Wildcat Nr. 87, Sommer 2010 []
Weltmeister Uruguay
Buchbesprechung: Uruguay. Ein Land in Bewegung1
Am 1. März 2010 hat José »Pepe« Mujica, ein ehemaliger Guerillero, Mitbegründer der MLN-Tupamaros und langjähriger politischer Gefangener, das Präsidentenamt in Uruguay übernommen. »Bei aller kritischen Distanz zur Politik des Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio, das seit dem 1. März 2005 die Regierung des Landes stellt, bleibt festzuhalten, dass der 29. November 2009, der Tag der Wahl »Pepe« Mujicas, ein historischer Moment ist, der wohl nur im Lebensweg Nelson Mandelas eine Parallele findet.« Damit leiten die HerausgeberInnen das Buch Uruguay – Ein Land in Bewegung ein, das pünktlich zum Amtsantritt erschienen ist.
Eine der Geschichten, die im Buch erzählt wird, ist die von Arbeiterbewegung und Sozialstaat. Zur Zeit der Unabhängigkeit 1828 hatte Uruguay nur 70.000 EinwohnerInnen. In der Folgezeit kamen hunderttausende MigrantInnen. Später suchten AntifaschistInnen aus Europa hier Zuflucht. Bis in die 1960er Jahre wuchs die Bevölkerung auf drei Millionen. Ein Sprichwort sagt, dass »die Uruguayer von den Schiffen stammen«. Im Hafen von Montevideo kamen im 18. Jahrhundert die Sklaven an und später die Arbeitskräfte aus Europa. Bei Beginn der Industrialisierung 1860 war bereits fast die Hälfte der EinwohnerInnen Montevideos nicht im Land geboren. Mit den ArbeiterInnen kamen auch Ideologien und Kampferfahrungen ins Land, vor allem der Anarchismus aus Frankreich, Spanien und Italien. 1865 gründeten die Buchdrucker die erste Gewerkschaft. Zehn Jahre später entstand der erste größere Zusammenschluss: »Die Führer der Föderation waren ehemalige Mitstreiter des italienischen Freiheitshelden Garibaldi, Schüler des französischen Anarchisten Proudhon, Überlebende der Pariser Kommune und Verfolgte der europäischen Konterrevolution. Ab 1880 flammten die ersten schweren Arbeitskämpfe auf, es streikten die Krankenpfleger, die Hafenarbeiter in Paysandú, in Montevideo kam es zu Arbeitsniederlegungen im Baugewerbe und bei den Straßenbahnen.« 1905 wurde die anarchosyndikalistische four (Federación Obrera Regional del Uruguay) als Gewerkschaftsdachverband gegründet.
Der erste Sozialstaat Lateinamerikas
Bis zum Wahlsieg der Frente Amplio 2005 teilten sich – unterbrochen von zwei Diktaturen – zwei Parteien die Regierungsmacht: Die Blancos als Vertreter der Latifundien und die Colorados, die das städtische Bürgertum repräsentierten. Der Colorado-Politiker und zweimalige Präsident José Batlle y Ordóñez erkannte die Drohung durch die entstehende Arbeiterbewegung und antwortete mit weitreichenden Reformen. Anfang des 20. Jahrhunderts schuf er einen Sozialstaat, der nicht nur in Lateinamerika führend, sondern auch europäischen Ländern voraus war. Kinderarbeit unter dreizehn wurde verboten, die Arbeitszeit auf 48 Wochenstunden beschränkt und bereits 1915 wurde der Achtstundentag in der Industrie eingeführt. Frauen bekamen Schwangerschaftsurlaub und das Recht auf Ehescheidung und erste Sozialversicherungen wurden eingerichtet. Außerdem zeichnete sich der Batllismo durch die Kontrolle des Finanzsektors und die Verstaatlichung von Banken und Infrastruktur (Strom, Telekommunikation und Eisenbahnen) aus. Später wurde ein Staatsmonopol auf die Öl-Verarbeitung und die Produktion von Zement und Alkohol eingeführt.
In Uruguay kommen auf einen Menschen etwa drei Rinder. Die Industrialisierung begann mit Schlachthöfen und Fleischfabriken. Ein eigener Aufsatz ist der ersten Fabrik gewidmet, die 1862 im Auftrag von Justus von Liebig die Produktion von Fleischextrakt in Fray Bentos aufnahm. Das Städtchen mit 25.000 EinwohnerInnen ist von dieser Geschichte geprägt. Anfang des 20. Jahrhunderts waren mehr als 4000 ArbeiterInnen aus 23 Nationen in der Fabrik beschäftigt. »Die Leute im Barrio reden auch heute noch viel von »den Deutschen« – los Alemanes. In deren Zeit wurden die Wohnungen für die ArbeiterInnen gebaut, es gab im Viertel Elektrizität, bevor Montevideo ans Netz ging und zusätzlich zum Lohn wurden mehrere Kilogramm Fleisch pro Familie und Tag verteilt.« Gegen den Mythos der »guten alten Zeit« werden jedoch auch die elenden Arbeitsbedingungen erwähnt und die harten Kämpfe der Gewerkschaften, die mehrfach Märsche in die über 200 Kilometer entfernte Hauptstadt organisierten.
Uruguay wurde lange Zeit als die »Schweiz Lateinamerikas« bezeichnet. Der Wohlstand beruhte vor allem auf dem Export von Fleischprodukten und Lederwaren, die jeweils in den Kriegen Konjunktur hatten. In den 1950er Jahren hatte das Land das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Region sowie auf dem ganzen Kontinent die niedrigsten Raten von Analphabetentum und Kindersterblichkeit. Der öffentliche Dienst wurde enorm ausgeweitet. Aber nach dem letzten Boom im Koreakrieg führten fallende Weltmarktpreise in die Krise. Auf Geheiß von iwf und Weltbank wurden die Löhne eingefroren. In den 1960er Jahren kam es zu heftigen Streiks und Kämpfen in verschiedenen Sektoren und immer wieder zu Generalstreiks. Gleichzeitig traten die Tupamaros mit spektakulären bewaffneten Aktionen auf den Plan. Der Ursprung dieser berühmtesten Stadtguerilla lag auf dem Land: Zündfunke waren die Märsche der Zuckerrohrarbeiter, die aus dem Norden des Landes nach Montevideo kamen, um gegen ihre miserablen Lebensbedingungen zu protestieren. Aus der Unterstützergruppe wurde später die mln gegründet. (Deren Geschichte wird am Beispiel des Lebens von Yessie Macchi erzählt, die den späteren Weg ihrer Compañeros an die Regierungsmacht nicht mitgegangen ist.)
Krise – Diktatur–Neoliberalismus
Gegen die Bewegungen ging die Regierung immer repressiver vor. Im Juni 1973 übernahmen die Militärs die Macht. Vergeblich versuchten die ArbeiterInnen mit Betriebsbesetzungen und einem Generalstreik die Diktatur zu verhindern.1 Der Generalstreik wurde zwei Wochen lang durchgehalten, aber dann folgten zwölf Jahre Militärherrschaft. Zehntausende wurden verhaftet und gefoltert. Uruguay stellte den traurigen Rekord auf, im Verhältnis zur Einwohnerzahl weltweit die meisten politischen Gefangenen zu haben. Aus dem Einwanderungs- wurde ein Auswanderungsland: Hunderttausende gingen ins Exil. 1980 versuchten die Militärs, ihre Herrschaft durch ein Referendum über die Verfassung zu legitimieren. Der Versuch schlug fehl, das »Nein« gewann, und der Widerstand zeigte sich erneut öffentlich. Das war der Anfang vom Ende der Diktatur. 1983 kamen 150.000 zur Kundgebung am 1. Mai, um gegen die Diktatur zu demonstrieren, und ein Generalstreik im Januar 1984 zwang die Militärs schließlich zu Verhandlungen mit den Politikern.
In Lateinamerika wurde das neoliberale Modell mit Diktaturen durchgesetzt. Den UruguayerInnen ist es gelungen, die Privatisierungswelle per Referendum zu bremsen. Im Dezember 1992 wurde die Privatisierung der Telefongesellschaft antel und weiterer Staatsbetriebe mit 66 Prozent abgelehnt. 2003 versuchte die Regierung, die staatliche Erdölraffinerie ancap, die nach fast zwei Jahrzehnten De-Industrialisierung die letzte relevante Industrie im Lande war, teilweise zu privatisieren. Auch dieser Plan wurde per Referendum vereitelt. Nicht verhindern konnten die UrugayerInnen dagegen die »zweite neoliberale Welle«, die Ausbreitung von Monokulturen und Plantagen. Immer größere Flächen werden für den Anbau von genmanipuliertem Soja zur Verfügung gestellt (Ausweitung von 12.000 auf 500.000 Hektar in sieben Jahren), und die Zellstoffproduktion ist auf dem Vormarsch. Bekannt geworden ist vor allem der Konflikt um die weltweit größte Zellulosefabrik des finnischen Konzerns Botnia, die Ende 2007 in Fray Bentos den Betrieb aufgenommen hat. Auf der gegenüberliegenden argentinischen Seite des Grenzflusses wurden große Proteste mit Brücken- und Grenzblockaden organisiert. Der Umweltkonflikt wurde nationalistisch aufgeheizt und eskalierte zu einem Zerwürfnis zwischen den beiden Staaten.
Freihandelszonen, Subventionen und Weltbankkredite machen den Standort für multinationale Konzerne attraktiv. Auf den Plantagen werden teilweise halbsklavische Arbeitsverhältnisse und die Rückkehr der Kinderarbeit festgestellt. Die Eukalyptus-Monokulturen zerstören Ökosysteme, verbrauchen Unmengen Wasser und erfordern den massiven Einsatz von Agrochemie. An den schädlichen Folgen dieser Wirtschaftspolitik für das Wasser ändert auch das Referendum nichts, mit dem im Oktober 2004 das Recht auf Trinkwasser als elementares Menschenrecht in der Verfassung verankert wurde – auch dies ein bislang weltweit einzigartiger Vorgang.
Stoßdämpfer? Linksregierung und Sozialstaat
Das Bündnis Frente Amplio, das 1971 gegründet wurde, regiert Uruguay seit 2005. Der jetzige Präsident »Pepe« Mujica war vorher Landwirtschaftsminister. Am Ausverkauf des Landes und an den Besitzverhältnissen hat die Links-Regierung nichts geändert. Die Unternehmerschaft kann der nächsten Regierungsperiode gelassen entgegensehen. Trotzdem fällt die Bilanz im Buch wegen der beachtlichen Reformerfolge positiv aus. Die Rechte der ArbeiterInnen wurden verbessert, es gab verschiedene Sozialprogramme und die Zulassung der Homo-Ehe inklusive Adoptionsrecht ist ebenfalls bemerkenswert. Nach dem Krisenabsturz 2002 verbreitet sich das Gefühl, dass es wieder aufwärts geht.
Im Gegensatz zum Nachbarland Argentinien, wo die Krise im Dezember 2001 einen Aufstand auslöste, kam es in Uruguay zu keiner sozialen Explosion. Der Frage nach den Gründen für diesen Unterschied wird leider nicht nachgegangen. Ein Hinweis findet sich aber im Kapitel zur Frauenbewegung: »Der Batllismo stand nicht nur für eine fortschrittliche Gesetzgebung, sondern etablierte auch einen Grundbestand an Überzeugungen: zum einen den festen Glauben an Gesetz und Staat, der bei sozialen Konflikten und Ungerechtigkeiten regulierend zum Wohle aller eingreift�«. Tatsächlich zeigt die Geschichte, dass Uruguayer-Innen eher Volksabstimmungen durchsetzen als Barrikaden bauen. Kritiker bezeichnen die Reformpolitik von Batlle bis zur Frente Amplio als »Stoßdämpfer«. Über die Politik des Tupamaro-Präsidenten wird in den nächsten Jahren sicher noch viel gestritten werden.
Landeskunde von unten
Das Buch bietet keine systematische Geschichtsschreibung oder Analyse – aber eine Fülle von Material. 24 AutorInnen aus Uruguay und der brd haben insgesamt 50 Artikel zu einzelnen Aspekten verfasst. Dabei bleibt manches notwendigerweise oberflächlich, aber insgesamt ergibt sich ein vielfältiges Bild. Die Beiträge sind in sechs Kapitel aufgeteilt (Inhaltsverzeichnis und Vorwort können auf der Webseite des Verlags eingesehen werden). Am Anfang stehen Impressionen aus dem Land, Artikel zur Geschichte Uruguays und eine Bilanz der Linken an der Regierung. Ein Schwerpunkt des Buches liegt auf den sozialen Bewegungen. Es werden viele Geschichten erzählt und einzelne Menschen aus den Bewegungen vorgestellt.
Die beiden letzten Kapitel beschäftigen sich mit Ökonomie / Ökologie sowie mit Kultur und Alltagsleben. Trotz geringer Bevölkerung hat das Ländchen kulturell einiges an Literatur, Musik und Filmen zu bieten. Den ewigen Streit zwischen Argentinien und Uruguay, wer nun eigentlich den Tango erfunden hat, gewinnt erwartungsgemäß Uruguay: Sowohl der erste Tango 1886 als auch der berühmteste, La Cumparsita, wurden in Montevideo geschrieben. Und Fußball darf als Teil der Landeskultur ebenso wenig fehlen – Uruguay war schließlich zweimal Weltmeister. Das Sammelbändchen ist mit vielen Fotos schön gemacht und gut zu lesen–eine Empfehlung für alle, die mehr über das kleine Land mit den vielen Rekorden erfahren möchten.
Fußnoten:
[1] Stefan Thimmel, Theo Bruns, Gert Eisenbürger, Britt Weyde (Hg.) Uruguay. Ein Land in Bewegung. Verlag Assoziation A. Berlin, Hamburg 2010. 272 Seiten, 18 Euro.
aus: Wildcat 87, Sommer 2010
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