Wildcat Nr. 84, Sommer 2009, []
Wie die Welle auf den Boden kommt
Deutschland, Anfang Juni 2009. Daimlermanager sind gehalten, nicht zu häufig in die Werke zu gehen, um »eine ungute Stimmung zu vermeiden«. Die Polizei beobachtet den Verlauf der Wirtschaftskrise. Noch gibt es keinen Anstieg der Gewalt, sie bereitet sich aber vor. Noch gibt es keine Massenentlassungen. Die Behörden bereiten sich aber vor. Es ist eine seltsame Zeit, eine Zwischenzeit, in der alles auf dem Spiel steht.
Bei Erscheinen der Wildcat 83 hatte sich gerade der Wirtschaftsminister davon gemacht. Zu Guttenberg muss wohl durchhalten bis zu den Wahlen, sonst hätte er sich letzte Woche vom Acker gemacht. Die meisten seiner Kollegen haben die letzten drei Monate Parolen ausgegeben wie »Hoffnungsschimmer«, »Licht am Ende des Tunnels« und »Bodenbildung«. Sehr schön brachte G. Menuet von der Bank of America die Doppelbödigkeit dieser Argumente zum Ausdruck; er sagte der Nachrichtenagentur Reuters: »»Ich glaube, dass wir im ersten Quartal den Boden erreicht haben. Wir werden im zweiten Quartal einen weiteren Rückgang haben, aber nicht so negativ wie im ersten.« Auch als in der letzten Krise im Herbst 2000 von »Bodenbildung« gesprochen wurde, kam das Schlimmste erst noch. Denn die Welle ist die Form der Krisenbewältigung, die dazu führt, dass die gewöhnlichen Menschen für die Krise bezahlen – nicht nur am Aktienmarkt! Vor allem aber ist sie die Form, wie die Krise politisch gemeistert wird, weil jedes Mal behauptet wird, nun sei es vorbei.
In den letzten beiden Heften hatten wir den Schwerpunkt auf die weltweite Proletarisierung und Berichte zu den Auswirkungen der globalen Krise gelegt. Das wollen wir im nächsten Heft wieder tun (Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Kämpfe, Perspektiven). Diesmal liegt das Schwergewicht auf den strategischen Zügen der kapitalistischen Krise (»spekulatives Kapital«, »internationale Zahlungsungleichgewichte«, drohendes Platzen der »Mutter aller Blasen«).
Paolo Giussani hat ein vehementes Plädoyer gegen alle (links-)keynesianischen Illusionen beigesteuert. Ganz ähnlich wie Marx sieht er in der Aktiengesellschaft den Grund für die Ausweitung der Spekulation. »Hinter der Ausweitung des spekulativen Kapitals (steht) nicht das Finanz- und Kreditkapital, sondern die Funktionsweise des produktiven Kapitals selbst.« Aber angesichts des säkularen Verfalls der Profitrate liefert »die Zirkulation des spekulativen Kapitals« die letzten Krümel an Wachstum. Sie zu beschneiden, würde in eine langandauernde Stagnation (bei gleichzeitig hochschießender Inflation aufgrund der extremen Staatsverschuldung) führen und »eher früher als später an einen Scheideweg«: entweder kommt es zu »einem brutalen dejà vu genau der Entwicklung der späten 70er und 80er Jahre, die zur heutigen Situation geführt hat«, oder die ArbeiterInnen erheben sich…
Zwischen 2000 und 2009 hat eine Gruppe von 11 Ländern (allen voran die USA, Spanien und Großbritannien) zusammen rund acht Billionen Dollar mehr ausgegeben als eingenommen. Gleichzeitig hat eine Gruppe von 16 Ländern (allen voran China, Japan und die BRD, plus Ölförderländer) zusammengerechnet den gleichen Betrag weniger ausgegeben als eingenommen. Diese massiven Ungleichgewichte in den internationalen Zahlungsströmen wurden vor Ausbruch der Krise als »Bretton Woods II« schön geredet – und werden von vielen nun als »Erklärung für die Finanzmarktkrise« genommen. Wir gucken genauer auf die Klassenverhältnisse hinter dem symbiotischen Verhältnis zwischen China und den USA. Denn »Chimerica« war für das kapitalistische Weltsystem so zentral, dass manche als Gipfeltreffen zur Rettung des globalen Finanzsystems ein »G2«-Treffen vorschlugen.
Übrigens widerlegen bereits diese Finanzströme die harten Ansagen der Politiker und Unternehmer, »wir« hätten »über unsere Verhältnisse gelebt«. Der private Verbrauch in der BRD stagniert seit zehn Jahren. Zahlen der Bundesbank zufolge haben die Privathaushalte von 2000 bis 2008 1471 Milliarden Euro gespart.
Danach kommen ein paar Gedanken zur Frage, warum die radikale Linke in dieser historischen Krise des Kapitalismus so leer dasteht wie ein geräumtes Bankgebäude. Könnte es sein, dass ein Großteil linker Theorieproduktion der letzten drei Jahrzehnte die Seifenblasen der Kreditökonomie für Realität gehalten hat? Und was passiert nun nach dem Platzen der Kredit- und Theorieblasen? Postmoderne Bodenbildung.
Der »Neoliberalismus« griff alle egalitären Errungenschaften der Klassenkämpfe Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts frontal an, weil er in ihnen zurecht die Ursache der Krise sah. Auch hier verliefen Ideologieproduktion und Finanzmärkte parallel. Jedes kollektive Subjekt ist unter Beschuss geraten und wurde je nach Anlass als korporativ oder gar als völkisch denunziert, der Kollektivgedanke selber wurde in die totalitäre Ecke gestellt. Die »neoliberale Wirtschaftspolitik« hat die allgemeinen Reproduktion(skosten) »finanzialisiert«, das war der gewaltigste Angriff auf kollektive Zusammenhänge. Viele Leute wurden durch Zinsen unter der Inflationsrate und den Abbau sozialstaatlicher Leistungen gezwungenermaßen zu »Akteuren an den Finanzmärkten«. Einerseits, um ihren Lebensstandard bei sinkenden Reallöhnen durch Schuldenmachen einigermaßen aufrechtzuerhalten. Andererseits weil Kredite für den Kauf der Eigentumswohnung den sozialen Wohnungsbau und die unbezahlbaren Mieten ersetzten, und Riesterrente die gekürzte gesetzliche Rente; weil Studienkredite aufgenommen wurden, um die Studiengebühren bezahlen zu können; selbst der Optiker dreht dir gleich einen Kreditvertrag über zwei Jahre an, wenn du eine Brille brauchst - früher hat die Krankenkasse einen Teil der Kosten bezahlt.
Die Forderungen der Banken, Rentenversicherungen, Krankenkassen usw. uns gegenüber dienten ihnen als Basiswert für ihre Spekulationen an den Finanzmärkten – während wir uns dabei immer weiter verschulden. Manche halten diese »finanzielle Enteignung« für die zentrale Finanzinnovation des »Neoliberalismus«. Und Leute, die Kredite am Laufen haben, sind meistens nicht die ersten, die streiken. Aber damit wurde das Finanzwesen letztlich abhängig vom Verhalten der Unterklassen – Kriminalität, Zurückzahl- und Konsumverhalten, Krankheit, (Früh-)Rente… Die Aufrüstung des Kontrollstaats, Null-Toleranz-Konzepte bei der Polizei usw. stehen in direktem Zusammenhang damit. Das Ausbrechen der subprime-Krise in den USA zeigt, dass das alles nichts mehr hilft, wenn die Leute einfach ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen können.
Eine Genossin aus England schreibt über aktuelle Verschärfungen bei der Kontrolle der gesamten Reproduktion der Unterschichten, vom Ernährungsverhalten über die Schwangerschaft bis zur Erziehung der Kinder.Vieles von der Diskussion über den »aktivierenden Sozialstaat« kommt aus England. Sarrazin (jetzt Bundesbankvorstand, vorher SPD-Finanzsenator in Berlin) erklärte Mitte Mai im Stern, der Sozialstaat müsse so umgebaut werden, »dass man nicht durch Kinder seinen Lebensstandard verbessern kann, was heute der Fall ist«. Anfang 2008 hatte er Hartz IV-EmpfängerInnen Ernährungstipps gegeben, die darauf raus liefen, einfach weniger Kalorien zu essen, als man täglich braucht. »Die RAF müsste wieder kommen!« sagt der gemeine Hartz IV-Empfänger dann gelegentlich, wenn er solche Aussagen in seinem Dolby-Surround-Fernseher sieht, vor dem er den ganzen Tag sitzt und schlechtes Fett und Nikotin in sich rein stopft.
Die militante Geschichte Frankfurts. in Wildcat 38, Frühling 1986 und Wildcat 40, November 1986; »Arbeitermacht und bewaffneter Kampf« in Wildcat 56, August 1991; zuletzt »Sechs Thesen, vier Mythen, zwei Wege, ein Ziel?« in Wildcat 59, Juni 1992
Wildcat hat sich seit den 80er Jahren immer mal wieder mit dem bewaffneten Kampf in der BRD beschäftigt. Das blieb fruchtlos, weil in der BRD – im Gegensatz etwa zu Frankreich oder Italien, wo solche Diskussionen in den 80er und 90er Jahren in aller Härte liefen – offensichtlich niemand die angesprochenen Fragen öffentlich diskutieren wollte. Stattdessen wurden alle heißen Themen verdrängt, so dass Verräter und Staat in der öffentlichen Debatte oft mehrere Schritte voraus waren. Im Zusammenhang mit einem der letzten Prozesse gegen den Zusammenhang der Revolutionären Zellen sind uns nun aber GenossInnen über den Weg gelaufen, die Lust auf Diskussion und Aufarbeitung haben. Einer sagte noch: »Einen Vorteil hat es, wenn man wegen Revolutionäre Zellen verurteilt ist. Man kann jetzt offen drüber reden!« Das haben wir versucht. Das Interview soll als Angebot verstanden werden: hier sind Leute, die über solche Fragen auch öffentlich diskutieren wollen.
Betriebsschließungen und Bossnapping in Frankreich:
Jean-Paul Sartre fand die Bossnappings in Frankreich 1968 ff. gut, denn: »Wenn ein Chef seine Beschäftigten um Erlaubnis fragen muss, wenn er pinkeln muss, ist das ein großer Schritt nach vorne«. Die englische Financial Times zitierte diesen Spruch unter dem Bild eines grinsenden, gekidnappten Unternehmers, dem Chef von Moët & Chandon, den »seine« Arbeiter im Sommer 1993 im Büro eingeschlossen hatten mit nur ein paar Flaschen Champagner als Proviant. Anschließend gab die FT Tipps für den Fall der Fälle: vor Verhandlungen wenig trinken, unauffällig Zahnbürste und Pyjama einpacken usw. Vor allem aber »don‘t panic! Bossnapping gehört zur französischen Kultur wie Baguettes und Briekäse.« Ganz anders die Aufgeregtheit bei vielen deutschen Linken über die »französischen Zustände«, die immer wieder die hiesigen ArbeiterInnen auffordern, »lernt endlich Französisch!« Ein Genosse aus Frankreich hat einen realistischeren Blick aufs Bossnapping.
Ein bisschen »genappt« wurde im April auch in Großbritannien – und dann drei Fabriken besetzt. Leider hat es auch dort nicht geklappt, die zeitgleich laufenden Proteste gegen den G20-Gipfel wenigstens ein bisschen für den Klassenkampf zu interessieren. Manche »klagen darüber, dass die Gewerkschaften, der Staat usw. Kämpfe zu isolieren versuchen – aber einige Leute kriegen das mit ihrer politischen Ideologie auch ohne fremde Hilfe hin« ist das Fazit des Aktivisten, der uns den Artikel geschickt hat. Der Kampf bei Visteon war aus zwei Gründen sehr wichtig: Es war eine der ersten großen Auseinandersetzungen um Abfindungen und Renten in der Krise und hatte das Zeug zum Präzedenzfall für künftige Firmenpleiten. Zweitens: die ArbeiterInnen haben das Zehnfache des ursprünglichen Angebots rausgeholt.
In nächster Zeit werden Besetzungen erstmal die Kampfformen gegen Betriebsschließungen sein. Da sollten alle hingehen und dazu beitragen, dass auch »nicht betroffene« Betriebe sich solidarisieren und sich dem Kampf anschließen. In der letzten Krise haben wir aus Argentinien gelernt, dass eine Bewegung keine Chance hat, wenn sich nur die Rausgeschmissenen und die Arbeitslosen mobilisieren. Und allen Beschäftigten, denen Absenkungsverträge aufgezwungen werden, sollten wir die Erfahrung (nicht nur) aus Frankreich vorhalten: »Wenn man sich einmal auf die Erpressung durch die Bosse eingelassen hat, ist es sehr schwer, das wieder umzudrehen.«
Vielleicht wird dann das »Licht am Ende des Tunnels«, das unsere Feinde gesehen haben wollen, der Scheinwerfer entgegenkommender Klassenkämpfe sein.
aus: Wildcat 84, Sommer 2009