Wildcat Nr. 87, Sommer 2010 [schoko-igel, schoko-riegel]



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Thema Leiharbeit in Wildcat 87:

Leiharbeit ist Scheiße
Strategischer Einsatz der Leiharbeit

Interviews mit LeiharbeiterInnen

Schoko-Riegel und Schoko-Igel

Eine Saison in der Berliner Süßwarenindustrie

Anruf am Nachmittag: »Sie haben sich bei uns beworben, können Sie morgen anfangen?« Ich solle »ein paar Tage Sitzwachen im Krankenhaus« machen, später »Einsatz in der Produktion«. Ich muss gleich ins Büro kommen. Dort wird deutlich, dass in Wirklichkeit unklar ist, wie es nach dem Krankenhaus weitergeht und ich mich ziemlich spontan auf die jeweiligen Arbeitszeiten einstellen müsste. Als er im letzten Moment noch sagt, der Vertrag sei auf drei Monate befristet, gehe ich, und der Chef schnappt nach Luft, weil es nun knapp wird, jemanden zu finden.

Bei der nächsten Bude stellen sie sich zumindest nicht ganz so blöd an, ihre Jobs zu verkaufen. »Schokoriegel verpacken bei einem großen Süßwarenhersteller mit mehr als tausend Mitarbeitern an zwei Berliner Standorten«.

Ich fange Donnerstags in der Spätschicht an, als erstes wird mir gesagt, dass ich als »Mitarbeiterin einer Fremdfirma« statt der weißen eine grüne »Mütze« (damit sind die schicken Haarnetze gemeint) aufziehen soll. Ich muss neben der Maschine stehen und ungefähr alle 90 Sekunden drei Lagen frisch in Zellophan gewickelte Schokoriegel in eine Kiste packen. Außerdem muss ich ab und zu neue Kisten besorgen und Zettel stempeln: Schokoladensorte und Palettennummer für jede Kiste. Sonst hab ich nichts zu tun außer dem Transporter zuzulächeln und das Gespräch mit Maschinenführerin Susanne umzulenken – sie will sich aber lieber von ihren Kollegen im Stich gelassen fühlen als zu überlegen, ob der Stress vielleicht von oben gemacht wird. Mir gegenüber sitzt eine Kollegin in beeindruckend würdevoller Haltung und schiebt permanent Schokoriegel aufs Band.

Susanne nimmt mich mit in den Pausenraum. Sowas passiert in den nächsten Wochen selten, Grün- und Weißmützen bleiben in den Pausen weitgehend unter sich. Gespräche gibt es eher dann, wenn man zusammen arbeitet.

Meine Zeitarbeitsfirma teilt mir mit, dass ich erstmal bleiben soll, ich wäre »positiv aufgefallen«. Ich weiß nicht bei was, aber in der folgenden Woche zieht das Tempo stark an: ich muss Schokokisten stapeln. Meine Kollegin hat auch ne grüne Mütze, lässt aber raushängen, dass sie sich schon voll auskennt und macht gern Stress. Sie ist seit fünf Jahren Zeitarbeiterin, war in vielen unterschiedlichen Betrieben und lässt sich kein kritisches Wort entlocken: »Man kommt viel rum«. Am nächsten Tag wird’s noch schlimmer, Schokokisten in drei verschiedene Kartons verpacken, das eine Band ist zu niedrig und die anderen Kisten zu weit weg, es geht eh zu schnell und dann muss man noch jedesmal ein Fußpedal bedienen, um alles hochzuheben. Es ist noch keine Woche rum, als die Schichtleiterin zu mir kommt und sagt: »Sie sind morgen nicht mehr bei uns, bitte melden Sie sich bei Ihrer Firma.« Meine Firma ist überrascht, stellt neue Jobs für die nächste Woche in Aussicht und will, dass ich die nächsten zwei Tage einen »Antrag auf bezahlten Freizeitausgleich« ausfülle. Damit werden Überstunden ab- bzw. Minusstunden aufgebaut. Eigentlich muss die Firma in solchen Fällen deinen Lohn weiterzahlen, zwingt dich aber durch ein Stundenkonto, die »verlorenen« Stunden nachzuarbeiten. Für meine KollegInnen ist das wohl seit Jahren völlig normal. In den nächsten Wochen spreche ich viele darauf an, aber die meisten regt das nicht besonders auf. Viele sind auch bisher gewöhnt, das Konto voller Überstunden zu haben. Nur manche erzählen, sie seien neulich drei Wochen zu Hause gewesen und damit alle Überstunden los. Diese »Freizeit« kommt so überraschend, dass man nicht viel damit anfangen kann. Damit nicht genug, muss man sich auch noch zweimal täglich bei der Firma melden, um bei Bedarf noch schnell irgendwohin zum Arbeiten geschickt zu werden. Dass man seinen Urlaub oder seine Überstunden dafür drangibt, dass man von einem Betrieb zum anderen geschickt wird, dabei dann oft bis Freitag nicht weiß, wo und wann man montags anfängt – darüber ärgert sich keineR außer mir besonders. Vielleicht sind andere Probleme größer, vielleicht ist das besser als keine oder eine noch nervigere Arbeit zu haben. Zu wenig Geld, zu langweilige Arbeit, schlechte Stimmung im Betrieb, das sind die Hauptprobleme, über die geklagt wird. Viele kommen mir auch entschlossen vor, sich sowas egal sein zu lassen, um sich nicht rumgeschubst zu fühlen.

Nächste Woche bin ich bei den Pralinen. Vier bis sechs Frauen stehen um einen Tisch und kontrollieren die Unterseite der alkoholgefüllten Schokolade. Meistens werden wir angehalten, langsam zu machen, weil vor dem Verpackungsband nicht viel Platz ist und der Transporter keine Lust hat, die Paletten nochmal umzuparken. Das nervt die meisten, weil die Zeit noch weniger rumgeht, wenn nichts zu tun ist. Immerhin können wir uns so mal länger unterhalten, ohne dass Maschinenlärm jedes Gespräch total mühsam macht.

Viele der Frauen kommen irgendwoher, wo es noch schlimmer war, im Hotel oder irgendwelchen Küchen. Babsi ist Hotelfachfrau, sagt aber, dass sie im Moment wegen der Krise nichts Festes kriegt, dass man als Zeitarbeiterin im Hotel der letzte Arsch ist und sie daher lieber in die Produktion gegangen ist. Natascha war 20 Jahre Zimmermädchen und hat da keinen Bock mehr drauf. Frauke war schon in der ddr Plastikfacharbeiterin, war die letzten zwei Jahre in einem Plastikbetrieb und stand kurz vor der Übernahme. Jetzt sind wegen der Krise alle ZeitarbeiterInnen rausgeflogen.

Viele machen seit Jahren schon Zeitarbeit, das ist keine »Übergangslösung« und kein »Einstieg in eine Festanstellung«. Und die meisten wechseln die Betriebe häufig, werden von hier nach da geschickt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man so eine Arbeit auf Dauer aushalten soll, wenn auch noch ständig die Kollegen wechseln. Manche kennen sich aber auch schon ganz gut und werden meistens in den gleichen fünf oder sechs Betrieben eingesetzt. Ein paar sind auf Druck des Arbeitsamtes hier, und es ist klar, dass das nicht lange gut gehen kann: Tanja zum Beispiel kommt nach der Arbeit kaum noch die Treppe zur S-Bahn hoch, soll aber den ganzen Tag im Stehen arbeiten.

Manchmal bringen die jungen Frauen schon ein bisschen Stimmung in die Bude, und ich überlege, ob es sich nicht lohnen würde, so einen Job mit ein paar Leuten zusammen zu machen und etwas mehr Unruhe zu stiften.

Dann ist wieder Montag und die Arbeitsplätze werden neu verteilt. Ich werde an das Band gesetzt, an dem die frisch gegossenen Pralinen vorbeikommen, muss diesmal die Oberseite kontrollieren und mit einem Plastikdings bedecken. Im Vergleich ein einsamer Arbeitsplatz, vor allem weil wir die Pausen nicht zur üblichen Zeit mit den anderen machen. Ein paar Meter links steht einer, der die Pralinen stapelt, ein paar Meter rechts steht einer, der Plastikteile einlegt. Ab und zu laufen die Jungs vorbei, die die drei Kühlschränke und fünf Wasserkreisläufe betreuen, die zum Pralinengießen notwendig sind. Zum Glück besuchen mich ab und zu Kolleginnen, die gerade nichts zu tun haben, und so erfahre ich alles über den Sohn der Nachbarn der Eltern von Charleen aus Thüringen. Diesen Job werde ich die nächsten zwei Monate machen. Immerhin ist er körperlich nicht besonders belastend, dass ich abwechselnd sitzen oder stehen kann, ist ein riesiges Privileg. Und zum Glück gibt es drei Pausen, die den Tag ein bisschen strukturieren. Wenn das Förderband mal anhält, sehe ich es weiterlaufen, so wie der Boden unter den Füßen schwankt, wenn man vom Schiff kommt.

Einerseits macht die Aufteilung in Weiß- und Grünmützen auch vor dem eigenen Kopf nicht halt, die Festangestellten scheinen Leute mit ganz anderen Problemen zu sein, andererseits ist sie dann doch viel weniger starr als gedacht: ein Teil der Weißmützen verdient zwar doppelt soviel wie ich und ist direkt beim Betrieb angestellt – das aber auch nur für vier Monate. Andreas zum Beispiel, gelernter Drucker, war schon mal Leiharbeiter in einer Backfabrik und weiß nicht, wie es im Dezember weitergeht.

Ein paar Wochen vor dem angekündigten Saisonende werden die meisten LeiharbeiterInnen abgemeldet. Es wird noch einsamer. Läuft anscheinend doch nicht so gut mit der Schokolade in der Krise. Ich hatte auch schon gehört, dass weniger gearbeitet wird als im Jahr vorher, an manchen Maschinen gibt es zum Beispiel keine Nachtschicht. Offiziell wird darüber aber nichts verlautbart. Ahmed wird für eine Woche abgemeldet und soll danach angeblich wiederkommen. Sein Sklavenhändler schickt ihn für die Woche in Urlaub. Er hatte sich extrem ins Zeug gelegt, um einen guten Eindruck zu machen, und fragt, was denn bloß die Leute anders machen, die übernommen werden.

Dann ist es auch für mich vorbei, die Zeitarbeitsfirma hat keinen anderen Job und entlässt mich. Zufällig ruft mich in den Tagen danach eine andere an, bei der ich mich vor Monaten beworben hatte, und schickt mich in eine kleine Pralinenklitsche. Ich arbeite in einem Nebengebäude mit 12-16 anderen Frauen, mit dem Rest der Leute im Hauptgebäude haben wir keinen Kontakt. Dort werden die Trüffel gemacht, die bei uns an drei Bändern mit Schokolade überzogen und auf einem Gitter gewälzt werden, damit sie ihre stachlige Oberfläche kriegen. Hier werden sie auch verpackt, und so darf ich mal wieder ein paar Tage Kartons falten.

Die Saisonarbeit ist hier noch stärker ausgeprägt, nur zwei Frauen sind fest angestellt. Ein Teil der Leute ist schon seit Monaten hier, jetzt wurde eine zweite Schicht eingeführt, und die anderen sind neu reingekommen. Es gibt ein paar jüngere Frauen, die keine Ausbildungsplätze gekriegt haben und Praktika und Warteschleifen hinter sich haben, für einige Frauen ist es der erste Job nach Jahren als Hausfrau und Mutter. Die vielen neuen Leute anzulernen bringt immer wieder Chaos und Unmut mit sich, ab und zu werden auch Leute abgemeldet oder gleich nach Hause geschickt, weil sie nicht zur Zufriedenheit der Schichtleiterin arbeiten. Deshalb sind wir oft zu wenige, anscheinend ist es nicht so leicht, passende Leute zu finden. Meine Kolleginnen finden es auch wichtig, dass gut gearbeitet wird, bemühen sich, dass alles läuft, und denken mit – wahrscheinlich weil es sonst schwierig wäre, sich überhaupt zu motivieren. Ich find es angemessen, wenn dem Chef die absolute Flexibilität auf die Füße fällt, anstatt dass wir das durch unseren Einsatz rausreißen, nur um zwei Monate später wieder auf der Straße zu stehen. Gleichzeitig musst du erstmal beweisen, dass man mit dir gut arbeiten kann, damit die Kolleginnen dich akzeptieren, und weil du ihnen ja auch nicht mehr Arbeit machen willst. Damit hältst du halt den Betrieb am Laufen, und ich frag mich, ob ich mit meinen Bemühungen um Kollegialität nicht zur perfekten Leiharbeiterin werde und wie ich ein bisschen Stimmung machen könnte. Es gibt einerseits die Ruppigkeit gegenüber den Neuen, andererseits Herzlichkeit und Witz, an denen die Schichtleiterin und ihre Stellvertreterin ihren Anteil haben. Sie treten halbwegs mütterlich auf und kriegen alles mit.

Ich bin schnell darauf abonniert, Trüffel zu igeln, stehe mit zwei Gabeln am Band, um die mit Schokolade begossenen Kugeln zu rühren und auseinanderzufummeln. Sieben Stunden am Tag ist das kein Spaß, vor allem wenn dunkle Schokolade im Spiel ist. Erleichterung immer, wenn die halbe Schicht für was anderes draufgeht. Ein paarmal kommt der wirkliche Chef, Besitzer und Millionär vorbei, um streng zu gucken, damit es auch funktioniert, eine komplette Halle fast nur mit Aushilfen fahren zu lassen.

Zwischen den Jahren wird der Betrieb ruhen, im neuen Jahr vermutlich nur mit einer Schicht weiterlaufen. Meine Leiharbeitschefin behauptet, sie würde mich behalten, in unbezahlten Urlaub schicken und dann würden wir sehen, wie es im Januar weitergeht. Eine Woche später ruft mich ihre Kollegin an und teilt mir mit, meine Kündigung von letzter Woche sei zurückgezogen. Die Kündigung hatten sie wohl vergessen abzuschicken, sie kommt am nächsten Tag. »Der Betrieb hatte erst alle zu Weihnachten abgemeldet, sich aber jetzt entschlossen, Sie für Anfang Januar zu verlängern.« Kollegin Sandra weigert sich, überhaupt noch darüber nachzudenken, wer wo wie lange arbeiten wird: »es kommt eh anders«. Ich hab den Eindruck, es gibt irgendwo eine Verteilstelle für Zeitarbeiter, denn gerade als ich wieder einen Job suche, klingelt das Telefon. Schade allerdings, dass ich mich nur verschlechtern kann: nachdem ich schon den Berliner Spitzenlohn im Helferbereich von 6,40 gekriegt habe, werden mir nun sechs Euro bei Dreischicht angeboten.

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aus: Wildcat 87, Sommer 2010



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