Wildcat Nr. 81, Mai 2008, S. [w81_oeffentlichkeit.htm]



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Wie machen wir's öffentlich?

Im Leitartikel der Wildcat 79 hatten wir geschrieben: »Endlich werden auch in der BRD Kampferfahrungen in einer gewissen Breite gemacht. In der Vergangenheit verpufften die wenigen Erfahrungen, und die nächsten Kämpfe fingen wieder bei Null an. Sie fanden in einem gesellschaftlichen Vakuum statt. Alle Streikenden fühlten sich allein und unbeachtet.« Das ging im letzten Jahr nicht nur streikenden ArbeiterInnen so (tausende von Verkäuferinnen blieben auf ihren Demos oder beim Streikpostenstehen vor den Kaufhäusern allein und damit ein Anhängsel zäher Tarifverhandlungen), sondern auch der Anti-G8-Bewegung. Dass in beiden Fällen die Frage nach der »Öffentlichkeit« aufgeworfen wird, ist verständlich und ein richtiger Schritt – aber beide haben die Frage zunächst mal falsch, nämlich institutionell beantwortet. Der Artikel in der Wildcat 79 fuhr fort: »Inzwischen bauen die Streiks nach und nach ihr eigenes Terrain auf.« Das wollen wir im folgenden näher beleuchten unter dem Aspekt: was brauchen wir für eine Öffentlichkeit?

Das steht in keiner Zeitung.


Alleine können wir nicht gewinnen – wie können wir uns sichtbar machen? Wie können wir Verbündete erreichen? Dass den einen nur »Promis und RTL-Fernsehen ins Streikzelt holen«, den anderen nur »Professionalisierung der Medienarbeit« einfällt, geht hinter die eigenen Erfahrungen und die eigenen Zielsetzungen zurück. »Professionalisierung« hieß beispielsweise in Heiligendamm eine doppelte Arbeitsteilung (zwischen Medienprofis und Bewegung; zwischen professionellen Medienarbeitern und professionellen Technikerinnen). Jede Kritik am Sprechen für Andere, alle Träume von Selbstbefähigung und Hierarchiefreiheit werden damit unterhöhlt.

»BILD lügt«,

das wissen die meisten. Und viele haben auch schon die Erfahrung gemacht, dass die taz lügt. Wer schon mal einen Zeitungsbericht über etwas gelesen hat, was er selbst erlebt hat, weiß dass die Massenmedien nicht informieren. Aber von der gewalttätigen Macht der Falschmeldung nach der Demo gegen den G8-Gipfel in Rostock waren dann doch alle komplett überrumpelt: »mehrere hundert schwer verletzte Polizisten« legitimierten die Käfighaltung und den Bundeswehreinsatz, und trieben die DemonstrantInnen politisch auseinander. Trotzdem wurde kurz danach ausgerechnet von denen, die den Medien am meisten auf den Leim gekrochen waren, schon wieder beflissen behauptet, es sei möglich, »unsere Inhalte einzubringen«. Die Massenmedien sind Teil der Herrschaft, kein »umkämpftes Terrain«, das wir verändern und für unsere Zwecke benutzen könnten – es sei denn, diese Zwecke sind die Denunziation der Militanten. Etwas anderes ist es, Massenmedien für ein genau umgrenztes Ziel zu benutzen, etwa eine Freilassungskampagne. Das kann funktionieren, zu fragen ist, welchen »Preis« man dafür an anderer Stelle bezahlen muss. Das ist aber nicht Thema dieses Artikels.
Viele Leute würden in der Argumentation so weit mitgehen. Trotzdem stehen sie dann im Falle des Falles vor dem Problem, dass sie ihren eigenen Kampf anderen mitteilen wollen. Denn fast allen Kämpfen und Bewegungen der letzten Zeit fehlte der soziale Rückraum, selbst große Demos wie die gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm sind erstmal »gesellschaftlich allein«. Das schwächte die Kampfkraft von Streiks stärker als die vielbeschworene Globalisierung. Wir wissen aus der Geschichte, wie entscheidend das proletarische Viertel bei historischen Schlachten war (Hauseingänge als Versteck; Runterkippen von heißen Flüssigkeiten auf die Polizei; Zuhilfeeilen bei Betriebsbesetzungen; aber auch moralische Unterstützung, Versorgen mit Essen usw.). Entgegen mancher romantischer Vorstellungen gibt es solche Viertel kaum noch, auch die riots in Frankreich im Herbst 2005 blieben in ihren »eigenen« Vierteln minoritär.
Die Verbindung zwischen Stadtteil und Arbeiterkampf ist kein ganz neues Problem, bereits Friedrich Engels beschrieb 1872 das »Breschelegen«: »gerade und breite Straßen mitten durch die enggebauten Arbeiterviertel zu brechen«, wobei neben »dem strategischen Zweck der Erschwerung des Barrikadenkampfes« die soziale Aufmischung der Viertel durch »die Heranbildung eines von der Regierung abhängigen, spezifisch-bonapartistischen Bauproletariats« beabsichtigt sei.[1] Diese strategische Stadtplanung, z.B. in Paris nach den Aufständen von 1848, erreichte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen Höhepunkt, als die im Bombenkrieg zerstörten proletarischen Stadtteile komplett aufgemischt und überall Durchgangsstraßen gebaut wurden. Die Jugendkulturen der 50er Jahre (Halbstarke, Teds, …) waren auch eine Reaktion darauf, dass es das »proletarische Viertel« nicht mehr gab. Durch einen bestimmten Kleidungsstil konnte man sich auch außerhalb des eigenen Kiez erkennen. Sich gegenseitig zu erkennen und Plätze in der Innenstadt zu erobern war ein zentrales Thema (gesteigert noch in der Gammlerbewegung der 60er Jahre, abgeschwächt bei den Punks der 70er und 80er Jahre).
Wirklich zur Sache im Straßenkampf ging es immer dann, wenn politische Bewegungen und Jugendkulturen zusammen kamen. Und nur wenn solche Szenen sich vermischten, haben sich die Konflikte ausgeweitet und radikalisiert, entstanden Bewegungen (die Jugendzentrumsbewegung in den 70er Jahren zum Beispiel). Was aber tun, wenn man allein vorm bestreikten Betrieb steht, oder allein im besetzten Haus rumhängt? Gerade weil wieder viel mehr, aber vereinzelt gekämpft wird, scheint es eine Möglichkeit zu sein, andere Leute mit Hilfe der Medien zu erreichen. Man setzt auf sie als Verbindung »nach draußen«, um zu sagen, warum man streikt, oder was am G8-Gipfel scheiße ist.
Es gibt hier zwar keine Zensur mehr, aber es ist erstmal gar nicht so einfach, »in die Presse« zu kommen. Umso enttäuschter sind die Leute dann meistens, wenn sie es nach vielen Bemühungen geschafft haben und ihr Streik endlich im Fernsehen kommt. Es sind nämlich meist nur ein paar Sekunden, die untergehen im Meer der anderen Informationen. Auch wenn in letzter Zeit tatsächlich streikende Lokführer und manchmal sogar streikende Verkäuferinnen im Fernsehen zu sehen waren, erfuhr man wenig über ihre Motive – und gar nichts über ihre Erfahrungen. Was in einer Auseinandersetzung gemeinsam anfängt, findet auf dem Sofa vor der Glotze keine Fortsetzung. Und weil man den Medien gegenüber gar nicht ehrlich sein kann, fängt man selbst an zu lügen, zu beschönigen, Widersprüche zu übertünchen – ohne dass man tatsächlich Einfluss darauf nehmen könnte, was berichtet wird.
Wir behaupten nun aber, das ist nicht schlecht, sondern das ist gut so! Bürgerliche Öffentlichkeit kann unsere Erfahrungen gar nicht transportieren! Sie muss ein »abstraktes Allgemeines« herstellen – eine Perspektive für die Entwicklung der Menschengattung, Republikanismus, Würde – sie muss einen Friedenszustand simulieren (Negt/Kluge [3]). Leute, die was verändern wollen, vertreten aber zunächst einmal ein Partikularinteresse.

Was Neues entsteht

 Eine Linke, deren Praxis in der Erfindung »anschlussfähiger Kampagnenthemen« besteht, um »andere gesellschaftliche Gruppen« zu erreichen, entwaffnet sich selber. Und macht die anderen zu Objekten und aufzuklärenden AdressatInnen ihrer »Öffentlichkeitsarbeit«. Die Idee zum Beispiel, den Klimawandel als Thema aufzugreifen verkennt, dass dieser Diskurs die Rettung der »Menschengattung« auf die Tagesordnung setzt und damit Kämpfen »von unten« entgegenläuft.
Die Linke protestiert gegen die »Privatisierung des öffentlichen Raums« und verpasst dabei, dass man sich Öffentlichkeit nehmen muss.
Unsere Marginalität können wir nicht über professionelle Medienkampagnen und Diskurspolitik, sondern nur durch die Verbindung zu realen Kämpfen durchbrechen. Wenn man an Öffentlichkeit ohne Inhalt, an Öffentlichkeit als Spektakel ansetzt, kommt bestenfalls eine horizontale Vernetzung heraus. Wenn man am Inhalt, an der Erfahrung ansetzt, wird daraus eine Vertiefung. Erfahrungen sind aber nur als öffentliche möglich. Ein gutes Beispiel dafür ist die Frauenbewegung: Die Frauen haben ihre individuellen Erfahrungen aus der »Privatsphäre« gerissen, zu einer gemeinsam Erfahrung und damit veränderbar gemacht.
Das Schöne ist, dass sich solche Prozesse schon entwickeln. Niemand hat mehr ein Problem damit, sich beim Bäcker als Hartz IV-Empfänger zu outen, altgediente Verkäuferinnen diskutieren über ihren Streik, der Postbote lässt sich ohne Zögern in ein Gespräch über seinen Job verwickeln. Arbeitsbedingungen werden nicht mehr als Privatproblem, sondern mehr von einem gemeinsamen Standpunkt aus gesehen. Es gibt wieder Konflikte, es werden wieder (neue) Erfahrungen gemacht und nicht nur Rituale wiederholt. Die vielen Streiks werden (zumindest in Berlin) auch im Alltag spürbar und treffen auf die verbreitete Stimmung, dass es reicht mit Arbeitszeiterhöhungen, Arbeitsverdichtung und Lohnsenkungen. Beim GDL-Streik wurde das deutlich: obwohl er Einschränkungen und Unannehmlichkeiten mit sich brachte, wuchs die Sympathie. Trotz der Verarschung durch die Gewerkschaft kam ganz gut rüber, was »die Eisenbahner« wollten und hat ihr Streik positiv gewirkt (bis hin nach Rumänien und den Streikenden bei Dacia!). Weil sie nicht fürs bürgerliche Allgemeininteresse, sondern für ihr Partikularinteresse gekämpft haben!

rausgehen!

Kämpfe gegen Betriebsschließungen stehen vor einem ähnlichen Problem wie z.B. »streikende« Studis: sie können keinen Druck durch das Blockieren der Produktionsmittel aufbauen. Die Streikenden müssen »rausgehen«, sich an andere wenden. Und das ist gar nicht so einfach. Auch die »Fußgängerzone« ist erstmal bürgerliche, normierte Öffentlichkeit. AktivistInnen, die dort Aufmerksamkeit für ihren Kampf oder ihr Anliegen wecken wollen, konkurrieren mit Unterschriftensammlern und Werbeheinis. Die BSH-ArbeiterInnen haben während ihres Streiks im Herbst 2006 [2] einmal eine große Aktion auf dem Ku’damm veranstaltet, sich als Waschmaschinen verkleidet, per Hand Wäsche gewaschen und eine Blaskapelle mitgebracht. Am Ende sagten sie: »Damit kann man keine Öffentlichkeit herstellen.« Der Frust, der bei vielen Bemühungen dieser Art entsteht, führt dann gegen besseres Wissen dazu, doch wieder auf Promis und Presse zu setzen.
Ganz anders hat der »Marsch der Solidarität« währed des BSH-Streiks funktioniert, bei dem die ArbeiterInnen Betriebe besuchten, die in einer ähnlichen Situation waren. Statt zu versuchen, die bürgerliche Öffentlichkeit für sich einzunehmen, haben sie einen Zusammenhang zu anderen Kämpfen hergestellt. Sie bekamen von den Stahlarbeitern in Eisenhüttenstadt Ratschläge und handfeste Unterstützungsangebote, in Kamp-Lintfort war die halbe Stadt auf den Beinen, in Dillingen legten die KollegInnen für ein paar Stunden die Arbeit nieder… und in der Fußgängerzone in Nürnberg wurde ihnen erklärt, dass sie aufpassen müssen, weil die IG Metall versuchen wird, sie zu »verraten«! Durch den Austausch von Erfahrungen können so auch Orte nutzbar gemacht werden, die erstmal für was ganz anderes gedacht sind. Auch VerkäuferInnen, die in den letzten Monaten während der Streiks im Einzelhandel in den Fußgängerzonen Streikposten standen, haben zu solchen Prozessen beigetragen und aus einem Ort des Konsums einen der öffentlichen Auseinandersetzung gemacht. Diesen Lernprozess mussten sie notfalls mit Fußtritten fördern, um ihr kollektives Interesse gegen individuelles Konsuminteresse oder Streikbrecherei durchzusetzen. Wenn das Wissen, die Erlebnisse und die Gedanken von Vielen zusammen kommen, ist das nicht einfach mehr Wissen, sondern es wird zu einer anderen Qualität, zu Erfahrung. Nur so, über solche sozialen Prozesse sind Lernschritte möglich. Mit zwanzig Leuten direkt zu reden kann besser sein, als Tausende über die Medien (dann doch nicht) zu erreichen. Die Sprengkraft des »Marsches der Solidarität« lag darin, dass er sich vorgenommen hatte, solche Prozesse von unten zu organisieren: direkten und selbstkontrollierten Erfahrungsaustausch, damit Infos und Ideen zirkulieren, die niemals in der Zeitung stehen und die die Gewerkschaft nicht vermittelt, eigene Kontakte knüpfen, sich verabreden. Den BSH-ArbeiterInnen war in letzter Konsequenz gar nicht klar, was für eine scharfe Waffe sie da in die Hand genommen hatten. Die Kontakte in andere Städte zu halten und die gemeinsame Demo in München zu planen, haben sie deshalb der Gewerkschaft überlassen. Die hat den Marsch dann abgebrochen – und seither keine Streiks gegen Betriebsschließungen mehr organisiert.

hingehen!

In Kämpfen können die Mystifizierungen des Kapitals, die Mechanismen, die uns trennen durchbrochen werden: Konkurrenz, Leistung, Geld… Es sind oft nur kurze Momente, in denen die Möglichkeiten offen liegen. Die dabei gemachten Erfahrungen wurzeln im Konflikt und vergehen mit ihm auch wieder. Deshalb ist es eine gute Entwicklung, dass mehr und mehr Linke zu Streiks hingehen, sich solidarisieren und fragen, wie sie »unterstützen« können. Es ist aber wichtig, über die Idee des »Unterstützens« rauszukommen, denn sich gegenseitig ernstzunehmen bedeutet voneinander zu lernen, sich selbst zu verändern und in Frage stellen zu lassen, aber auch sich zu kritisieren. Die Kämpfe kritiklos zu feiern, um erstmal überhaupt Interesse dafür herzustellen, betoniert sie im Status Quo ein. Denn die Verherrlichung der guten Ansätze verhindert nur, dass sie sich entfalten können. Eine Arbeiterzeitung ist vielleicht eher Ausdruck einer scheintoten als einer lebendigen Öffentlichkeit, genauso wie ein Gesangsverein heute nicht mehr der Ort ist, an dem sich ProletarierInnen treffen. Die emanzipieren sich von solchen Formen, wenn sie erstarrt sind. Wichtiger als an alten Institutionen festzuhalten ist es, die Erfahrung in der Herstellung von Erfahrung zu erweitern (Negt/Kluge). Die Stärken und Schwächen der Kämpfe selbst wahrzunehmen hilft mehr, als sich auf politisches Kalkül zurückzuziehen oder sich mit dem Glücksgefühl durch ein kurzes Gemeinschaftserlebnis zufrieden zu geben. Und ein zweites Beispiel aus einer ganz anderen Perspektive: Auch wenn die Demos und Blockaden von Heiligendamm weit weg von einer sozialen Bewegung waren, haben sie Leute mitgerissen und angesteckt. Der monatelage Aufbau der Camps und die Faszination des kollektiven Lebens, das dort organisiert wurde, die vielen tausend DemonstrantInnen, haben die Jugendlichen vor Ort und sicher auch einige DorfbewohnerInnen beeindruckt. Sie haben sich in Diskussionen verwickelt – und sind jetzt wieder unter sich. Auch die Linken sind unter sich bei ihren »politischen Aufarbeitungsdiskussionen«, die vielleicht zum nächsten Kongress führen, aber nicht an den Erfahrungen anknüpfen, die dabei entstanden sind. Auch hier heißt es »hingehen!« und in mecklenburgischen Jugendzentren die begonnenen Diskussionen und Lernprozesse fortsetzen. Erfahrungen, die uns weiterbringen, aus denen wir lernen und auf die wir aufbauen können, sind etwas Kollektives und lassen das individuelle Hamsterrad hinter sich. Sie ermöglichen, gemeinsam was zu verändern - Subjekt zu werden. Es geht darum, was wir als Vereinzelte erleben, überhaupt zu etwas Gemeinsamen zu machen – die Tatsache, dass wir die Gesellschaft gemeinsam, aber »hinter unserem Rücken« produzieren, an die »Öffentlichkeit« zu holen.

Gegenöffentlichkeit?

Stattdessen haben die linken Medien eine Tendenz zur Beschäftigung mit sich selbst und sind blind nicht nur gegenüber der Situation und den Kämpfen von anderen, sondern auch gegenüber den gesellschaftlichen Folgen der eigenen Praxis (wie das Beispiel aus Heiligendamm zeigt).
Die linken Medien dienen vor allem der eigenen Verständigung und Identitätsbildung. Indymedia erreicht nur die eigenen Leute – und diese erwecken oft den Eindruck, dass sie tatsächlich nicht viel mehr mitkriegen als auf indymedia steht. Der Ausstoß an Kommunikationsmitteln und die Beschäftigung mit der neuesten Vernetzungstechnik stehen in seltsamem Kontrast zu den fehlenden politischen Ideen und »Inhalten«. Aber eine andere Form der Öffentlichkeit ersetzt nicht gemeinsame Erfahrungen und Diskussionen. Auch linke Medienproduktion ist »privat« organisiert: Die Beiträge werden von Einzelnen verfasst, die Zusammenarbeit beschränkt sich darauf, sie zusammenzuwürfeln. Eine von anderen Menschen abgekoppelte Gegenöffentlichkeit bedingt gerade die Kooperation mit den Massenmedien. Technisch ist heute vieles möglich. Niemand braucht teure Maschinen, um selber Filme zu drehen. Jede Arbeiterin mit einem Fotohandy kann ihren Streik auf youtube dokumentieren (und die ArbeiterInnen weltweit haben das auch erkannt und nutzen das massiv! siehe die Beiträge zu China, Ägypten und Rumänien im Heft). Aber man hat den Eindruck, dass die Nutzung des Internet in der deutschen Linken eher zu mehr Vereinzelung führt. Es dreht sich immer mehr um (vermeintliche) Öffentlichkeit, um »Informationen« und letztlich um Meinungen und Befindlichkeiten – und immer weniger um »Erfahrung«, die nur im Ergebnis einer Auseinandersetzung mit anderen zu haben ist.

Erfahrung ist nur als öffentliche vorstellbar

»Proletarische Öffentlichkeit« muss erkämpft werden, sie ist und war auch im Arbeiterviertel nicht »organisch« vorhanden. 1968 ff. ist das möglich geworden: zunächst schufen die Demos und Besetzungen eine Öffentlichkeit, in der Arbeiterkämpfe wahrgenommen wurden; dann konnten diese sich von den Fabriken in die Stadtteile ausweiten und viele Aspekte der Reproduktion angehen: Strom, Miete, Familie… Die Auseinandersetzungen konnten zum Kampf der Klasse werden, weil die Arbeiter die Kämpfe mit der Fabrik als Zentrum kollektivieren konnten. Die Fabrik hat diese organisierende Kraft verloren, zum einen durch Massenentlassungen, zum anderen durch die Aufsplitterung der ArbeiterInnen durch Umstrukturierung und Deregulierung. Es gibt gar keine Gelegenheiten mehr, bei denen viele ArbeiterInnen sich treffen und ihre eigene »Masse« wahrnehmen können, denn durch die Flexibilisierung der Arbeitszeiten gibt es oft keine gemeinsame Mittagspause und gleichzeitigen Schichtwechsel mehr. Nicht nur ein vertrauter Raum, sondern ein kollektives Bezugssystem ist verloren gegangen. Denn der Rückhalt im Stadtviertel und der Community hing nicht nur von räumlicher Nähe, sondern auch davon ab, dass die gemeinsamen Interessen klar waren und durchgesetzt wurden. Nun sollen Arbeiter zu »Staatsbürgern« werden, denen nur der »Republikanismus« der bürgerlichen Öffentlichkeit bliebe, die den Arbeiterstandpunkt in Einzelinteressen zerlegt. Die Arbeiterviertel haben auch immer Kontrolle und Enge bedeutet, die Jugendlichen sind aus ihnen ausgebrochen. Die ethnischen Communities, die viele Kämpfe der 70er Jahre getragen haben, waren immer auch repressiv, die heutigen migrantischen Kämpfe wollen sich gar nicht mehr auf sie beziehen. Etwas Neues muss an die Stelle der alten »Verankerung« treten. Ein neues öffentliches, kollektives Subjekt kann nur in Kämpfen entstehen, man kann es sich nicht ausdenken wie das »Prekariat« oder die »Multitude«. Mit diesem Text wollen wir die Aufmerksamkeit drauf lenken, dass das Ausdenken auch gar nicht nötig ist, denn dieses Neue ist bereits unterwegs.
Und daran gilt es anzusetzen, anstatt in unseren eigenen Medien hängen zu bleiben, oder weitere professionelle Kampagnen auf die Beine zu stellen. Damit aus den neuen Erfahrungen ein kollektives Gewebe, eine »öffentliche Erfahrung« entsteht, müssen diese ausgetauscht, diskutiert und kritisiert werden. Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem »Marsch der Solidarität« und der Waschaktion auf dem Kudamm, zwischen den Streikposten vorm Kaufhaus und dem linken Diskurs über »Freiräume«, wenn es dabei nur um eigene Zentren und Rückzugsorte geht.
Als die streikenden BSH-ArbeiterInnen nach Kamp-Lintfort kamen und dort von der halben Stadt empfangen wurden, entstand ein direkter Austausch zwischen den ArbeiterInnen, nicht vermittelt über die Gewerkschaft oder RTL. In der Wildcat 79 hatten wir das so zusammengefasst: »da entstand punktuell so etwas wie proletarische Öffentlichkeit.«
Im Artikel Migrantische Arbeit als neue Verallgemeinerung der kapitalistischen Arbeit in der Wildcat 78 hatten wir nach der »kollektiven Sichtweise, die von der Erfahrung ausgeht« gesucht. (siehe auch den Artikel Kein Mensch ist legal! in Wildcat 81 )
Es ist egal, ob wir das »proletarische Öffentlichkeit« oder »kollektive Sichtweise« nennen, beide Begriffe sind nur vorläufige Annäherungen – »Ändern sich die geschichtlichen Situationen wirklich, dann stellen sich auch neue Worte ein« (Negt/Kluge). Ein Zyklus von Klassenkämpfen entsteht immer dann, wenn soziale Gruppen anfangen, die Kämpfe von anderen »nachzumachen«, dabei aber ihr eigenes Ding entwickeln! »Machen wir es wie die Studenten!« (1968) »Machen wir es wie die Arbeiter!« (1969) »Machen wir es wie die Lokführer!« (2008) – Aber machen wir es öffentlich!



[1] Friedrich Engels: Zur Wohnungsfrage (1872)
»… gerade und breite Straßen mitten durch die enggebauten Arbeiterviertel zu brechen und sie mit großen Luxusgebäuden an beiden Seiten einzufassen, wobei neben dem strategischen Zweck der Erschwerung des Barrikadenkampfes noch die Heranbildung eines von der Regierung abhängigen, spezifisch-bonapartistischen Bauproletariats und die Verwandlung der Stadt in eine reine Luxusstadt beabsichtigt war. … die allgemein gewordene Praxis des Breschelegens in die Arbeiterbezirke, besonders die zentral gelegenen unserer großen Städte… Das Resultat ist überall dasselbe…: die skandalösesten Gassen und Gäßchen verschwinden unter großer Selbstverherrlichung der Bourgeoisie…, aber sie erstehn anderswo sofort wieder und oft in der unmittelbaren Nachbarschaft.
In Lage der arbeitenden Klasse in England gab ich eine Schilderung von Manchester, wie es 1843 und 1844 aussah. Seitdem sind durch Eisenbahnen, die mitten durch die Stadt gehn, durch Anlegung neuer Straßen, durch Errichtung von großen öffentlichen und Privatgebäuden manche der schlimmsten, dort beschriebenen Distrikte durchbrochen, bloßgelegt und verbessert worden, andre ganz beseitigt… Hier nur ein Beispiel: In meinem Buch schilderte ich (… eine …) Häusergruppe, die unter dem Namen Klein-Irland schon seit Jahren den Schandfleck von Manchester gebildet hatte. Klein-Irland ist lange verschwunden; an seiner Stelle erhebt sich jetzt, auf hohem Unterbau ein Bahnhof; die Bourgeoisie wies prunkend auf die glückliche, endgültige Beseitigung von Klein-Irland hin wie auf einen großen Triumph. Nun erfolgt im verflossenen Sommer eine gewaltige Überschwemmung, wie denn überhaupt die eingedämmten Flüsse in unsern großen Städten aus leicht erklärlichen Ursachen von Jahr zu Jahr größere Überschwemmungen veranlassen. Da findet sich denn, dass Klein-Irland keineswegs beseitigt, sondern bloß von der Südseite von Oxford Road nach der Nordseite verlegt ist und noch immer floriert.«

[2] Zum Streik bei Bosch-Siemens-Hausgeräte in Berlin siehe Wildcat 78, 79, 80.

[3] Oskar Negt, Alexander Kluge Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt am Main 1972.



aus: Wildcat 81, Mai 2008



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