Wildcat Nr. 72, Januar 2005, S. 51–52 [w72_venezuela_brief.htm]
Leserbrief
Umstrittene SpielräumeZur Besprechung von »made in venezuela« in Wildcat 71 hat uns ein Genosse aus Spanien einen Leserbrief geschickt. Er war im Frühjahr 2004 für einen Monat in Venezuela.
MG stellt vor allem heraus, dass die »bolivarianische Revolution« gar keine Revolution in dem Sinne ist, wie sie die marxistische Linke seit der Kommune von Paris versteht: »Die Situation am Arbeitsplatz und die Frage nach der Kontrolle und Organisation der Produktionsprozesse sind unterbelichtet.« »… aber im gesamten Buch findet man keinen einzigen Hinweis auf irgendeine Arbeiterversammlung, die abwählbare Delegierte wählt und entscheidet, was, wie, wann, womit und wofür produziert und verteilt wird. Solche Entscheidungen sind unangefochten in den Händen von Staatsbürokraten oder Privatkapitalisten.«
Das mag alles stimmen, und es stimmt auch tatsächlich. Aber diese Argumente können den revolutionären Charakter des Prozesses nicht verneinen. Es wäre nicht richtig, wenn wir ihn nur dann als revolutionär anerkennen würden, wenn die Arbeiter dabei sind, die Macht zu übernehmen und die Unternehmer von den Produktionsmitteln zu enteignen. Aber die Geschichte spielt sich nicht nach Maßgabe der Theoretiker ab, sondern hat eigene Mechanismen, und wenn sie uns in neue, unerwartete Situationen bringt, sollten wir nicht versuchen, sie in unsere geistigen Schemata zu pressen.Die Chávez-Regierung ist nicht sozialistisch und behauptet auch nicht, die Produktionsmittel zu sozialisieren. Alle in Venezuela wissen das. Chávez sagt das vollkommen deutlich in einem Interview: »Ich bin weder Marxist noch glaube ich an die proletarische Revolution. Denn ich sehe in keinem Land der Welt die Arbeiter den Kampf gegen den Kapitalismus anführen.«
(…)
Was ist also das Revolutionäre an dem Prozess, den die Chávez-Regierung angestoßen hat? Antwort: Das Revolutionäre ist die Tatsache, dass er die Bildung sozialer Organisationen, Radiostationen, unabhängiger Publikationen, in denen jeder sagt, was er denkt, ermöglicht hat. Vielleicht gibt es heute auf der ganzen Welt kein anderes Land mit vergleichbaren Freiheiten. Die zu einem guten Teil vom Staatsapparat subventioniert werden, der sie wiederum dazu benutzt, um Nationalismus und Patriotismus zu propagieren. Das sollte uns nicht erstaunen und auch nicht Gegenstand einer Kritik sein, denn es gehört zu einer bürgerlichen Regierung, dass sie an einer ökonomischen Entwicklung interessiert ist, die weniger vom Giganten aus dem Norden abhängt als die sie umgebenden Ökonomien. MG sagt: »Der Appell an die nationale Solidarität ist das ideologische Gift, das jede ernsthafte Klassenkonfrontation in den Sumpf der Akzeptanz der sozialen Verhältnisse zieht.« Einverstanden, aber diese Vorstellung bringt man den Arbeitern nahe, wenn man ihnen zeigt, dass der venezolanische Unternehmer genauso ein Ausbeuter ist wie der ausländische. Und das nimmt nur im alltäglichen gewerkschaftlichen Kampf Gestalt an, und dort müssen wir sein, die wir uns revolutionär nennen, und müssen das den Arbeiterin deutlich machen. Dabei handelt es sich um einen Prozess und nicht um eine Schulstunde. Dieser Prozess ist sehr widersprüchlich.
Aus meinem Besuch habe ich die Schlussfolgerung gezogen, dass der stärkste Feind, den es zur Zeit zu bekämpfen gilt, nicht die »chavistische« Ideologie ist (die weniger eine Ideologie, sondern mehr eine Bewegung ist), sondern die sektiererische Linke: Trotzkisten und Anarchisten, die es sehr eilig zu haben scheinen, der venezolanischen Bevölkerung auf der Basis ihrer europäischen Theoretiker klarzumachen, wie ihr leuchtendes revolutionäres Morgengrauen aussehen wird. Die Trotzkisten sind schlauer und versuchen den Prozess durch die Einführung ihrer Ideen zu begleiten, wie Allen Woods mit seinem langen Brief »Los marxistas y la revolución venezolana«1. Aber die Anarchisten gehen weiter und sprechen von einer dritten Alternative angesichts der Reaktionäre auf der einen Seite und dem Chavismus auf der anderen Seite: »Durch eine konsequent antiautoritäre und libertäre Haltung sind die venezolanischen Anarchisten auf Distanz sowohl zu den Vertretern des Chavismo als auch zur Opposition geblieben, die aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung Kapital schlagen wollen, um ein noch ausschließenderes und elitäreres Projekt als unter der Führerschaft von Chavez zu installieren. Wir Libertäre spinnen ohne Eile aber auch ohne Pause an einem Netz von Sektoren, die in diesem Land an einer Alternative arbeiten, die voller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit sein wird.«2
Es ist nicht nötig zu erwähnen, wem so etwas in der polarisierten venezolanischen Gesellschaft dient, in der ein David einem Goliath gegenübersteht. Erinnern wir uns daran, dass Marx sich der Kritik an den Irrtümern und Fehlern der Pariser Kommune enthielt, auch wenn er sie kannte, bis sie geschlagen war. Während eines solchen Prozesses muss man sich auf die Seite derjenigen stellen, die die besten Möglichkeiten für den Fortschritt der Revolution geben. Mit der »Vetternwirtschaft« und den Versuchungen der bürgerlichen und darüber hinaus korrupten Kader des chavismo muss man rechnen, denn sie sind ein natürliches Produkt der bürgerlichen Gesellschaft. Sie müssen nicht kritisiert, sondern bekämpft werden.
(…)
Als ich in Caracas war, habe ich mich besonders mit den Gewerkschaften beschäftigt. Ich habe an ihren öffentlichen Versammlungen teilgenommen und habe in der Zentrale der neuen Gewerkschaft UNT mit den »Koordinatoren« gesprochen und Material gesammelt. Meine Schlussfolgerungen ziehe ich mehr aus der Beobachtung ihres Milieus und ihrer Verhaltensweisen als aus dem, was sie mir wörtlich gesagt haben. Ich habe eine Gewerkschaft vorgefunden, deren Kader mehrheitlich Kommunisten verschiedener Strömungen sind, scheinbar mit einer Dominanz trotzkistischer Herkunft, die alle dasselbe erzählen wie kommunistische Gewerkschafter in Europa. Sie bewegen sich innerhalb des chavismo ohne größere Probleme. Die UNT befindet sich noch im Aufbau und ihre Büros (in Caracas) gehören dem Arbeitsministerium.
Man kann nicht gerade behaupten, die Arbeiterklasse stünde an der Spitze der Bewegung. In einer Gesellschaft mit einer Armutsrate von mehr als 70 Prozent sind diejenigen, die eine mehr oder weniger gutbezahlte Anstellung haben, Konsumenten geworden. Sie haben Wohnung, Auto, Möbel etc gekauft, auf Kredit selbstverständlich, und sie sind dabei, zu einem Teil der unteren Mittelklasse zu werden. Im Zentrum von Caracas wimmelt es von Büros kleiner Kredithaie für diejenigen, die Probleme beim Bezahlen ihrer Schulden haben. Genauso wie hier haben diese Arbeiter eine mehr oder weniger konservative Tendenz, sie wollen sozialen Frieden und Arbeit, damit sie ihre Hypotheken bezahlen können. Die Verschuldung pro Familie hat für ein Dritte-Welt-Land wie Venezuela ein ziemlich hohes Niveau. Das wissen auch die Rechten, die versuchen, diese Arbeiter für sich zu gewinnen, indem sie über die Medien ständig ein Klima der Konfrontation und Unsicherheit schüren, in dem das Land angeblich wegen Chávez lebt. Ein Klima, das man nirgends spürt, außer auf den immer schlechter besuchten und immer gewalttätigeren Demos der Opposition selbst. Die größte Unterstützung hat der chavismo beim »Lumpenproletariat«, das aus Straßenhändlern, selbständigen Arbeitern, Prekären, indígenas und Bauern besteht, also denjenigen, die der Kapitalismus nicht vollständig in den Produktionsprozess integriert hat. Andererseits sind die Ergebnisse des Referendums in den dichter besiedelten und weiter industrialisierten Regionen ausgeglichener als in den ländlichen Regionen.3
Zum Schluss möchte ich noch auf die Universidad Central eingehen: Aus dieser »Bastion der Linken«, wie MG sie nennt, ist ein guter Teil der Politiker der Vierten Republik und von Ex-Revolutionären hervorgegangen, die heute die Stoßtrupps der Coordinadora Democrática bilden. Die Lateinamerikaner haben bereits genügend Erfahrungen mit solchen Linksradikalen aus den 60er und 70er Jahren, die später in die Regierung gegangen sind. Es gibt in der großen Mehrheit der universitären Linken, egal welcher Strömung, die Tendenz, das Volk zu regieren, denn die kulturellen Unterschiede sind in Lateinamerika so brutal, dass sich diese Linken noch nicht einmal vorstellen können, dass das Volk irgendeine Idee oder ein Projekt hervorbringen könnte. Außerdem muss man sich etwas klarmachen, was in der Buchkritik von MG überhaupt keine Rolle spielt, aber im venezolanischen Prozess sehr wichtig ist: den latenten Rassismus der Mittelklassen. Die Armen sind nicht nur einfach arm, wie hier in Europa, sondern sie sind auch schwarz, Mischlinge, Mulatten und Indios, was für die Mittelklassen gleichbedeutend ist mit Säufern, Idioten, Drogenabhängigen und Dieben. Es gibt also noch viele offene Kampflinien und viele Hindernisse, die überwunden werden müssen.
In der aktuellen Weltlage und angesichts der Stellung Venezuelas ist es unsere Aufgabe, auch wenn es sich um eine bürgerlichen Revolution mit antikolonialistischen Zügen handelt, diese zu unterstützen und zu vertiefen, indem wir zu konkreten Punkten Stellung nehmen und in unseren Kritiken die positiven Seiten betonen. Wenn z.B. die Regierung den Organisationen Geld und Büros zur Verfügung stellt, damit diese ohne Vorbedingungen und Zensur diskutieren können, dann sollten wir das begrüßen, auch wenn die Regierung daran interessiert ist, sie zu kontrollieren. Denn je mehr Menschen sich daran beteiligen, desto schwieriger sind sie zu kontrollieren. Ich habe viele Texte solcher Publikationen gelesen und bin völlig sicher, dass sie nicht den Anweisungen der Regierung folgen. Sie gehen viel weiter und sind weder zensiert noch verboten worden.
Antonio, Zaragoza
Fußnoten:
1 »Los marxistas y la revolución venezolana«: www.elmilitante.org 2 »Los anarquistas venezolanos frente al chavismo«: el libertario 3 www.cne.gov.ve/resultados
aus: Wildcat 72, Januar 2005