Wildcat Nr. 46 - Winter 1988/89 - S. 23-26 [w46fran2.htm]


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Der unaufhaltsame Aufstieg der Koordination der Krankenschwestern

Gekürzte Übersetzung aus Liberation vom 6.10.1988

Sie waren fünf, nun sind es Tausende.

Aber wer sind sie? Was wollen sie? Seit dem Ende des Sommers schaut der Gesundheitssektor verdutzt auf diese Krankenschwestern, die die eingefahrenen Abläufe in den Beziehungen zwischen staatlichen Institutionen und Gewerkschaften durchbrechen und sogar die Regierung selbst aus der Fassung bringen. Sie, die sich gewöhnlich so brav, sorgfältig und gehorsam verhalten, sind mit einer Heftigkeit explodiert, die den Apparaten fremd ist und jenseits der sozialen Spielregeln liegt. Sie sind noch nicht mal anti-gewerkschaftlich, sie ziehen es nur vor, sich in der »Koordination« zu organisieren, ein Begriff, der ihr Selbstverständnis zutreffend ausdrückt.

Um im Büro der »Koordination der Krankenschwestern der Ile de France« aufgenommen zu werden, genügt es, die Räumlichkeiten aufzusuchen, die sich auf der Rückseite des CFDT-Hauses ducken, und ein paar Marken zu kleben. Es gibt keinen Präsidenten, keinen Schatzmeister, und es darf (zum großen Bedauern der Fernsehanstalten) niemand für die anderen das Wort führen. Dieses formlose Organisationsgefüge ohne Satzung hat soeben 20 000 Krankenschwestern auf die Straße gebracht. Das hat es noch nie gegeben. Was den Gewerkschaften niemals gelungen ist, hat die »Koordination« in den knappen sechs Monaten ihres Bestehens geschafft.

Auf dem Forum der Krankenschwestern in Vincennes am 3. März dieses Jahres spricht niemand von »Koordination« oder einer allgemeinen Mobilisierung, aber es riecht nach Forderungen. Überall ist die Rede von dem nicht durchgeführten »Dekret« von 1984. Das Unbehagen ist mit Händen zu greifen. Die Berufsgruppe sucht nach ihrer besonderen Stellung zwischen schlichten »Gesundheitstechnikerinnen« (und damit »Unter-Ärzten«) und der überlebten Vorstellung von der guten Schwester, die sich in der täglichen Aufopferung für die Patienten ihren Platz im Himmel verdient. Der Erlaß von 1984, der neben dem strengen Gesichtspunkt der medizinischen Fertigkeiten auch die Bedeutung der menschlichen Beziehungen zum Patienten gelten läßt, findet allseits Zustimmung.

Aber »das Dekret« wartet immer noch auf Durchführungsbestimmungen. Solche Bestimmungen sind das Schlachtroß, das von den traditionellen Gewerkschaften stehengelassen wurde und das nun von der völlig neuen »Nationalen Union der Vereinigungen und Gewerkschaften der französischen Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen« (UNASIIF) wieder gesattelt wird. Die UNASIIF vereinigt 58 Verbände, die sämtliche Berufsgruppen vertreten. Sie wurde im Herbst '87 gegründet und hat es sich zum Ziel gemacht, für den Sektor als Ganzen aufzutreten. Innerhalb eines Jahres wurde sie zu einem Austauschplatz der Ideen, zum Gesprächspartner der staatlichen Stellen und zum Interessenschutz der Berufsgruppen. Ihre Hauptverantwortlichen sind Direktoren von Krankenschwesternschulen, Oberschwestern oder Führungskräfte in Krankenanstalten. Die obersten Schichten also, nicht die Basis, die auch nur in geringem Ausmaß in Verbänden oder Gewerkschaften organisiert ist.

Die UNASIIF hat eine vordringliche Forderung: die Abschaffung der Bestimmung vom Dezember 1987, die jeder Person unabhängig von der beruflichen Vorbildung Zugang zur Krankenpflegeausbildung eröffnet, sofern sie 5 Jahre lang sozialversicherungspflichtig gearbeitet hat. Der Berufsstand war verbittert über diesen Schritt. Die Ausbildung wird immer schwieriger, und sie stützt sich in ihrem praktischen Teil auf die diensthabenden Krankenschwestern. Die aber wollen keine Leute aufnehmen, deren Ausbildung ihrer Ansicht nach zu große Schwierigkeiten macht. Mit dieser Stoßrichtung verbreitet die UNASIIF eine Streikankündigung für den 25. März.

Am genannten Tag sind 3000 Demonstrantinnen auf den Straßen von Paris. Zum allgemeinen Erstaunen verursachen Schwierigkeiten, die normalerweise in den Dienstpausen besprochen werden, einen regelrechten Aufruhr. Die UNASIIF wird von Michèle Barzach empfangen, der eine Änderung der Bestimmung zusichert. Die UNASIIF geht in Beratung und beschließt, den Verhandlungsweg einzuschlagen. Zunächst müssen sie warten. Die politische Phase ist von Ungewißheit geprägt. Keiner weiß, wer die Verhandlungspartner von morgen sein werden. Die UNASIIF tritt ins Glied zurück.

Am Abend jenes 25. März setzen etwa 60 Krankenschwestern den Aktionstag im Gewerkschaftshaus in der Rue Turbigo fort. Diese Krankenschwestern »von der Basis« scheren sich nicht um politische Gesichtspunkte. Ihrer Ansicht nach muß sofort gehandelt werden. Pascale, kaum älter als 25 Jahre und Krankenschwester in der Neurochirurgie in Kremlin-Bicètre, sammelt mit einigen Freundinnen die Namen und Adressen der Teilnehmer der ungeplanten Versammlung in der Rue Turbigo. Zwei Tage später trifft sich Pascale in den Räumen des Regionalkomitees Paris für die Koordination der CFDT-Gewerkschaften in den medizinischen Diensten (CRC) mit Pascal, einem Krankenpfleger aus der Psychiatrie in Ville-Evrard, mit Irène aus der Notaufnahme vom Krankenhaus Versailles, mit Isabelle aus Evry und mit einer fünften Krankenschwester, deren Vornamen vergessen wurde, weil sie sich zurückgezogen hat, als sie schwanger wurde. Die »Koordination« entsteht. Es ist kein Pfennig Geld da, nur eine Liste mit 60 normalen Krankenschwestern und im Kopf ein Modell, das vom Kampf der Anästhesiepfleger ausgeht, die seit einem Jahr das Recht auf eine eigene Berufsbezeichnung fordern.

Eine Koordination als Experiment

Ein erstes Flugblatt wird an die 60 Leute auf der Liste verschickt. Woher das Geld für die Unkosten nehmen? Die fünf zapfen die CRC-CFDT an, die ihnen schon ihr Büro zur Verfügung gestellt hat. Das Verhältnis zu den Aktiven dieses Komitees ist von Anfang an klar. Sie unterstützen die »Koordination« technisch. Darüberhinaus wollen sie sich an der Durchführung der Aktionen nicht beteiligen. Schließlich betrachtet die CRC-CFDT das Auftauchen dieser Bewegung aus dem Blickwinkel der Experten für soziale Bewegungen. Diese Gewerkschafter sind selbst etwas untypisch. Seit 1985 haben sie keine Verbindung mehr zu ihrem Gesamtverband, der ihnen auch keine Unterstützung gibt. Sie werden für ihre »Klassenkampf«-Positionen bestraft, die zu weit links vom neuen Mitte-Kurs Edmond Maires liegen. Für die Aktivisten der CRC-CFDT ist die »Koordination« ein Experiment, Erfahrungsmaterial, das man in die Debatte über die Rolle der Gewerkschaften in der Gesellschaft einbringen kann.

Mit ihren wenigen Groschen kann die Koordination nur auf die Mundpropaganda setzen, um in diesem Berufszweig Fuß zu fassen. Aber ihre Ziele sind hochgesteckt: Bis Ende November 1988 will sie landesweit bekannt und anerkannt sein. Soviel Zeit ist ihrer Ansicht nach mindestens notwendig, um im Pariser Raum sämtliche Krankenschwestern zu erreichen.

Eine zweite Ladung Flugblätter geht an die gewerkschaftlichen Organisationen, die gebeten werden, die Informationen über ihre Kanäle zu verbreiten. Einige tun das auch, andere werfen die Flugblätter gleich in den Papierkorb. Die Nachrichten verbreiten sich unterdessen über Freundschaftsbeziehungen, wie z.B. in Bretonneau, wo alle Krankenschwestern auf der Intensivstation beschließen, Kontakt zu ihren KollegInnen in der öffentlichen Fürsorge aufzunehmen. Damals war Pascale dort hingegangen, um die Ziele der »Koordination« zu erklären. Ein erster Erfolg.

Am 28. April kommen ins Gewerkschaftshaus in der Rue Chateau-d'Eau zur ersten Vollversammlung der Bewegung nur 80 Leute, aber sie kommen aus 22 Häusern der Pariser Region. An diesem Tag wird die Organisierung in Angriff genommen. Es entstehen Ausschüsse zu Lohnfragen, zu den Arbeitsbedingungen und zur Ausbildung. Die Frauen machen darauf aufmerksam, daß die Männer zu stark eingreifen. Der Beruf würde zu 80 Prozent von Frauen ausgeübt, und die Krankenpfleger sollten bitte das Podium nicht mehr besetzt halten. Von diesem Tag an wird eine Frauenquote von vier zu eins strengstens beachtet.

»Léon« gibt der Sache den letzten Kick

Die Versammlung ist konstruktiv: Das nächste Treffen wird für den 14. Juni anberaumt. Dann soll endgültig das Forderungsprogramm beschlossen werden.

Die Mundpropaganda geht weiter. Sie haben es satt, wie die Verrückten zu arbeiten und mit der Gesundheit der Kranken zu spielen. Sie haben es satt, daß ihre Arbeit als freiwilliger Dienst aufgefaßt wird, haben satt, was auf dem Gehaltszettel steht, und daß sie keine Minute Zeit haben, um mit den Patienten zu reden. »Die Beschäftigtenzahlen sind in diesem Bereich seit 1970 explodiert«, erklärt ein Mitarbeiter des Büros. »Heute trifft man auf Fünfzigjährige, die die Verbindung zu den Ordensschwestern aus den Ursprungszeiten des Berufs darstellen, ebenso wie auf Junge mit Schulbildung, deren Aufgaben immer technischer werden und die der Ansicht sind, daß sie einen Beruf ausüben und kein Ehrenamt. Aus den letzteren rekrutiert sich die Koordination.«

Am 14. Juni wird das Forderungsprogramm beschlossen: Sofortige Lohnerhöhung von 2000 Francs für alle. Die Zahl wurde durch keine besondere Berechnung, weder mit dem Kaufkraftverlust noch mit irgendeinem anderen Argument begründet. Es ist ein symbolischer Betrag, eine hoch angelegte Meßlatte, eine Forderung, die alle verbündet. Diesmal sind etwas mehr Leute anwesend und mehr Häuser vertreten. Klarer denn je handelt es sich um die Pariser Region; die Ausnahme bilden zwei Vertreter aus Dreux und Caen. An diesem Tag wird der Streik am 29. September beschlossen.

Die Arbeit vollzieht sich weiter im Untergrund. Während der Dienstzeit werden heimlich die Kopiergeräte der Ärzte und Chefs benutzt. Der vervielfältigte Streikaufruf beginnt, sich nach Art einer Beschwerde in ganz Frankreich zu verbreiten. Noch gibt es keinen gemeinsamen Plan, keine umfassende Strategie. Der Text zirkuliert über die Verbindungslinien der Bekanntschaften und Begegnungen. Über mysteriöse Netze erreicht er die meisten französischen Krankenhäuser, sowohl die öffentlichen wie die privaten. Im gesamten Berufszweig ist jetzt bekannt, daß eine »Koordination der Krankenpfleger – Ile-de-France« existiert.

Von Juli bis August passiert nichts oder fast nichts. Unter der Oberfläche schwelt der Brand weiter. Ende August zählt das Büro der Koordination die Unterschriften unter der Petition: Es sind 50 000. Nun muß der Streik vorbereitet werden. Die ersten Journalisten werden kontaktiert, immer noch unsystematisch. Die Krankenschwestern nutzen ihre Beziehungen. Wieder treten untergründige Netze in Aktion. In der Fernsehsendung »Stunde der Wahrheit« auf Antenne 2 gibt Léon Schwarzenberg [ehemaliger Gesundheitsminister] der Sache den letzten Kick. Indem er den Streik dort ankündigt, wird der Berufszweig vollständig informiert.

Auf der Vollversammlung vom 15. September sind mehr als 500 von ihnen im Gewerkschaftshaus in Chateu-d'Eau. Das begeistert. Die Presse ist eingeschaltet, der Minister ist beunruhigt. Am 29. September stehen über 20 000 Krankenschwestern hinter einer Phantom-Organisation, die nicht einmal daran gedacht hat, ihr »Ziel« bekanntzugeben, so offensichtlich erschien es ihr. Die Gewerkschaften sind überfordert, sie verstehen die Welt nicht mehr und wenden sich gegen diese Amateure, die mit ihrer Kraft und einer großen Portion Naivität in ihre reservierten Jagdgründe einbrechen. Die UNASIIF, die von der »Koordination« natürlich ins Abseits gestellt wurde, verhandelt immer noch mit der Regierung und ist voll Bitterkeit. »Wir verstehen nicht mehr, was vor sich geht«, sagt ein Mitglied des Vorstands. »Wir geben uns geschlagen. Vielleicht ist es zu diesem Ausbruch gekommen, weil die Krankenschwestern sich jahrelang abgeplagt haben und sich auch noch Vorwürfe machen mußten, wenn sie die Kranken im Stich gelassen haben, – alles bei vollständiger Unterordnung unter die ärztlichen Weisungen. Sie reagieren hart, aber sie haben auch viel Härte kennengelernt. Zum Beispiel, wenn sie Freitags aus dienstlichen Gründen gezwungen wurden, einen Strich durch ihre Wochenendpläne zu machen. «

Ein Neuentwurf der gesellschaftlichen Beziehungen

CFDT und FO machen eine Kehrtwendung. Noch hinterhältiger ist die CGT. Sie drängt sich in die Bewegung hinein, indem sie an die Forderungen der Krankenschwestern und -pfleger diejenigen der Hilfsschwestern (AS) und des Hilfspersonals (ASH) anhängt, wo es ebenfalls große Probleme gibt. Zugleich stimmt die CGT ein Geheul gegen den Korporatismus der Krankenschwestern an. Ja, wir sind korporatistisch, antwortet die »Koordination«, die keine Vermischung der Bereiche will. Die Krankenschwestern selbst stellen die Frage »Wer sind wir?« Ihre Maloche ist der Angelpunkt aller wichtigen Fragen. Aber hinter ihnen sucht man »die Hand aus Moskau«, die im Verborgenen die Fäden zieht. Für einige Mitglieder der Regierung geht es der CGT darum, Michel Rocard ins Schleudern zu bringen. Die CGT klagt die CFDT an, die ihrerseits … und so weiter und so fort. Die UNASIIF klammert sich an das Auftreten einiger Aktiver von LCR [stärkste trotzkistische Organisation in Frankreich] im Büro der »Koordination«, um über linke Umtriebe keifen zu können. Es wäre alles viel einfacher, ach so viel einfacher zu verstehen, wenn die Schwestern manipuliert wären.

Die Aktivisten der CRC-CFDT, die beim Erstellen der Flugblätter und Spruchbänder und bei der Organisierung der Demonstrationen helfen, versuchen, die Bewegung zu begutachten, die vor ihren Augen entstanden ist. »Wir haben uns in unserer Einschätzung geirrt. Wir dachten, es würde mit Lohnforderungen der Hilfsschwestern (AS) anfangen. Tatsächlich entdecken die Krankenschwestern aber jetzt gewerkschaftliche Handlungsmöglichkeiten außerhalb der Apparate. Sie entwerfen die gesellschaftlichen Beziehungen neu und lernen selbst zu kämpfen, außerhalb der »alten« Gewerkschaften, die auf ihre Wünsche nicht mehr eingehen.«

Die »Koordination« hat alle ihre Ziel schon zwei Monate vor dem am 27. März festgesetzten Datum erreicht. Die Gewerkschaften sind gezwungen, das Verhältnis zu ihr zu bestimmen. Der Minister, der zunächst kein Treffen mit ihr wollte, muß klein beigeben und empfängt sie, bevor verhandelt wird.

Claude Evin zögert noch immer, einen Zusammenschluß anzuerkennen, der keiner ist, der keine Vertretungsbefugnis hat, aber als einziger die Mehrheit des Berufsstandes mobilisiert. Gewerkschaften und Staat haben dasselbe Interesse, nämlich diese »Koordination« scheitern zu sehen, die sich am 8. Oktober auf nationaler Ebene konstituieren will. Ganz naiv haben die Krankenschwestern ein Terrain der gesellschaftlichen Beziehungen besetzt, wo niemand sie zu sehen wünscht. Um das zu erreichen, haben sie in sechs Monaten ganze 50 000 Frs ausgegeben … und sich einen Anrufbeantworter geleistet. In ihren Händen ist ein starker Trumpf: Sie bringen Gewicht auf die Matte.

 

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