Amazon ist in aller Munde. Medien und PolitikerInnen kriegen Gänsehaut angesichts des Reichtums und der Macht eines Jeff Bezos. Aber auch die Linke erschaudert vor der »totalen Kontrolle« der schlecht bezahlten und »menschenunwürdig ausgebeuteten« ArbeiterInnen in den Amazon-Lagern. Wieder einmal verklebt der Mythos der alles beherrschenden kapitalistischen Technologie die Hirne und verfälscht die politische Intervention! Die ArbeiterInnen nur als krass überwacht, atomisiert und ohnmächtig darzustellen, ist der typisch paternalistische Zugang vieler Linker und der meisten Gewerkschaften (»die Arbeiter sind ohne uns schwach«). In den folgenden Beiträgen schauen wir uns den Arbeitsprozess in einem Amazon- und im Lager eines Drogeriemarkts genauer an. Die ArbeiterInnen dort sind keineswegs hirnlose Maschinenanhängsel.
Ab den 70er Jahren haben die Unternehmer gegen zu stark gewordene ArbeiterInnen die Großbetriebe verkleinert durch die Auslagerung von Unternehmensteilen und den Aufbau eines Zulieferersystems. Die dafür notwendigen »Just in time«-Transporte führten zu extremer Zunahme des Verkehrs. Und in der Warenlogistik entstanden viele neue Jobs. Trotz LKW-Fahrer-Streiks sind die Löhne in diesem Bereich seither gesunken. Handelskonzerne wie Walmart und Amazon, deren Kernkompetenz die Verfügungsgewalt über die Logistik ist, expandierten und verdrängen alte Verteilstrukturen. In dieser Logistikblase1 sind seit etwa zehn Jahren neue Arbeiterkonzentrationen entstanden. Während die Unternehmer im Westen kaum noch Fabriken mit mehr als 3000 ArbeiterInnen bauen, zieht zum Beispiel Amazon USA innerhalb weniger Monate ein Lager mit doppelt so vielen Beschäftigten hoch (Bessemer/Alabama).
In den USA gibt es mehr als 100 große Logistikzentren mit durchschnittlich 5000 ArbeiterInnen, in Europa über 60 mit durchschnittlich 2000 ArbeiterInnen. Daneben gibt es eigene Entwicklungszentren usw.2
Gegründet wurde Amazon 1994 zunächst als Buchversand; in Deutschland startete es 1998.Den »dot.com-Crash« 2000/01 und die Krise 2008 überstand Bezos relativ unbeschadet. Im Januar 2001 kündigte er 1300 Leuten, aber seitdem gab es keinen Stellenabbau mehr. Heute ist Amazon nach Umsatz und Beschäftigten einer der größten Konzerne der Welt; Gründer Jeff Bezos könnte der erste Billionär werden. Im Pandemiejahr 2020 legte der Umsatz um 38 Prozent zu, der Gewinn verdoppelte sich. 427 000 neue Leute wurden eingestellt. Amazon beschäftigt nun 1,3 Millionen Menschen, dazu kommen 500 000 FahrerInnen, die bei Subunternehmern angestellt sind, mit denen Amazon »zusammenarbeitet« (Delivery Service Providers). 2010 beschäftigte Amazon erst 33 700 Menschen und wies einen jährlichen Profit von 1,1 Milliarden Dollar aus. 2020 betrug der Profit 21,3 Milliarden Dollar – 19 Mal mehr Gewinn, aber 39 Mal mehr Beschäftigte!
Amazon hat auf vielen Ebenen immense Macht und Unternehmen anderer Branchen aufgekauft, 2017 etwa die Biosupermarktkette Whole Foods, gerade eben das Filmstudio MGM … und mit der Washington Post besitzt Bezos eine der einflussreichsten Tageszeitungen. Amazon Web Services (AWS) stellt die IT von wichtigen Unternehmen und sogar Regierungen, zum Beispiel vom US-Geheimdienst CIA. AWS ist der mit Abstand größte Cloud-Anbieter der Welt und trägt seit Jahren überproportional zum Gesamtprofit bei. Amazon sieht hier die Zukunft und will auch weiter Regierungsaufträge vom Pentagon kriegen. Andy Jassy, der Chef von AWS, wird Jeff Bezos im dritten Quartal 2021 an der Konzernspitze ablösen.
Der arbeitsintensive Kern des Unternehmens ist der Transport von Waren zum Konsumenten, in der BRD ist das die Amazon Logistik GmbH mit Sitz in Bad Hersfeld. In diesem Bereich hat Amazon in den letzten 20 Jahren über Kreditausweitung und Steuerflucht expandiert. Die Regierungen der westlichen Metropolen haben ihre Steuergesetze so geändert, dass Amazon Profite nach Luxemburg verschieben und damit Steuern sparen konnte. 75 Prozent aller Amazon-Geschäfte außerhalb der USA laufen über Tochterunternehmen in Luxemburg. Manche wurden nur gegründet, um Verlust einzufahren und ihn dorthin zu transferieren. Diese Verluste können in den USA in Steuergutschriften umgewandelt werden. Unterm Strich zahlte Amazon noch nie Steuern in den USA und griff Gutschriften über 13,4 Milliarden Dollar ab. Auch den größten Teil der Gewinne transferierte Amazon nach Luxemburg – dort liegen 17,2 Milliarden Dollar, die nie in die Bilanz gingen. Mit diesen steuerfreien Gewinnen finanzierte Amazon seine Expansion – das führte zum steilen Umsatzwachstum in den Nullerjahren, sogar während der Krise 2008.3 Für 2020 wies der Konzern im Online-Handel zum ersten Mal steuerpflichtige Erträge aus – mitten in der Debatte um den Beschluss einer globalen Mindeststeuer.
Bezos zahlte auch selber kaum Einkommenssteuer, weil er alle Tricks ausnutzte (als Multimilliardär bekam er sogar 4000 Dollar Steuergutschrift, weil er Verluste meldete).
Seit neun Jahren weigert sich Amazon in Deutschland, den höheren Einzelhandels-Tariflohn zu zahlen. Am 12. Juni 2021, dem Tag, an dem die Grünen in ihr Wahlprogramm die Forderung nach zwölf Euro Mindestlohn aufnahmen, kündigte Amazon an, ab Juli allen Beschäftigten vom ersten Tag an mindestens zwölf Euro brutto pro Stunde zu zahlen. Außerdem trat Amazon Deutschland dem »Hauptverband des deutschen Einzelhandels« bei (Verdi fordert 12,50 Euro).
Amazon beobachtet sehr genau gesellschaftliche Tendenzen und versucht diesen vorzugreifen. Betrachtet Bezos eine für Amazon nachteilige Entwicklung als nicht mehr abwendbar, schafft er Tatsachen und versucht damit rüberzubringen, dass es keine regulierenden Institutionen wie Gewerkschaft, Finanzamt, Tarifvertrag usw. bräuchte.
Amazon betreibt Fulfillment Centers (FC; Warenlager) und Delivery Stations (DS; Verteilzentren). ArbeiterInnen in FCs lagern ein, kommissionieren, verpacken und versenden an DS. Von dort gehen die Pakete zur Adresse des Bestellers.4 Die Schritte sind penibel arbeitsteilig organisiert, zerlegt und standardisiert. Im Vergleich zu anderen in der Branche setzt Amazon viel umfassender digitale Überwachung ein. Die Arbeit ist einfacher anzulernen, die ArbeiterInnen sind schneller austauschbar.
In den letzten Jahren fuhr Amazon eine aggressive Expansionsstrategie. Kredite auf den wachsenden Umsatz wurden in den Kauf von Unternehmen, in neue IT-Infrastruktur, in eigene Produktpaletten und in neue Standorte investiert; zum Beispiel beliefert Amazon deutsche Adressen seit 2014 auch aus Polen. Mittlerweile beschäftigt Amazon dort fast 20 000 Leute, nur ein paar tausend weniger als in der BRD. Seit Ende Mai 2021 gibt es auch eine polnische Amazon-Website.
Mit den Lagern in Polen konnte Amazon Ausfälle durch Aktionen von Verdi kompensieren, obwohl die dortige »Basisgewerkschaft« IP (Soli-)Aktionen organisierte.5 Denn die ArbeiterInnen in Polen erledigen die gleiche Arbeit wie in Deutschland, es sind nicht zwei verschiedene, voneinander abhängige Prozessschritte. Es ist leichter, ein zweites bzw. doppeltes Amazon-Lager aufzubauen und zu betreiben als zum Beispiel eine zweite Autofabrik. Ein Lager kostet deutlich weniger und erfordert keine längeren Anlernzeiten.
In dieser Expansionsphase war es erstmal objektiv schwieriger für ArbeiterInnen, mit lokalen Streiks den notwendigen ökonomischen Schaden anzurichten. Amazon will seinen ArbeiterInnen deutlich machen, dass sie mit Streik nichts reißen können. Amazon »kommuniziert« das natürlich nicht so, sondern »kommuniziert seinen Beschäftigten«, dass sie nicht streiken brauchen.
Eine aktuelle Studie verweist darauf, dass es bei Amazon mehr Arbeitsunfälle als in anderen Lagern gibt und besonders viele dort, wo Roboter eingesetzt werden.6
Das Management will autonom fahrende Roboter: Sie transportieren Regale, Pakete und Paletten – zwar nicht schneller als Menschen oder Förderbänder, aber sie sparen Platz. Für die ArbeiterInnen hat die Tendenz zu mehr Robotern den Nachteil, dass es mehr stationäre und damit eintönigere Arbeitsplätze gibt, die örtlich weiter voneinander entfernt sind.
Es gibt Arbeiten, die mit Maschinen deutlich schneller auszuführen sind, wie das Sortieren geeigneter Teile und Palettieren. In diesen Prozessen können Maschinen zur Abdeckung der Grundlast eingesetzt werden. Das sieht man im folgenden Bericht recht gut: Amazon lastet die Sortiermaschinen mit dem Volumen aus, das auf jeden Fall da ist. Alles darüber hinaus wird von Menschen gemacht, in den Spitzenzeiten werden dafür hunderte zusätzliche ArbeiterInnen in den Betrieb geholt. Es gibt immer eine parallele Struktur, in der Menschen rein manuell dieselben Tätigkeiten erledigen. Der Hauptstress für die ArbeiterInnen entsteht da, wo sie am meisten gebraucht werden: bei Kapazitätsengpässen.
Die menschliche Arbeitskraft wird nicht »ersetzt«, sondern steht in einem Amazon-Lager sichtbar im Zentrum; sie ist dynamisch – während die Maschinerie nur statisch funktioniert. Die großen »Automatisierungs«-Ankündigungen der Unternehmer sind leise geworden. »Die komplette Automatisierung der Lager wäre sehr kompliziert und teuer. Hochkomplexe und kostenintensive Lösungen wie Kommissionier-Roboter sind noch immer kaum anzutreffen«, heißt es in einer Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung über Lagerlogistik.
Gewerkschaftliche Organisierungsversuche liefen bisher in der klassischen Form: Aufbau einer möglichst großen Mitgliederbasis, teils durch »Salting« (die Gewerkschaft schickt Leute in einen Betrieb, um von innen zu organisieren) oder »Organizing« (die Gewerkschaft schickt bezahlte Organizer ans Tor), um als Tarifpartner anerkannt zu werden. In Deutschland mobilisiert Verdi seit fast zehn Jahren, konnte jedoch ihre Hauptforderung nach Einstufung in den besser bezahlten Tarifvertrag Einzelhandel (statt Logistik) bisher nicht durchsetzen. Verdis Versuche, mit gewerkschaftlichen Mitteln (Mitgliederwerbung und lang vorher angekündigte Streiks, die sich streng an gesetzliche Vorgaben halten) Amazon dazu zu zwingen, sie als »Tarifpartner« anzuerkennen, sind naiv. Damit Gewerkschaften entstehen, müssen außergewerkschaftliche, »illegale« Mittel eingesetzt werden. Allerdings erzählen wir da nichts Neues, Gewerkschaftler wissen das auch selber. Wichtiger als der »schnelle Erfolg« ist für Verdi, dass neben den Lokführern (GDL) keine etwas kämpferischere Gewerkschaftsstruktur entsteht.
Parallel zur Verdi-Kampagne wuchs ab 2012/13 der mediale Druck auf Amazon. Ebenfalls 2012 schickte Amazon ArbeiterInnen aus Graben (Bayern) zum Anlernen nach Leipzig. Dadurch fanden die Leipziger raus, dass die Grabener deutlich mehr in der Stunde verdienten – an dem Tag hat niemand mehr gearbeitet! Dafür gab es nicht mal Abmahnungen, denn Amazon war so erschrocken, dass es sofort eine Lohnerhöhung veranlasste: in Leipzig und in Hersfeld, wo auch Grabener waren. In diesen Jahren begann eine breitere (gewerkschaftliche) Bewegung an mehreren Standorten. Als erstes Ergebnis wurde eine Reihe von Betriebsratswahlen angesetzt. Schon im Februar 2013 rief der Amazon-Deutschland-Chef in Reaktion darauf selber zu Betriebsratsgründungen auf, lehnte aber weiterhin Verhandlungen mit Verdi ab. Heute gibt es an allen Standorten Betriebsräte.
Anfang April 2013 fand eine Urabstimmung mit 92 Prozent Beteiligung der 520 Verdi-Mitglieder im Leipziger Lager statt (insgesamt arbeiteten dort 1200 Festangestellte und 800 Befristete). 97 Prozent stimmten für Streik, Ende April liefen die ersten Aktionen in Leipzig und Bad Hersfeld.
2015 begann der Widerstand sich zu internationalisieren. Leute aus Poznan, die sich in der IP organisiert hatten, nahmen Kontakt zu ArbeiterInnen in der BRD auf. Daraus entstanden regelmäßige Treffen von ArbeiterInnen aus Polen, Frankreich, Italien, Spanien und der BRD. Die Beteiligten sind fast alle in gewerkschaftlichen Betriebsgruppen aktiv, die Treffen werden aber nicht von den Gewerkschaften organisiert. Sie nennen sich Amazon Workers International. (Daneben gibt es seit 2014 eine Amazon-Arbeitsgruppe bei UNI Global, einem großen internationalen gewerkschaftlichen Dachverband; aber sie besteht aus Gewerkschaftsfunktionären; sie fangen recht erfolgreich AktivistInnen ein).
Im Winter 2017 fand zum ersten Mal ein europaweiter Aktionstag zum »Black Friday« statt. Nachdem bisher nur linke Basisgewerkschaften in der Warenlogistik aktiv waren7, hatten nun im italienischen Castel San Giovanni bei Piacenza die großen Gewerkschaftsverbände CGIL-CISL-UIL zum Streik aufgerufen. Die Hälfte der direkt bei Amazon Beschäftigten beteiligte sich; die Leiharbeiter waren vom Streik ausgeschlossen, ebenso wenig streikten die kurz zuvor befristet Eingestellten. Somit wirkte sich der Streik kaum auf die Auslieferung der Waren aus. 2018 schlossen die Gewerkschaften zum ersten Mal eine Vereinbarung über Arbeitsbedingungen ab. Italienische und deutsche Gewerkschaften feierten dies als weltweit einmaligen Erfolg, aber schon kurz danach folgten eher nüchterne Einschätzungen – sie mussten zugeben: »Trendwende ausgeblieben«, »Amazon erscheint weitestgehend immun«8.
Streiks, die zu einem Auslieferungsstopp führten, gab es bisher nicht.
Unterdessen fanden Proteste von außerhalb statt: Make Amazon Pay 2017 gegen Steuervermeidung, gegen Neuansiedlung der Headquarters in New York 2019, gegen Datensammlung, gegen die energieintensiven Serverfarmen usw.
2019 organisierten 3000 Entwickler (»Tech-Workers«) in den USA eine Demo im Rahmen der Kampagne Amazon Employees for Climate Justice. Sie kritisieren die enge Verflechtung mit dem Militär. Sie beginnen ihre Arbeit in Frage zu stellen und organisieren sich. Mittlerweile haben auch Google-Angestellte eine Gewerkschaft gegründet.
2018 erhöhte Amazon in den USA nach langer Fight-for-15 Kampagne (die bis heute weitergeht) den Lohn in der untersten Lohngruppe auf mindestens 15 Dollar, das betraf mehr als 250 000 Festangestellte und 100 000 Saisonarbeitskräfte. Amazon hat schon immer versucht, zehn bis zwanzig Prozent über dem lokal üblichen Lohn für vergleichbare Arbeit in einem nicht tarifgebundenen Betrieb zu liegen. Nun ist der Lohn je nach Standort oft doppelt so hoch wie der gesetzliche Mindestlohn, zum Beispiel in Bessemer 15 statt 7,25 Dollar.
Auch in der BRD sind die Löhne in den letzten Jahren um mehr als 30 Prozent gestiegen. Da jedes Lager eine eigene GmbH ist, sind sie nach wie vor unterschiedlich. Sie liegen zurzeit bei 11,30 bis 12,70 Euro zum Einstieg und steigen in zwei Stufen auf 13,20 bis 15 Euro nach zwei Jahren. Ab Juli 2021 beträgt der Einstiegslohn 12 Euro (s. o.).
Zunächst haben ArbeiterInnen in Amazon-Lagern mit einem aktiven Verdi-Vertrauenskörper (niedrige) Weihnachts- und Urlaubsprämien, Klimaanlagen und fast überall die Abschaffung der Leiharbeit durchgesetzt – später wurde das für alle der Standard. Andere Zugeständnisse gibt es nur an einzelnen Standorten, meist per Betriebsvereinbarung mit dem Betriebsrat: Senkung des Anteils der Befristungen, minutengenaue Abrechnung der Überstunden, günstigere Schichtmodelle … Der Betriebsrat funktioniert als Puffer: Amazon schiebt ihm sowohl Erfolge als auch Verschlechterungen zu. Die recht hohe Coronaprämie für alle? – Dankt dem Betriebsrat! Die neue Sechs-Tage-Woche? – Hat der Betriebsrat unterschrieben!
Amazon reagiert auf Konflikte prompt mit Zugeständnissen. Das erlaubt ArbeiterInnen schnelle kleine Erfolge – und verhindert, dass sich Konflikte auf andere Standorte ausweiten.
Amazon expandiert, stellt immer mehr Leute ein, baut immer mehr Lager und bringt tausende ArbeiterInnen unter einem Dach zusammen. Warum haben diese beeindruckenden neuen Arbeiterkonzentrationen noch keinen mächtigen Streik hingekriegt?
Amazon ist kein strategischer oder wichtiger Zulieferer von Rohstoffen oder Halbfabrikaten, er liefert fertig produzierte Waren an einzelne Endverbraucher. Kein Arbeiter wartet auf das Teil, um es in einem kapitalistischen Produktionsprozess ein- oder anzubauen/ein- oder anzulegen. Eine Privatperson nimmt die Ware entgegen. Amazon lebt von seinem Versprechen der schnellen Lieferung, aber es ist für die Mehrwertproduktion nicht entscheidend, ob die Ware am Montag oder Dienstag angeliefert wird. Keine Maschine steht deshalb still, keinem Kapitalisten entstehen Kosten.
Die ArbeiterInnen in den Lagern und die PaketfahrerInnen erledigen eine für die Realisierung des Mehrwerts genauso notwendige Arbeit wie die Fabrik- und TransportarbeiterInnen in den vorherigen Schritten, aber die Komplexität des Arbeitsprozesses nimmt in Richtung Endverbraucher kontinuierlich ab. Ein kleines Beispiel: Eine Lokführerin ist Teil eines mehrschichtig organisierten Transportsystems, sie muss »systembedingt« mit mehreren Leuten kooperieren (Wagenmeister, Fahrdienstleiter, Stellwerker, Rangierbegleiter etc.). Ein Paketfahrer muss das nicht.10 Der Kapitalist wird sich in den ersten Momenten eines Streiks gut überlegen, ob er jemand anderen die Lok fahren lassen kann. Jemand mit einem Kastenwagen auf Tour zu schicken, geht wesentlich einfacher.
Am 7. April 2021 haben in einem neuen Amazon-Verteilzentrum in Chicago Dutzende ArbeiterInnen wild gestreikt (s. u.). Ein Genosse berichtet, dass während des Streiks Leute vom Management die Arbeit erledigen mussten – und konnten. Im Kampf bei VW in Bratislava 2017 konnten die wenigen Autos, die ohne die streikenden ArbeiterInnen fertig gebaut wurden, wegen Mängeln nicht verkauft werden.
… und die Zusammenarbeit und gegenseitige Abhängigkeit in einem Lager ist nicht dieselbe wie in einer Fabrik, auch wenn hier und dort produktive Arbeit verrichtet wird.
Die organische Zusammensetzung eines Lagers ist weniger hoch.12 An einem einzelnen großen mitteleuropäischen Produktionsstandort von Autos arbeiten mehr Leute, als Amazon in ganz Deutschland beschäftigt – und trotzdem steht ein Arbeiter in einem »State of the art«-Verteilzentrum halb so viel konstantem Kapital (Anlagen) gegenüber wie in einer Autofabrik. ArbeiterInnen in einer höheren organischen Zusammensetzung befinden sich gegenüber dem Kapitalisten oft am längeren Hebel.
Die Arbeitsprozesse sind anders organisiert. Wenn man viele Einzelteile in parallelen und ineinandergreifenden Bearbeitungsschritten zu komplexeren Teilen aggregiert (zusammenbaut), herrscht produktive Kooperation auf hoher Stufe.13 Dies bringt kollektive Fähigkeiten und Wissen hervor – bzw. setzt dieses kollektive Wissen voraus: Wie wird die Arbeit erledigt, sodass ein Gebrauchswert rauskommt? Wie müssen wir Maschinen bedienen, Handgriffe ausführen, Probleme lösen usw.? Im Streik halten die ArbeiterInnen Wissen und Fähigkeiten zurück – die Kapitalisten finden niemanden, der sie ersetzt. In solchen aggregierenden Prozessen haben ArbeiterInnen recht schnell gelernt, wie sie den Unternehmer treffen können (US-Autoindustrie in den 30ern, dann in Italien in den 60ern). Im »Heißen Herbst« 1969 legten die Arbeiter mit »Schachbrettstreiks« (wenige, ausgewählte Abteilungen stellen die Arbeit eine Zeitlang ein; so ist der Lohnverzicht wesentlich geringer) ganze Fabriken lahm; sie hatten die strategischen Punkte des Arbeitsprozesses erkannt.
Demgegenüber kann Amazon auf ein großes Reservoir von gleichen, weitgehend voneinander unabhängigen Lagern und Zustellern zurückgreifen – und im »Störfall« sogar andere Logistikfirmen/Konkurrenten mit der Auslieferung beauftragen.
Mitten im »Arbeitskräfteangebotsschock« der Globalisierung, als die allermeisten Linken der Ansicht waren, nun sei es vorbei mit dem Arbeiterkampf, hat Beverly Silver mit Forces of Labour (2003) versucht, die Schwäche der ArbeiterInnen in bestimmten Ländern strukturell und historisch zu erklären. Historisch konnte sie zeigen: Dort, wo das Kapital hingeht, entstehen auch Arbeiterkämpfe (zur Jahrhundertwende zum Beispiel in China). Die Frage, in welchen Branchen ArbeiterInnen in den Metropolen heute noch kämpfen können, beantwortete sie weitgehend damit: Dort, wo nicht ausgelagert werden kann, also zum Beispiel LehrerInnen und KrankenpflegerInnen. Strukturell versuchte sie zu entschlüsseln, worauf Arbeitermacht sich gründet, und unterschied dabei zwischen »Produktionsmacht« (ArbeiterInnen, die erst mal nicht ersetzbar sind und durch Zurückhaltung ihrer Arbeitskraft großen ökonomischen Schaden anrichten können) und »Organisationsmacht« (für ArbeiterInnen, die wenig Produktionsmacht haben, ist es umso wichtiger, sich zu organisieren). Aber diese »Organisationsmacht« kommt nicht von außen geflogen! Sie muss hergestellt werden. Der »Heiße Herbst« 1969 sprang nicht wie das Küken aus dem Ei, geschlossene Streiks mussten über Jahre hinweg durch allerlei Kampfformen durchgesetzt werden: Gefügigmachen der Kapos, Schutz der fabrikinternen Umzüge, unmittelbarer Zwang gegen Einzelne, die sich nicht beteiligen wollten, Lächerlichmachen der Streikbrecher … »Einheit« ist nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis des Arbeiterkampfs durch Prozesse von Überzeugen/Drohen/Zwingen. Im Kern geht es darum, dass die ArbeiterInnen zu gemeinsamen Überzeugungen und Verhaltensregeln kommen. »Never cross a picket line« war eine davon.
Auf Beverly Silvers Grundlage entstanden in den darauf folgenden Jahren die Labor Revitalization Studies, die ihre Begriffe im »Machtressourcenansatz« weiter ausdifferenzierten. »Marktmacht« erwächst aus der Qualifikation und Arbeitserfahrung der einzelnen FacharbeiterInnen, die knapp auf dem Arbeitsmarkt sind und deshalb hohe Löhne fordern können.
Diese Kategorisierung ist für akademische Forschungsprojekte ganz wunderbar. Aber sie ist politisch indifferent (denn sie kann auch so gelesen werden: »ArbeiterInnen werden mies behandelt? Also brauchen sie eine Gewerkschaft!«), und vor allem: Sie schaut nicht auf den Arbeitsprozess und hat letztlich eine technische Vorstellung von Arbeitermacht (»Produktionsmacht« = »qualifizierte Arbeiter« an teuren Maschinen).
Zum Glück stellen sich nicht nur »MarxistInnen« am Schreibtisch solche Fragen, sondern die ArbeiterInnen in den realen Kämpfen der letzten Jahre! Und angesichts ihrer Erfahrungen in diesen Kämpfen sind sie auch zu anderen Antworten gekommen. Im Folgenden geht es zunächst um zwei »historisch« genannte Versuche traditioneller Gewerkschaften und dann um ein Beispiel, wie Arbeiterkollektive durch informelle Organisierung am Arbeitsplatz sich tatsächlich gegen den Unternehmer durchsetzen können.
In Bessemer im gewerkschaftsfeindlichen US-Bundesstaat Alabama (republikanisch, es herrschen Right-to-work-Gesetze14) konnten ArbeiterInnen kürzlich die erste Abstimmung über die Frage durchsetzen, ob eine Gewerkschaft die Leute im Betrieb vertreten solle. Die Stimmabgabe endete am 29. März. Von 5800 Beschäftigten beteiligten sich nur 55 Prozent an der Briefwahl (!), nur 738 stimmten für die Retail Wholesale and Department Store Union (RWDSU), 1798 dagegen.
Danach waren sofort Erklärungen für diese Niederlage zur Hand: Der Kampf gehe nun vor Gericht weiter, die anti-gewerkschaftliche Propaganda und Mobilisierung seitens Amazon seien der Grund für die Niederlage (so die RWDSU); nein, die falsche Taktik der RWDSU, die sich auf ihre Strukturen und Funktionäre verließ, seien schuld (Jane McAlevey). Genauere Analysen kritisieren, dass an der Realität der ArbeiterInnen vorbei organisiert wurde: Amazon bezahle mit 15 Dollar einen relativ hohen Einstiegsstundenlohn und eine Krankenversicherung; die Arbeit sei im Vergleich zu anderen Jobs okay, und eine 85-prozentige Mehrheit schwarzer ArbeiterInnen könne man nicht mit positiver Einstellung zur RWDSU gleichsetzen.15 Spitzenfunktionäre der RWDSU verdienen mehr als manche Unternehmer.
Die 15 Dollar liegen zwei Dollar über dem, was ungelernte ArbeiterInnen in Lagern in Alabama durchschnittlich verdienen – Amazons übliche Strategie, um gerade noch genug Arbeitskräfte zu bekommen. In der Nachtschicht verdient man 17,50 Dollar die Stunde. Einige Amazon-ArbeiterInnen in Bessemer haben vorher für weniger gearbeitet. Andere kamen aus Fabriken, die mehr bezahlten, aber geschlossen wurden; manche wollten trotz vorher höherem Lohn Veränderung.16
In Italien haben »Basisgewerkschaften« wie SiCobas vor zehn Jahren begonnen, in der Logistikbranche Proteste zu organisieren. Für die ArbeiterInnen brachte das Tarifverträge, höhere Löhne usw. Die Basisgewerkschaften konnten wachsen. Die etablierten »konföderierten« Gewerkschaften stehen unter Druck, die Führung in der Branche zurückzuerobern. FILT-CGIL, FIT-CISL und UIL hatten für den 22. März 2021 alle Amazon-ArbeiterInnen in Italien zum Streik aufgerufen. 9500 Leute sind dort direkt bei Amazon eingestellt, 40 000 sollen es laut Gewerkschaftsschätzungen einschließlich der über Subunternehmen und Leiharbeit Beschäftigten sein. Die Organisatoren sprachen von 75 bis 90 Prozent Streikbeteiligung. Zum Vergleich: In Leipzig und Bad Hersfeld liegt die Beteiligung laut Verdi bei 30 bis 40 Prozent. Amazon sprach von zehn Prozent Beteiligung in den Lagern, 20 Prozent bei den Zustellern. Die Gewerkschaftszahlen sind sicher stark übertrieben – Leute, die dort waren, berichten von deutlich weniger Beteiligung, wenn auch von mehr, als Amazon angibt. Definitive Zahlen gibt es bis heute nicht.
Der entscheidende Punkt ist aber, wie viel vom Tagessoll nicht ausgeliefert wurde – hierzu gibt es keine Infos; auch der viel zitierte Soziologe Francesco Massimo spricht von einem »historischen Streik«, gibt aber zu, es sei »schwer zu sagen«, ob er ökonomischen Schaden anrichtete.17
Bessemer hat nochmal gezeigt, wie weit Arbeiterrealität und Gewerkschafterei auseinandergehen. Die Kritik an Business Unionism oder Deep Organizing ist richtig – aber sie geht nicht tief genug.
Am 7. April 2021 streikten Dutzende ArbeiterInnen in einem neuen Amazon-Verteilzentrum in Chicago. Einer von ihnen hat uns einen kleinen Bericht über ihr Vorgehen und die Vorgeschichte ihrer Organisierung geschickt.
2019 begannen wir im Chicagoer Verteilzentrum DCH1 mit einem kleinen Kern.18 Wir nahmen uns einer Forderung an – dem Zugang zu Trinkwasser –, die sehr grundlegend und weit verbreitet war. Wie lächerlich und illegal wäre es für Amazon gewesen, uns rauszuschmeißen, weil wir Wasser fordern! Wir haben bei diesem Thema gewonnen und haben weiter organisiert, unser Organisationskomitee vergrößert und den Versuchen von Amazon widerstanden, uns zu beschwichtigen und zu kooptieren. Bei jeder kollektiven Aktion stellten wir sicher, dass sich viele KollegInnen direkt beteiligten oder uns den Rücken stärkten.
2020 war ein wilder Ritt, der uns geprägt hat; nicht zuletzt haben wir unsere eigene Gewerkschaft aufgebaut. Anfang des Jahres schlossen wir uns der ersten standortübergreifenden Kampagne von Amazonarbeitern in den USA an: Amazonians United for PTO (paid time off; bezahlter Urlaub). Dies erreichten wir für alle Teilzeitbeschäftigten. Im März, gerade als die Pandemie ausbrach, waren wir auf der internationalen Versammlung der Amazon-Arbeiter in Spanien und gründeten unser internationales Netzwerk: Amazon Workers International.
Nach unserer Rückkehr in die USA rückte der Kampf zum Schutz vor Covid-19 ins Zentrum. Die mutigen Arbeitsniederlegungen unserer KollegInnen in New York und die Schließung ihres Verteilzentrums inspirierten uns. Auch in Chicago ergriffen wir Maßnahmen gegen Amazon und für mehr Sicherheit: Streiks über vier Schichten hinweg, an denen sich die Mehrheit beteiligte. Amazon musste an den Streiktagen die Auslieferung von mehr als 50 Prozent der Pakete verzögern. Das Volumen staute sich auf, und in unserem Verteilzentrum war eine Woche lang Chaos.
Unsere Forderung, das Lager zu schließen, konnten wir nicht durchsetzen, aber nach unseren Streiks hat Amazon das Volumen dauerhaft um etwa 50 Prozent reduziert und uns endlich entsprechende Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt. Unsere Streiks haben den Standortleiter sehr nervös gemacht, er drohte uns mit Kündigung und schrie durch die Lautsprecher eines Polizeiautos, wir müssten das Betriebsgelände verlassen. Jeder sah seine Angst; das gab uns ein Gefühl von Stärke. Wir hielten gegen Amazons Vergeltungsmaßnahmen zusammen und sorgten dafür, dass kein Kollege wegen des Streiks gefeuert wurde.
Nach unserem Streik sank das Volumen von Mai 2020 bis April 2021 (dem Monat, in dem DCH1 geschlossen wurde) auf 20 Prozent. Wir waren völlig überbesetzt. 80 Leute waren für die Arbeit eingeteilt, aber das Management hatte nur Arbeit für 25, also boten sie mehrmals pro Nacht »entschuldigte Abwesenheit« an. (Die Zeit ist unbezahlt, wird aber nicht vom Fehlzeitkonto [UPT; unpaid time off] abgezogen – 20 unbezahlte Stunden alle drei Monate, die jedeR ArbeiterIn selbständig nehmen kann.) Die meisten KollegInnen akzeptierten das, die Aktiven aber nicht, sodass die Manager uns für die ganze Schicht nutzlose Aufgaben gaben, wie zum Beispiel die Fahrweg- und Stellflächenmarkierungen erneuern oder leere Paketwagen herumschieben. Wir saßen herum und redeten miteinander. Wir ahnten, dass etwas vor sich ging, hörten aber nur Gerüchte.
Ab September 2020 begann Amazon mit der Schließung von DCH1 und zwang die »SaisonarbeiterInnen«, in die neu gebauten Chicagoer Verteilzentren zu wechseln. Amazon war vor und während der Pandemie sehr beschäftigt mit dem Bau und der Eröffnung vieler neuer Warenlager und Verteilzentren; allein in der Gegend von Chicagoland eröffneten sie in den letzten zwei Jahren mindestens acht neue Standorte, und es werden immer mehr gebaut. Amazon baut sein Logistiknetzwerk in rasantem Tempo aus, um immer mehr Pakete über die eigene Infrastruktur statt über UPS oder USPS auszuliefern.
Nach der Schließung von DCH1 mussten wir zu einem der neuen Verteilzentren wechseln. Damit änderte sich viel. Der »Megacycle« von 1:20 Uhr bis 11:50 Uhr – 10,5-Stunden! – ist jetzt die Standardschicht und in den Verteilzentren die einzige. Das ist ein großer Unterschied zu früher, als wir ein 24/7-Betrieb mit Hunderten von Teilzeitkräften waren und es, abgesehen vom Management, keine Vollzeitkräfte gab. Jetzt bieten Verteilzentren nur noch Vollzeitstellen in dieser beschissenen »Megaschicht« an. Viele Beschäftigte, vor allem Mütter und Leute, die Verwandte pflegen, wurden gekündigt, weil die Arbeitszeiten für sie unmöglich sind.
Während der Teilzeit-Job bei Amazon vorher für viele ein Nebenjob war, ist die Maloche im »Megacycle« nun der Hauptjob. Gleichzeitig hat Amazon die Löhne auf Basis der Betriebszugehörigkeit erhöht. Zudem wurde die Nachtschichtzulage von miserablen 0,50 Dollar/Stunde auf etwas weniger miserable 1,50 Dollar erhöht. Das geschah nicht aus Großzügigkeit, sondern als Reaktion auf unsere kollektiven Aktionen – und weil Amazon zunehmend Schwierigkeiten hat, ArbeiterInnen zu halten. Am 7. April beendeten in DIL3 – einem der neuen Standorte – 20 bis 30 ArbeiterInnen auf Initiative von Amazonians United die Arbeit vier Stunden vor Schichtende und veranstalteten eine Kundgebung vor dem Verteilzentrum, um dem Management zu zeigen, wer wen braucht und dass wir es mit den Forderungen ernst meinen. Weniger als einen Monat später erhielten wir die »großartige Nachricht«, dass wir eine Gehaltserhöhung bekommen würden.
Bei DCH1 hatte jeder den gleichen niedrigen Lohn. Jetzt ist er deutlich höher, aber differenziert; belohnt wird die Betriebszugehörigkeit (ein uraltes gewerkschaftliches Prinzip! Anm.). Zum Beispiel hatte ich im DCH1 15,50 Dollar pro Stunde. Mit dem neuem Entlohnungssystem habe ich mit vier Jahren Betriebszugehörigkeit (länger als die meisten) nun 19,80 Dollar pro Stunde. Da wir jetzt alle Vollzeitbeschäftigte sind, bekommen wir eine Krankenversicherung über Amazon. Die automatischen Lohnerhöhungen in Kombination mit der höheren Anzahl von Arbeitsstunden pro Woche und dem Zugang zur Krankenversicherung sollen die Fluktuation verringern und eine stabilere Belegschaft schaffen.
Hoffentlich ist es nun einfacher, die KollegInnen zu organisieren, tiefere Beziehungen und Solidarität aufzubauen, die Vereinigung am Arbeitsplatz und das Gemeinschaftsgefühl zwischen uns zu stärken. Außerdem müssen wir unsere Organisierung auf die anderen Standorte ausdehnen, um mit koordinierten standortübergreifenden Aktionen die Redundanz, die Amazon in seine Logistikketten einbaut, zu überwinden und zunehmend die Kontrolle der ArbeiterInnen über Amazons kostbare »letzte Meile« der Auslieferung zu gewinnen.
Der Arbeitsprozess ist weitgehend derselbe wie vorher, die Böden sind sauberer, neuere Förderbänder, neuere Regale, etwas neuere Ausrüstung und ein breiter grinsendes, passiv-aggressives Management. Bei DCH1 wurde die Arbeit in zwei Schichten erledigt: die Acht-Stunden-Nachtschicht nahm die Pakete entgegen und sortierte sie in die entsprechenden Säcke, und die Vier-Stunden-Morgenschicht sammelte die Säcke voller Pakete ein und verstaute sie in den Lieferwagen. Nun machen wir in einer 10,5-Stunden-Schicht, was früher 12 Stunden Arbeit in zwei Schichten waren. Das ist eine Intensivierung, und obendrein setzt das Management weiterhin verschiedene Taktiken ein, um uns dazu zu bringen, schneller zu arbeiten, sodass Frustration und Wut weiter ansteigen …
Wir AktivistInnen achten darauf, Amazon keinen Anlass zu geben, uns rauszuschmeißen. Wir machen die Arbeit, die wir machen müssen; wir verstoßen nicht gegen die Anwesenheitspflichten. Ich beobachte an jedem Arbeitsplatz die allgemeine Arbeiterkultur des Widerstands gegenüber dem Management und passe mich dem an. Klar mache ich nicht immer Durchschnitt, manchmal müssen wir ein bisschen weiter gehen … Manchmal versuchen Manager, uns dazu zu bringen, Dinge zu tun, die gegen die Amazon-Richtlinien verstoßen (z. B. unsere bezahlten Pausen um fünf Minuten zu kürzen). In diesen Fällen kann man ihnen energisch widersprechen, weil du dich auf Amazons eigene Regeln beziehen kannst.
Wenn wir mit Managern sprechen, schreiben wir das alle direkt in kleine Notizbücher, die wir immer dabei haben. Wir könnten locker beweisen, dass Amazon weiß, dass wir Mitglieder von Amazonians United sind, die eine rechtlich geschützte »konzertierte Aktion«19 durchführen. Das ist unser Recht nach dem US-Arbeitsgesetz. Wenn Amazon also einen von uns feuern würde, könnten wir ziemlich sicher mit einer Beschwerde beim National Labor Relations Board unsere Jobs zurückbekommen, plus Nachzahlung. Wenn Amazon uns rausschmeißt, würde das nach hinten losgehen, denn während des rechtlichen Verfahrens hätten wir Zeit, durch das Land zu touren und unseren Kollegen zu helfen, Amazonians United von Küste zu Küste aufzubauen!
Wir sind rechtlich weder von der US-Regierung noch von Amazon als offizielle Gewerkschaft anerkannt. Wir haben keinen Tarifvertrag. Amazonians United ist eine Art »Solidaritätsgewerkschaft« oder »Klassenkampfgewerkschaft«. Wir wollen keine von Funktionären bestimmte Betriebsgewerkschaft; wir organisieren uns selbst und machen direkte, kollektive Aktionen, wenn es nötig ist. Wir sind nicht in die Falle getappt, eine »offizielle« geheime Gewerkschaftswahl anzustreben und zu versuchen, unsere Probleme durch eine Tarifvertragsverhandlung zu lösen, wie es die RWDSU in Alabama versucht hat. Wir haben alle gesehen, wie das ausgegangen ist. Sich auf eine Gewerkschaftswahl und Tarifverhandlungen einzulassen, bedeutet, sich auf das Terrain von Amazon und dessen gewerkschaftsfeindlichen Beratern zu begeben. Warum sollten wir auf »offiziellem« Terrain kämpfen, wo Amazon und seine Anwälte und Berater stark sind? Wir kämpfen dort, wo wir stark sind: am Arbeitsplatz, zusammen mit unseren KollegInnen, direkt gegen unsere Chefs. Von dort aus wächst unsere Gewerkschaft.
Die Entwicklung der Logistik schuf dem Kapital den »Raum«, in den es vor den Arbeiterkämpfen ausweichen konnte – nun werden die dafür verfügbaren Flächen (auch in der BRD) knapp und die weltweiten Transportketten unsicher (siehe »Suezkanal-Problematik«). Im Logistikschwerpunkt der Wildcat 94 haben wir uns damit ausführlich, auch historisch, beschäftigt. Der Raum wird knapp, die Arbeitskräfte werden knapp – nun sind Aktionen viel eher von Erfolg gekrönt.
Amazons erste Expansion fand hauptsächlich entlang von Autobahnen bzw. an Autobahnkreuzen statt. Riesige Lagerhäuser wurden in der Peripherie oder am Rande von Metropolen aufgebaut (das Lager in Dortmund war eher eine Ausnahme, dort gab es stillgelegte Industriegelände). Seit knapp zwei Jahren baut Amazon immer mehr kleinere Verteilzentren in den Städten auf. Dabei geht es darum, den Profit »auf der letzten Meile« mitzunehmen und die Postunternehmen auszuschalten. Die Subunternehmer »auf der letzten Meile« sind im Unterschied zu DHL keine »Konkurrenz«, sie arbeiten ausschließlich für Amazon. Vor allem ist es die Voraussetzung, um Endkunden noch am selben oder darauffolgenden Tag beliefern zu können.
Die urbane Umgebung erleichtert Aktionen, wie sie in letzter Zeit bei Deliveroo und aktuell bei Gorillas gelaufen sind. Kleine Minderheiten werden durch relativ leicht organisierbare Unterstützung von außen handlungsfähig. Im Unterschied zu Deliveroo und Gorillas sind die Auslieferungsfahrer von Amazon allerdings nicht studentische Teilzeit-ArbeiterInnen und Aushilfen, sondern meist MigrantInnen im Vollzeitjob.
Staatliche Arbeitsmarktpolitik versucht, dem Kapital die gesuchten Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen und einer zu großen »Marktmacht« einzelner Gruppen durch Ausbildungsprogramme vorzubeugen. Die Hartz-IV-Reformen haben dafür gesorgt, dass genügend ArbeiterInnen zur Verfügung standen, die einen niedrigen Lohn akzeptieren mussten. Seit einigen Jahren werden (arbeitslose) Jugendliche in die Ausbildung zum »Lagerlogistiker« gedrängt; es gibt inzwischen 200 Logistikberufe und mehr als hundert Logistikstudiengänge an Fachhochschulen! Und die letzte Migrationswelle 2015 hat so viele junge Leute in die Lagerhäuser gebracht, dass Amazon weiterhin niedrige Löhne zahlen konnte. Die Umsätze der Logistikbranche haben sich in den 20 Jahren vor Corona knapp verdoppelt. Es ist die drittgrößte Branche in der BRD mit mehr als 600 000 Beschäftigten (wobei die vielen ausländischen LKW-Fahrer nicht mitgezählt sind). Sie jammert über einen gewaltigen »Fachkräftemangel« und sieht sich seit ein paar Jahren zu deutlichen Lohnerhöhungen gezwungen.
Aus dem strategischen »Arbeitskräfteschock« der Globalisierung ist ein Arbeitskräftemangel geworden. Somit lassen sich Beverly Silvers Hypothesen heute neu formulieren:
* Das Kapital braucht die ArbeiterInnen – während diese leicht einen anderen Job finden können.
* Das Kapital hat nun Interesse an Regulierung – während die ArbeiterInnen die Fluktuation für sich entdeckt haben (Jobwechsel zur Lohnsteigerung; aber auch zum Kämpfen! Bei Gorillas traten diejenigen als SprecherInnen auf, die sowieso demnächst gehen (s. u.)).
* Es geht nur gemeinsam! JedeR Einzelne ist austauschbar. (Bei Gorillas war die Kündigung eines Einzelnen der berühmte Tropfen und vereinigte, statt zu spalten: »Sie können einen, zwei, drei von uns rausschmeißen – aber sie können nicht 100 FahrerInnen rausschmeißen, damit würden sie ihr Geschäft kaputt machen!«)
* Die große Frage im Moment ist, wie diese Gemeinsamkeit (die »Organisationsmacht«) sich herstellt und gegen den Unternehmer durchsetzt. Unser Augenmerk sollten wir dabei auf Umschlagzentren bzw. deren räumliche Konzentration richten! Und auf die Selbstorganisierungsprozesse auf Arbeit.
»Wilde Streiks in Berlin: Fahrer gefährden das Image des App-Supermarkts Gorillas« titelte das Handelsblatt am 10. Juni.
Gorillas war in Berlin vor einem Jahr mit dem Versprechen gestartet, Lebensmittel innerhalb von zehn Minuten zu liefern. Innerhalb von vier Monaten steckten Investoren 280 Millionen Euro in das Start-up. Gorillas beschäftigt 6000 festangestellte FahrerInnen in 17 Städten.
Mit dem Streik und einer Blockade protestierten etwa 50 Beschäftigte gegen die fristlose Entlassung eines Kollegen, der 40 Minuten zu spät zu seiner Schicht erschienen war. Sie blockierten die Türen des Standorts am Checkpoint Charlie, an dem der gekündigte Kollege gearbeitet hatte, und brachten den Betrieb zum Erliegen. Dann zogen sie zum Warenlager in Berlin-Mitte und blockierten dort den Eingang mit ihren Elektrofahrrädern. Wer sich nicht am Streik beteiligten, konnte dort trotzdem nicht arbeiten, schließlich hat Management das Lager für den Tag geschlossen.
»No more Probezeit« stand auf einem ihrer Transparente. Die Leute werden mit sechs Monaten Probezeit und einem Jahresvertrag eingestellt; 90 Prozent der Beschäftigten sind in der Probezeit. Sie fordern die Verkürzung der Probezeit, gleichen Lohn für alle und dass das Höchstgewicht der Lieferungen von zehn Kilogramm nicht überschritten wird.
Anders als in ähnlichen Unterternehmen sind die FahrerInnen einem Warenlager fest zu geordent und treffen ihre KollegInnen dort immer wieder, warten gemeinsam auf Aufträge. Sie kennen sich und konnten sich beim Rauswurf ihres Kollegen schnell organisieren.
Bisher wurde man mit einem Grundgehalt von 10,50 Euro eingestellt und kam nach einem Jahr auf 12,50 Euro. Nun sollte der Einstiegslohn nicht mehr steigen. Hier hat sich das Start-up offensichtlich völlig verschätzt. Das »Gorillas Workers Collective« wirft Gorillas vor, die FahrerInnen auszubeuten und die Gründung eines Betriebsrats zu behindern. Es arbeitet mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und der FAU zusammen und hatte Anfang Juni eine Generalversammlung organisiert, an der fast 200 KollegInnen teilnahmen.