern zudem nach der Havarie die benötigten Ausweichstrecken fehlen. Zuständig für die Infrastruktur bei der Bahn ist übrigens ihr Vizechef, Ex-Kanzleramtsminister Ronald Pofalla, »der größte Schmutzfink, der in Berlin herumläuft«.6 Er gehört zu dieser extrem gut bezahlten Gurkentruppe von Mehdorn bis Grube, die Milliarden in den Sand setzen und niemals dafür haften müssen.

Verkehrsplanung nach Feudalherren-Art

Dazu passte wie die Faust aufs Auge die Einweihung der ICE-Schnellstrecke Berlin – München am 30. August. Dieses bereits 1991 beschlossene Prestigeprojekt mit komplizierter Trassenkonstruktion, 29 Tunneln und 22 Brücken – darunter die längste Eisenbahnbrücke der BRD – hat fast zehn Milliarden Euro gekostet – doppelt so viel wie geplant; und wurde nach 25 Jahren endlich so gut wie fertig – ursprünglich sollte es im Jahr 2000 in Betrieb gehen. Die Trassenführung war heftig umstritten. Die nun eingeweihte Strecke macht einen großen Bogen Richtung Westen in die thüringische Landeshauptstadt Erfurt. So hatte es der damalige Ministerpräsident Thüringens, Bernhard Vogel seines Prestiges wegen durchgesetzt. Eine kürzere Verbindung Berlin-Gera-München hätte kürzere Fahrzeiten und geringere Baukosten gehabt; sie wäre ökologisch sinnvoller gewesen, indem sie den Thüringer Wald umgeht; zahlreiche lange, hohe Talbrücken und rund 30 Kilometer Tunnel hätten vermieden werden können; die dicht besiedelten Gebiete im Raum Gera/Zwickau/Chemnitz mit rund zwei Millionen Menschen wären besser angeschlossen worden.

Neuester Clou: Am 10. September meldete die Welt: »Desaster bei Rastatt wäre vermeidbar gewesen«. Demnach hat die Bahn beim Bau des Tunnels in Rastatt bewusst auf eine risikoreichere Variante gesetzt; es hätte eine risikoärmere und günstigere Lösung gegeben, die vor allem weiter entfernt von der Wohnbebauung gewesen wäre. Aber diese bereits 1991 intern vorgeschlagene Variante wurde »von ganz oben« abgelehnt, weil man fürchtete, dass dann auch andere Kommunen auf einer Lösung weiter weg von den Wohnungen bestehen würden.7

Die BRD ist eine Investitionsruine

Die Exporterfolge der BRD hängen nicht nur an der starken Lohndifferenz, sondern auch daran, dass man von der Substanz zehrt. Die BRD betreibt Raubbau an der öffentlichen Infrastruktur. Laut Zahlen der EU-Kommission ist 2017 das fünfzehnte Jahr in Folge, in dem der deutsche Staat weniger neu baut und saniert, als der Zahn der Zeit wegfrisst. Seit 2004 haben die staatlichen Investitionen mit wenigen Unterbrechungen nicht einmal mehr die Abschreibungen ausgeglichen, die Nettoinvestitionsquote ist negativ. Im letzten Jahr lag die staatliche Brutto-Investitionsquote bei 2,1 Prozent des BIP, unter dem EU-Durchschnitt von 2,7 Prozent. In anderen EU-Ländern ist die staatliche Investitionsquote seit der Krise stark gesunken, 2009 lag sie in der EU noch durchschnittlich bei 3,7 Prozent des BIP. Aber in der BRD liegt sie schon seit 2001 bei gut zwei Prozent. Die 2009 mit Zweidrittelmehrheit ins Grundgesetz gehievte Schuldenbremse hat diese Entwicklung verschärft: frei werdende Stellen in den Schulen werden nicht neu besetzt, kaputte Straßen, baufällige Brücken, der schlechte Zustand vieler Schulen, Kitas, Sportstätten und anderer öffentlicher Gebäude sind die Folge.

Und es klappt noch immer: Die deutschen Exporte werden 2017 voraussichtlich um fünf Prozent zulegen und mit einem Überschuss zwischen 300 und 350 Mrd Dollar klar über dem von China liegen, das auf 190 Milliarden Dollar kommen dürfte (laut einer DIW-Studie, die das erste Halbjahr hochrechnete).8

Die BRD ist aber nicht nur eine Investitionsruine – die Geschäftsmodelle ihrer wichtigsten Unternehmen sind kriminell: Deutsche Bank und VW! Die Aufarbeitung bzw. die Verhinderung der Aufarbeitung kostet viele hundert Milliarden Euro – wiederum Geld, das nicht produktiv investiert wird!

Und immer mehr Investitionen werden in völligen Schwachsinn gesteckt: Auf der Internationalen Autoausstellung (IAA) präsentierte Daimler-Chef Zetsche gerade das Project One: mehr als 1000 PS, Höchstgeschwindigkeit 350 km/h, in 6 Sekunden von 0 auf 200 km/h, Stückpreis drei Millionen Euro. Die Serie von 275 Exemplare war zu diesem Zeitpunkt bereits ausverkauft, angeblich gingen viermal so viele Anfragen ein.

Diesel-Skandal: Reproduzierbares Versagen

Vor zwei Jahren platzte die Nachricht vom millionenfachen Abgasbetrug durch VW in die IAA; auf der aktuellen 67. IAA ist die deutsche Autoindustrie auf dem Elektro-Trip. Wie konnte es soweit kommen?

Alles fing mit dem Zertifizierungswahn in den 80er Jahren an. ISO9001 usw. waren der Versuch, das Wissen der ArbeiterInnen genauestens abbilden, kontrollieren und »nachbauen« zu können. Anfang der 90er Jahre schwappte es in die Pflege und in andere Bereiche: alles musste nun dokumentiert, zertifiziert und »reproduzierbar« sein. In Wirklichkeit hat sich das Kapital damit eine Parallelwelt aufgebaut, die wenig mit der realen Welt zu tun hat. Genauso wurde in der BRD die Abgasuntersuchung (messen, was aus dem Auspuff kommt) abgeschafft und durch die »on board«-Diagnose ersetzt, geregelt durch die ISO-Norm 15031-6. Es wird nicht mehr gemessen, was die Autos im Straßenverkehr, sondern was sie auf dem Prüfstand ausstoßen. Eine staatliche Aufforderung zum Einbau von Abschalteinrichtungen.

Die Abgasaffäre ist längst keine Affäre VW mehr. Fast alle Autobauer haben getrickst oder wie VW sogar betrogen. Inzwischen lässt sich beweisen, dass hinter dem Dieselskandal gezielte kriminelle Strategien stecken. VW musste in den USA mehr als 20 Milliarden Dollar Strafe zahlen. Die Autokonzerne ziehen alle Register, um Schadenersatzansprüche ihrer deutschen Kunden über die Verjährungsfrist Ende 2017 hinaus auszusitzen.9

Die individuelle Mobilität bleibt das zentrale Versprechen des Kapitalismus

Der Dieselgipfel Anfang August war eine Lachnummer. Motorumbauten abgelehnt, stattdessen ein Software Patch und Kaufanreize für neue Autos. Ende August gaben VW, Daimler und Audi öffentlich zu, dass die Software, die angeblich Fahrverbote ab dem 1. Januar 2018 verhindern sollte, noch gar nicht entwickelt ist. Der VDA hat einen Zeitplan bis Ende 2019 (!) vorgelegt.

Der Eindruck »die haben den Schuss nicht gehört« drängt sich auf – täuscht aber. Natürlich haben sowohl die Regierung wie die Bosse der Autoindustrie den Schuss gehört. Aber sie sitzen dermaßen in der Klemme, dass ihnen nichts anderes einfällt als stur weiter machen – und alles aufs E-Auto setzen. Nach dem Bekanntwerden des VW-Skandals wurde im VDA (Verband der Automobilindustrie) heftig diskutiert, wie man sich dazu verhalten solle. Da alle Dreck am Stecken haben, setzte sich die Position durch, die bisherige Linie durchzuziehen, »weil uns sonst die ganze Sache um die Ohren fliegt«, so ein Insider.10 Vor allem Daimler-Benz drängte darauf, so weiter zu machen wie bisher. Erste öffentliche Risse zeigten sich im Juli 2017, als VDA-Präsident Wissmann Kartellvorwürfe u. a. gegen Daimler mit der Mahnung begleitete, die Branche müsse sich kritischen Fragen offener stellen und mehr Selbstreflexion üben.

Die IG Metall ist ein Anhängsel der deutschen Autoindustrie. In deren existenzieller Krise scheint die Strategie von IG Metall und den Betriebsräten der Autokonzerne in Realitätsverweigerung zu bestehen. Zitzelsberger, der Bezirksleiter der baden-württembergischen IG Metall, ließ verlauten, deutsche Konzerne bauten »in puncto Qualität, Sicherheit und auch bei der Schadstoff- und Emissionsminimierung« die besten Autos der Welt. Bei VW Wolfsburg hat der Betriebsrat in der Belegschaft Unterschriften sammeln lassen – gegen das »Politikgezänk« und die »zwei Jahre Dauerkritik«, der VW jetzt schon ausgesetzt sei. Auch rein gewerkschaftlich betrachtet kann es keine gute Strategie sein, die Interessen der Arbeiter als Teil des Kapitals zu vertreten, wenn dieses Kapital gerade abgeräumt wird.

Umkämpfte Mobilität

»Der Antrieb und der Flächenverbrauch stellen die problematische und umkämpfte Seite (des Verkehrs) dar. Der Verbrennungsmotor steht für Lärm und Smog, Landnahme und Zersiedelung.« (Wildcat 94). Aber das Elektroauto ist weder ökologisch noch gesellschaftlich die Lösung der Probleme. Es ist nur lokal emissionsfrei; wenn man neben der Stromerzeugung auch die Gewinnung von Lithium als Rohstoff und die Akkufertigung berücksichtigt, trüge es selbst beim für 2030 geplanten Energiemix nur wenig zur Erreichung des Klimaziels bei. (Im letzten Jahr hat sich übrigens der Preis für Lithium, das zur Batterieherstellung benötigt wird, mehr als verdoppelt.) Die Entsorgung oder Wiederverwertung der Hochvolt-Autobatterien ist noch nicht geklärt. Und selbst bei 100% regenerativ erzeugtem Strom muss ein E-Auto 25 000 km fahren, um den CO2-Nachteil bei seiner Herstellung auszugleichen. Auch das Feinstaub-Argument zieht nur halb, weil auch Reifenabrieb, Bremsenabrieb, Straßenbelag usw. Feinstaub erzeugen. (Allerdings sind Partikel, die aus Verbrennungsprozessen stammen, gefährlicher.) Eine Untersuchung des Berliner Senats 2005 ergab, dass Diesel-Pkw lediglich drei Prozent zu einer im lokalen Straßenverkehr gemessenen Feinstaub-Belastung beitragen. Und zu diesem Zeitpunkt galt noch die Euro 4-Norm. Der jährliche Feinstaubeintrag der »Komfort-Holzheizungen«, die bei der grünen Mittelschicht so beliebt sind, übersteigt inzwischen den der Dieselmotoren – obwohl sie nur in der Heizsaison laufen.

Aber ein E-Auto braucht nur ein Siebtel der Montagezeit in der Fabrik, seine Produktion kann sehr viel stärker auf Zulieferer verlagert werden. Deshalb ist das E-Auto die optimale kapitalistische Lösung: alles bleibt wie es ist (Individual-Verkehr; wer Kohle hat, fährt Tesla oder Porsche; wer weniger hat, den E-Smart; wer keine hat, bleibt zuhause, wer gar nix hat, wohnt auf der Straße) – mit einem wichtigen Unterschied: die meisten einigermaßen gut bezahlten und mit Rentenansprüchen verknüpften Jobs in der Autoindustrie fallen weg. Die IG-Metall geht davon aus, dass rund 80 000 Arbeitsplätze in deutschen Autofabriken wegfallen, wenn ab 2030 nur jeder dritte Neuwagen mit Elektroantrieb ausgerüstet wird. Bereits Ende 2015 hat sich die Bundesregierung am Rande des Pariser Klimagipfels verpflichtet, dass spätestens im Jahre 2050 in Deutschland nur noch abgasfreie Autos verkauft werden. Das aktuelle E-Auto-Gezeter ist Teil der »disruptiven Politik«, mit der in der BRD Entscheidungen von oben durchgesetzt werden (wie beim AKW-Ausstieg, bei der Flüchtlingspolitik, usw.).11

Utopien?

Die Autoindustrie ist überakkumuliert.12 Das drückt sich nicht nur in Überkapazitäten und Überproduktionskrisen aus, sondern auch darin, dass sie ihren Reichtum nicht mehr in dem Maße verwerten kann, wie sie ihn angehäuft hat. Sie steht nicht mehr für Innovationen. Sie haben sich so tief in die Scheiße gefahren, dass sie nicht mehr umsteuern können (s.o.: Hardliner bei Daimler, ÖPP, die Tunnellösung bei der Rheintalbahn). Umsteuern wäre das Eingeständnis der bisherigen strategischen Fehler – und »dann fliegt uns alles um die Ohren«. Deshalb weigern sie sich rotzfrech, sich mit den Fehlentwicklungen und Betrügereien der letzten Jahrzehnte auseinanderzusetzen und treten die Flucht nach vorne ins E-Auto an.

In den nächsten zehn Jahren wird sich bei der Mobilität tatsächlich so viel verändern wie seit Generationen nicht. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: das Kapital setzt sich durch (mit E-Auto, car sharing und pipapo) oder der Trend weg vom Auto verknüpft sich mit anderen gesellschaftlichen Kämpfen und innovativen, sozialen Lösungen. Ein erster Schritt wäre, die ganzen Superbosse für ihre Fehlentscheidungen zu entsprechenden Geldstrafen zu verurteilen und diese vielen Milliarden in Nulltarif im Öffentlichen Nahverkehr zu stecken. Das würde ökologisch, sozial und sogar ökonomisch was bringen!

Die Fronten sind aber nicht so einfach wie es scheint. Die neuen Car share-Angebote mit E-Autos in Großstädten kämpfen recht erfolgreich gegen den Trend unter metropolitanen Jugendlichen an, kein Auto mehr zu benutzen. Soziale Lösungen müssen auch die Leute auf dem Land mitnehmen, die in vieler Hinsicht aufs Auto angewiesen sind. Vor allem aber stellt sich die Frage, wie wir uns gegen diesen scheinbar übermächtigen Filz aus Autoindustrie und Regierung durchsetzen können. Wenn wir diese Frage stellen, dann führt kein Weg an den Menschen vorbei, die unsere Mobilität produzieren: Autoarbeiter, Kurierfahrer, Zugbegleiterinnen, Lokomotivführer, LKW-Fahrerinnen, Straßenbauer, Gleisarbeiter, Briefträgerinnen usw. Sie wissen, wie es besser ginge – und mit ihnen zusammen haben wir die Macht, das auch durchzusetzen.

… während Stuttgart 21, BER, Rheintalbahn, Bankrott bei A1 Mobil, Korruption bei Toll Collect, Dieselgate usw. usw. zeigen: Die da oben können es einfach nicht!

 
 
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