Der »Wasserkrieg 2000« in Cochabamba gilt als beispielhafter Kampf gegen die Privatisierung öffentlicher Versorgungsleistungen, auch im »Krieg ums Gas« 2003 und den breiten Bewegungen in dieser Zeit wurden der Anspruch aller Menschen auf die natürlichen Reichtümer lautstark geäußert. Damit wurde Bolivien zum Bezugspunkt für die internationale linke Debatte. Die Politik der Regierung Morales stellt für die staatsorientierte Linke, aber auch viele vom Zapatismus inspirierte GlobalisierungskritikerInnen einen zwar holprigen und widersprüchlichen, aber dennoch an den Bewegungen ausgerichteten Prozess dar. Viele wollen dabei gar nicht so genau hinter die Kulissen des Buen Vivir oder des »Gehorchenden Regierens« blicken.
Die bolivianische Arbeiterbewegung bzw. die bolivianische Linke insgesamt lässt sich grob in zwei Richtungen unterteilen, die beide endlich das »koloniale Erbe« überwinden wollen. Die einen wollen den »Sozialismus«, die anderen beziehen sich auf traditionelle Formen der Vergemeinschaftung. »Arbeiterbewegung« ist hier vor allem als Trotzkismus angekommen, die Gewerkschaft, die Partei als Avantgarde, aber auch die »industrielle Entwicklung« sind die zentralen Kategorien. Auf der anderen Seite gibt es unterschiedliche Ausprägungen des Indigenismo, der ein »am Westen« ausgerichtetes Geschichts- und Politikverständnis kritisiert und den Bezug auf lokale, traditionelle Formen der Vergemeinschaftung dagegen setzen will. Beiden Richtungen steht ihre politisch-ideologische Ausrichtung bei der Analyse der aktuellen Kräfteverhältnisse häufig im Weg.1
Mit der Regierungsübernahme 2005 gelang es der Partei von Evo Morales, praktisch alle linken/sozialen Gruppierungen in ihr Regierungsprojekt einzubeziehen. Seit zwei, drei Jahren entwickelt sich aber so etwas wie eine Absetzbewegung von einer Politik, die verdeckt vom modernen linken Diskurs des »Gehorchenden Regierens« zum autoritären Projekt geworden sei, das mittels Korruption und Klientelismus um Zustimmung ringe. Sie kritisiert den »unsozialistischen Sozialismus«: Die »Nationalisierung der Gas-/Ölreserven«, die Landreform2 und eine Politik, die viel von Ernährungsautonomie redet, aber die agrarischen Kleinproduzenten wenig unterstützt. Die fehlende industrielle Entwicklung wird bemängelt (wie diese angesichts der Weltwirtschaftskrise aussehen soll, bleibt allerdings offen). Die vom Indigenismus beeinflusste Linke wiederum beklagt den Verrat an der indigenen Basis.
... vier mal so groß wie Deutschland, keine zehn Millionen EinwohnerInnen, von denen je nach Quelle zwischen 60 und 70 Prozent zu den über 25 Indígena-Gruppen gehören. Über 60 Prozent leben in den Städten. Die Abwanderung vom Land hält an, aber die Häfte der MigrantInnen bewegt sich heute zwischen den urbanen Zentren La Paz, El Alto, Santa Cruz und Cochabamba. Bolivien wird gerne als »geografische Synthese« der Erde beschrieben: Hochland, Tiefland, Steppen, Weideland, Berge, Wälder, fruchtbare Hänge, Dschungel, Flüsse (nur der Zugang zum Meer wurde in einem Krieg an Chile verloren). Es gibt prinzipiell alles an Obst, Gemüse, Getreide und Fleisch, was mensch sich so vorstellen kann. Umso absurder, dass Nahrungsmittel importiert werden, was zum einen an der Exportausrichtung der Agrarindustrie liegt, zum anderen an der schlechten Infrastruktur. Es ist billiger, »von nebenan« zu importieren, als die zeitintensiven Transportwege in Bolivien zu nutzen.
Die Ökonomie des Landes ist von der Zeit der »spanischen Eroberung« bis weit in die Gegenwart hinein von der brutalen Ausbeutung der Bodenschätze (Silber, Zinn und andere Mineralien, Gas) und einer extrem ungleichen Landverteilung gekennzeichnet. Über Jahrhunderte bedeutete dies für die Bevölkerungsmehrheit ein Leben zwischen Subsistenz auf dem Land, Arbeit auf den großen Ländereien und im Minensektor.
Die Kritik an der Regierung zielt auf den sogenannten »Neuen Extraktivismus«: Der Export von Rohstoffen sei neben der exportorientierten Landwirtschaft die Haupteinnahmequelle des Staates. Die »neue Ökonomie« sei der »alten« gar nicht so unähnlich, sie verkaufe vor dem Hintergrund der weltweiten Krise Rohstoffe und seltene Metalle zu guten Preisen auf dem Weltmarkt. Die Regierung Morales habe gegenüber den transnationalen Firmen zwar höhere Preise durchgesetzt – aber im Kern nichts geändert: Bolivien bleibe eine »Rohstoffökonomie«, abhängig von den Preisen auf dem Weltmarkt und der Technologie der multinationalen Firmen.
Gemessen am BIP sind die Staatseinnahmen seit 2005 um 20 Prozent gestiegen. Der Anteil der Einnahmen aus dem Erdöl-/Gasverkauf am BIP stieg von 5,6 Prozent 2004 auf 25,7 Prozent 2008 an. Damit konnten beträchtliche Reserven aufgebaut werden.3
Die Ausgaben für Infrastruktur und Sozialprogramme4 sind unter der Regierung Morales gestiegen, von ca. sechs Prozent am BIP 2004 auf knapp über 20 Prozent 2009. Der Anteil der Sozialausgaben daran ist zwischen 2005 und 2008 inflationsbereinigt in absoluten Zahlen um 6,3 Prozent gestiegen, gemessen am gestiegenen BIP jedoch leicht gesunken. Das wird der Regierung regelmäßig »von links« vorgeworfen, und von der Regierung ebenso regelmäßig mit dem Hinweis zurückgewiesen, höhere Ausgaben würden nur die Inflation anheizen.
In den Armutsstatistiken zählt Bolivien noch immer zu den ärmsten Ländern des Kontinents, aber diese bilden nur einen Teil der Realität ab. Die Armut ist auch ohne offizielle Zahlen überall sichtbar, die Ökonomie dahinter ist komplizierter. Das Nebeneinander von prekärsten Wohn-/Lebensverhältnissen und relativ komfortablen Häusern in El Alto5 erklärt sich auch mit der Schmuggel- und Drogenökonomie, die neben den offiziellen Wirtschaftssektoren eine schwer bezifferbare, aber bedeutende Rolle spielt.
Nicht zuletzt aufgrund des Widerstandes der Cocalero-Gewerkschaften im Chapare gehört der mörderische Drogenkrieg der 1980/1990er Jahre, unterstützt und vorangetrieben von den USA, inzwischen der Vergangenheit an. Momentan sind von der Regierung 12000 Hektar für die traditionelle Kokablätter-Produktion freigegeben. Bebaut werden schätzungsweise 30000 Hektar, davon werden auf ca. 19000 Hektar Pflanzen für die Kokainproduktion angebaut – mit steigender Tendenz. Der Umsatz der Kokainproduktion in Bolivien wird auf zwei Milliarden Dollar geschätzt – bei einem BIP von ca. 17 Milliarden Dollar (2011).
Die wirtschaftliche Bedeutung der Kokainproduktion und ihre Verbindung zur Cocalero-Basis der Regierung Morales ist wohl der Hauptgrund dafür, dass die Regierung am umstrittenen Straßenbau im TIPNIS eisern festhält (siehe Kasten). Im Juli 2012 wurde Evo Morales als Präsident der Cocalero-Gewerkschaften wiedergewählt.
... ist kein Konflikt zwischen »dem ersten indigenen Präsidenten« und der indigenen Basis, wie er international oft dargestellt wurde.
Der 12000 Quadratkilometer große Nationalpark Isiboro Sécure wurde 1990 zum indigenen Territorium (TIPNIS) erklärt und wird seither von drei indigenen Gruppen des Tieflandes verwaltet, den Yuracaré, Moxeno und Chíman. Die Pläne für die Straßenverbindung zwischen Cochabamba und dem Norden bzw. Brasilien sind alt, sie wurden von der Regierung Morales 2009 nur abgeschlossen. Möglich war das aufgrund von Kreditzusagen aus Brasilien, der Bauauftrag ging an eine brasilianische Firma. Gegen das Gesetz wurden mit zwei Ölkonzernen Vorverträge zur Erdölexploration abgeschlossen. Die Straße ist zum einen für die »anti-imperialistische« Achse Venezuela-Bolivien-Brasilien und ihren Handel mit China wichtig. Auch für die Innenpolitik ist sie von Bedeutung: Bislang muss ein Großteil der Fleischversorgung aus den nördlichen Gebieten den Umweg über das Tiefland um Santa Cruz nehmen. Die dortige Fleischindustrie, die in den Händen der (Rechts-)Opposition ist, hatte damit einen starken ökonomischen Hebel.
Die Cocaleros setzen sich für den Straßenbau ein, der Marsch der Straßengegner Richtung La Paz im Mai 2012 war unterwegs mit Drohungen und Blockaden der Straßenbefürworter konfrontiert. Die zwischen Cochabamba und dem TIPNIS gelegene Region Chapare ist das zweitwichtigste Gebiet für den Koka-Anbau und die Kokain-Produktion, hier sind mehrere Ernten im Jahr möglich. In diesem »Siedlungsgebiet der Kolonisatoren« genannten Teil des TIPNIS leben um die 20000 Migranten-Familien aus dem Hochland, angeschlossen an die sechs Cocalero-Föderationen im Chapare. Im restlichen TIPNIS leben ca. 12000 Menschen. Trotzdem ist es zu einfach, die »Kokain-Ökonomie« gegen die »traditionelle Ökonomie« zu setzen. Auch »im Park« leben viele nicht mehr allein von der Land-/Forst-/Fischwirtschaft und haben schlicht die Hoffnung, dass mit der Straße auch Einkommensmöglichkeiten kommen.
Aufgrund dieser verwickelte Situation fällt es der Regierung leicht, die Gegner des Straßenbaus mit absurden Vorwürfen zu attackieren. Als Morales im Frühjahr 2012 im Park herumreiste, Außenbordmotoren verschenkte und um Zustimmung warb, brandmarkte er die Straßenbaugegner immer wieder als Agenten des US-Imperialismus.
Die »nationale Revolution« von 1952 änderte im Grundsatz nichts an der ungleichen Landverteilung und der Ausbeutung in den Minen, weshalb es eine schier ununterbrochene Geschichte von Kämpfen und Aufständen gibt. Erst in den letzten Jahrzehnten wird die ganze Breite der »indigenen« Aufstände gegen die »Kolonisierung« wieder entdeckt. Bekannter sind die Kämpfe der Minenarbeiter und des gewerkschaftlichen Dachverbandes COB (Central Obrero Boliviano), einer der stärksten Arbeiterbewegungen des Kontinents. Auch die BäuerInnen und LandarbeiterInnen der Hochebene (Altiplano) organisierten sich gewerkschaftlich. Sie gehören meist den beiden größten indigenen Gruppen, Quechua und Aymara, an; die vielen kleineren indigenen Gruppen im Tiefland sind bis heute weitaus zersplitterter und werden durch verschiedene Verbände vertreten.
In der sogenannte neoliberalen Phase ab Mitte der 1980er Jahre wurden viele Minen geschlossen, staatliche Unternehmen privatisiert und eine exportorientierten Agrarindustrie entwickelt. Sie wirkt bis heute fort: die Abwanderung vom Land zersetzte die vom COB dominierte Gewerkschaftsbewegung, aus Bergarbeiterfamilien wurden Koka-BäuerInnen mitsamt dazugehöriger Gewerkschaft. In den Städten wuchs der informelle Sektor, geprägt durch StraßenhändlerInnen und andere kleine Selbstständige.
Seit dem »Wasserkrieg« in Cochabamba, als es einer Koordination von Basisinitiativen gelang, die Privatisierung der Wasserversorgung zu verhindern6, entwickelten sich immer wieder breite Kämpfe, die 2003 im »Krieg ums Gas« ihren Höhepunkt hatten: Präsident Sanchez de Lozada musste in die USA fliehen, und Ende 2005 übernahm Evo Morales und die MAS die Regierungsgeschäfte.7
Nicht wenige hatten nach der Regierungsübernahme der MAS mit Putschversuchen der rechten Oligarchie gerechnet. Gerüchte in diese Richtung und auch Angriffe auf »Verbündete« der Regierung gab es immer wieder. Aber die Regierung Morales wurde von einer sehr breiten Mehrheit getragen, während sich das rechte Lager uneinig und zerstritten zeigte. Die landbesitzende Fraktion merkte schnell, dass ihr keineswegs die Privilegien genommen wurden, und auch die obere Mittelschicht in den Städten ließ ihre anfängliche Bestürzung bald fallen.
Natürlich sehen viele in Morales immer noch abwertend den »Indio-Präsidenten«, aber da es ruhig ist im Land, die Geschäfte gut gehen und sogar mehr Geld für die Infrastruktur »ihrer Viertel« da ist, hat sich bald ein gewisser Pragmatismus durchgesetzt.
Die Bewegungen der Jahre 2000-2005 beteiligten sich fast unisono am Entwurf einer neuen Verfassung und der Neubesetzung von Ämtern und Institutionen. Bolivien scheint eine »normale Demokratie« zu werden, in der Konsens und Zustimmung aufwendig produziert und konstruiert werden. Ein Großteil der Menschen hoffte, dass sich diese Veränderungen auch in ihren Lebensverhältnissen bemerkbar machen würden. Der Stolz, endlich die »Kolonisatoren« vertrieben zu haben, das neue Selbstbewusstsein und die Freude, dass nun »einer von uns« die Geschäfte betreibt, bestimmte die Gemütslage.
Spätestens mit der Benzinpreiserhöhung im Dezember 2010 änderte sich diese Situation.8 Seit Monatsanfang hatten sich Meldungen über die Preisunterschiede in Bolivien und den umliegenden Ländern bzw. Hinweise auf den Schmuggel mit Treibstoff gehäuft. Am 26.12., also quasi als Weihnachtsgeschenk, erhöhte die Regierung die Preise für Benzin um 72 Prozent, für Diesel um 82 Prozent. In den folgenden Tagen kam es landesweit zu breiten Protesten, und die Regierung musste zurückziehen. Die einmal in Gang gesetzte Preissteigerung ließ sich allerdings nicht einfach rückgängig machen: Da die Treibstoffpreise direkt oder indirekt in viele Waren des täglichen Bedarfs eingehen, haben sich seitdem die Lebenshaltungskosten deutlich erhöht. Im Frühjahr 2012 kommt es in fast allen Städten zu Streiks und Demonstrationen von Taxifahrern, GesundheitsarbeiterInnen, LehrerInnen, StudentInnen...
Viele Menschen haben in den letzten Jahren wieder die Erfahrung gemacht, dass sie nichts »geschenkt« bekommen, auch nicht von der Regierung Morales. Es gab wieder vermehrt Kämpfe, aber im Vergleich zu 2000-2005 sind sie isoliert, mit Ausnahme der landesweiten Proteste gegen die Energiepreiserhöhung Anfang 2011 kommt es an keinem Punkt zu einer breiten Bewegung. Von unten müssen viele Fragen neu gestellt werden – das ist momentan vielleicht die schwierigste, aber auch die wichtigste Aufgabe.
Im Cerro Rico, dem reichen Berg, werden seit den Zeiten der spanischen Eroberung Silber und andere Metalle abgebaut. In der Casa Moneda, dem Haus des Geldes, wurde das Silber zu Münzen geprägt, die Maschinen stehen noch im Keller. Heute arbeiten sogenannte cooperativas im Berg, die unterschiedlich groß und sehr unterschiedlich organisiert sind. Aber alle arbeiten mit prekärster Technologie und unter schlechten Bedingungen. Eine Minderheit von Ihnen wird von Ex-Mineros mit etwas Eigenkapital geführt, der überwiegende Teil ist ein organisatorischer Zusammenschluss von Mineros, die auf eigene Rechnung ein Stück Stollen bearbeiten. Von noch insgesamt 70000 Minenarbeitern in Bolivien sollen heute 60000 in »Kooperativen« arbeiten, aber sie liefern nur ca. 20 Prozent der Bergwerksproduktion: die ertragreicheren Stollen und die bessere Technologie gibt es im noch verbliebenen staatlichen Bereich. Dies führt immer wieder zu handfesten Auseinandersetzungen.
Elena und Milena, zwei Krankenschwestern, und der Gewerkschaftssekretär Ruben berichten über die Proteste in den Krankenhäusern. Auslöser war die Erhöhung der Arbeitszeit von sechs auf acht Stunden. Die »sechs Stunden« sind ein alter Kompromiss, um die Unterfinanzierung des Gesundheitswesen und die schlechten Löhne ein wenig zu kompensieren. Wir sind in einem Krankenhaus des öffentlichen Sektors, der für 60-70 Prozent der Bevölkerung zuständig ist. Zugang haben im Prinzip alle, aber nicht umsonst. Für Kinder und Schwangere gibt es Programme, ansonsten ist jede Krankheit eine Herausforderung für die Familie und das soziale Netz. Im Gang stehen Verwandte und Freunde an den Schaltern, um die verordneten Medikamente zu kaufen.
Der zweite Sektor wird aus Beiträgen der festbeschäftigten ArbeiterInnen und Angestellten zur Krankenkasse, Caja de Salud, finanziert. 25-30 Prozent der Bevölkerung haben so Zutritt zu besseren Krankenhäusern, die ihren Beschäftigten auch höhere Löhne zahlen: eine Krankenschwester kann hier ca. 6000 Bs (ca. 700 Euro) verdienen, im öffentlichen Sektor ist es die Hälfte. Der dritte Sektor sind Privatkrankenhäuser für unter zehn Prozent der Bevölkerung. Ruben erklärt, dass der öffentliche Sektor von prekären Selbständigen, Straßenhändlerinnen, ArbeiterInnen ohne feste Beschäftigung genutzt wird.
Die KrankenhausarbeiterInnen haben im Prinzip gar nichts gegen die Erhöhung der Arbeitszeit, sie arbeiten meist sowieso länger. Aber dass von der »Verbesserung der Gesundheitsversorgung« ausgerechnet eine Lohnkürzung übrig geblieben ist, macht sie wütend. Zumindest das Ley General del Trabajo, das in den beiden anderen Sektoren des Gesundheitswesens Überstunden und Zuschläge regelt, solle endlich auch für sie gelten.
Eine Stunde später im Versammlungsraum der Gewerkschaften hinter dem Krankenhaus: 2-300 ArbeiterInnen diskutieren am Vortag des 1. Mai das weitere Vorgehen. Die Regierung ist stur, schimpft über die »faulen Ärzte«, die sechs Stunden im öffentlichen Sektor arbeiten, um den Rest des Tages viel Geld in Privatpraxen/-Kliniken zu verdienen – eine allgemein bekannte Realität, aber hinter dieser populären Schelte verschwindet die Situation der ArbeiterInnen. Die Regierung versucht, die ArbeiterInnen moralisch ins Unrecht zu setzen. Besonders aktiv zeigt sich hier Vizepräsident Garcia Linera, der Intellektuelle mit Guerilla- und Knasterfahrung in den 1970ern, er ruft die Bevölkerung dazu auf, den Streikenden mal Bescheid zu stoßen.
Vier, fünf Stunden lang wird diskutiert, viele beteiligen sich, es gibt Ermahnungen, wenn es zu laut wird, eine konzentrierte Diskussion, eine gewerkschaftliche Versammlung im besten Sinne. Soll es Blockaden der zentralen Straßen oder Ausweitung der Hungerstreiks geben? Beides sind »normale« Mittel der politischen Auseinandersetzung. Nach stundenlanger Debatte zieht sich die Führung nochmal für eine Stunde zurück, erst um 17 Uhr ist Schluss, es sitzen wieder fast alle im Raum. Man hat sich für Blockaden entschieden, aber vorher ist 1.-Mai-Demo.
Oruro, 240.000 Einwohner, eines der verbliebenen Zentren des COB, Central Obrero Boliviano, des Dachverbandes eines Großteils der Gewerkschaften. Der ohrenbetäubende Knall explodierender Dynamitstangen, zum Glück mit Vorwarnung, ist der Sound der Demo – neben den sich meist reimenden Parolen gegen die Regierung Morales: Evo decía, que todo cambiaría – Mentira, la misma porquería!; Evo antés bloqueador – hoy dictator...
Der Block der GesundheitsarbeiterInnen ist der lauteste, aber das Ganze erinnert sehr an eine gewerkschaftliche 1.-Mai-Demo bei uns: viele Fahnen, viele Reden, nach der Abschlusskundgebung löst sich die Demo schnell auf. Nachfragen klären mich über den geschickten Schachzug des erfahrenen Gewerkschafters im Präsidentenamt auf: da der 1. Mai auf einen Dienstag fiel, hat Morales in einer Ansprache an die »tapferen ArbeiterInnen des Landes« den Montag kurzerhand zum Feiertag erklärt und ein extralanges Wochenende verordnet. Wütende Kommentare aus Kreisen der Streikenden, die Regierung solle sich nicht einbilden, so einfach die Mobilisierung schwächen zu können...
Wir sitzen auf dem Prado, nur ein paar hundert Meter entfernt vom Regierungspalast auf der Plaza Murillo. Die Transportarbeitergewerkschaften haben zu einer dreitägigen Blockade aufgerufen und die zentralen Verkehrsachsen der Stadt mit alten Bussen zugestellt: Es geht nichts mehr. Der Bürgermeister will einen alten Plan umsetzen und die trufis (taxi ruta fija, Taxi mit fester Route), die die Straßen oft mehr verstopfen als dass sie für Mobilität sorgen, aus dem Zentrum verbannen und durch Großbusse ersetzen. Die Fahrer und die Frauen, die Routen ausrufen und kassieren, fürchten um ihre Einkommen. Zunächst misstrauische Mienen, nicht wenige Passanten beschimpfen die Streikenden, es war zu Handgreiflichkeiten gekommen, weil Leute versucht hatten, die Blockaden zu umfahren. Die Streikenden sehen durchaus die Transportprobleme, aber sie möchten Alternativen – und gefragt werden.
Der COB will den Druck auf die Regierung erhöhen. GesundheitsarbeiterInnen, (Medizin-)StudentInnen und Transportarbeiter bilden den Kern der Demo. Ich bin mit TrotzkistInnen der LORCI unterwegs, sie setzen auf ein »Wiedererstarken« des COB in der aktuellen Streikwelle und wollen sich an den Versuchen beteiligen, aus dem COB eine Partei zu machen, um das »politische Loch« links von der MAS füllen und den ArbeiterInnen eine politische Führung zu geben. Kaum eine Woche später hat sich das erledigt, der COB schließt mit der Regierung ein schlechtes Abkommen für den Gesundheitssektor ab.
Am Ende der Demo kommt es zu Straßenschlachten am Regierungspalast. Hauptsächlich StudentInnen attackieren das Gebäude mit den Materialien, die während der Demo aus Bussen heraus verteilt worden waren. Die Polizeieinheiten bleiben passiv, z. B. werden keine Gefangenen gemacht. Die Regierung weiß, dass die Kämpfe momentan relativ isoliert sind. Gefangene, Verletzte oder gar Tote könnten das aber schnell ändern, wird mir nach der Demo erklärt.
AktivistInnen der Kasa Kamasa9, eine Art »Autonomes Zentrum«, im Kern von einer Frauengruppe organisiert, haben einen Aktionstag gegen die Straße durch den TIPNIS (siehe Kasten) organisiert. In den letzten Tagen war der Marsch der Straßengegner immer wieder auf Probleme gestoßen: starke Regengüsse, fehlende Lebensmittel, Angriffe der Regierung, Drohungen von Straßenbefürwortern, den Marsch nicht passieren zu lassen....
Oscar Olivera, »alter« gewerkschaftlicher Basisaktivist und einer der Mitbegründer der Wasserkoordination in Cochabamba, und Carlos Crespo aus der anarchistischen Szene der Stadt wählen harsche Worte zur Beschreibung der aktuellen Situation. Die Regierung betreibe eine »arbeiterfeindliche Politik«. Ökonomisch setze sie auf die Entwicklung einiger Schlüsselsektoren – Bergbau, Soja, einige wenige andere Exportnischen, perspektivisch Lithium. Sozial komme bislang nicht mehr heraus als ein paar dünne Sozialprogramme. Politisch wende die Regierung eine Taktik an, die in einem immer noch rassistischen Land wie Bolivien alt bewährt sei: verschiedene gesellschaftliche Sektoren gegeneinander auszuspielen. Dies sei zum ersten Mal deutlich geworden beim Konflikt 2006 in der Mine Huanuni zwischen staatlichen Bergarbeitern und Cooperativistas. Da sei es wenig überraschend, dass die Regierung versuche, die »NutzerInnen« gegen die GesundheitsarbeiterInnen aufzubringen.
»Wir müssen von vorne anfangen«, so die bittere Analyse von Olivera und Crespo. Das gesellschaftliche Netz, aus dem die Bewegungen zwischen 2000 und 2005 entstanden seien, gebe es nicht mehr. Auf die Gewerkschaften oder den COB zu setzen, führe zu nix: in den 1970er Jahren seien über 70 Prozent der ArbeiterInnen gewerkschaftlich / innerhalb des COB organisiert gewesen, heute seien es vielleicht noch 15 Prozent. Hauptgrund sei die Entwicklung der informellen, selbständigen, prekären Bereiche. Abgesehen von diesem materiellen Hintergrund – oder genau deshalb! – seien die Gewerkschaften, einschließlich des COB, mehr an Posten interessiert als an einer wirklichen Organisierung der ArbeiterInnen. In den letzten Jahren gingen die Menschen wieder für »alltägliche Bedürfnisse« auf die Straße – Wasser, Wohnen, Rente, Gesundheit, Löhne, Lebenshaltungskosten. Das zeige, dass ein Neuanfang möglich sei.
»Komm mit besseren Nachrichten 'von da drüben' wieder« – laden mich meine Gesprächspartner ein. Mit »besseren Nachrichten« meinen sie Berichte von breiten Kämpfen gegen die Krisenauswirkungen. Sie haben recht. »Wir« kommen mit vielen Fragen in diese Länder oder erwarten Ermutigung oder gar Lösungen, dabei kann nur eine Gleichzeitigkeit von Kämpfen eine »Lösung« sein. Und vor allem auch Kämpfe in den kapitalistischen Zentren!
P.S. Im Juni kommen Putschgerüchte auf: der Marsch der GegnerInnen des Straßenbaus im TIPNIS ist in La Paz, zeitgleich gibt es Proteste der »unteren Polizeiränge«, schlecht bezahlte Jobs für MigrantInnen vom Land. 2004 war es dabei zu Plünderungen und Toten gekommen. Diesmal werden staatliche Gebäude besetzt und beschädigt. Die Regierung spricht vom »Plan Tipnis«, der von rechts initiiert die Regierung destabilisieren soll. Europäische linke Intellektuelle starten eine internationale Unterstützungsinitiative. Bolivianische Genossen halten das Ganze für ein Konstrukt der Regierung. Gleichzeitig sehen sie in solchen Manövern die Gefahr, im Falle eines tatsächlichen Putsches nicht mehr genügend Unterstützung mobilisieren zu können.
[1] Diese Einteilung ist tatsächlich sehr grob, allein über »Indigenismo« – eher ein Projekt nicht-indigener Intellektueller – bzw. »Indianismo«, ein Projekt indigener Intellektueller, ließe sich viel sagen. Es gibt in den Städten einige wenige »autonome« Linke, die sich quer zu diesen groben Linien zu organisieren versuchen. Auch eine feministische Linke gibt es, z.B. die Mujeres Creando in La Paz, die auch immer wieder inhaltlich und praktisch eingreifen.
[2] Zur Landreform sei die Lektüre des Artikels von Sven Schaller, Ländliche Armut, Dualismen und die indigene Frage, Ein halbes Jahrhundert Agrarreform in Bolivien, empfohlen. Nachzulesen in dem Doppelband Bolivien im Umbruch, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2010. Ein lesenswerter Doppelband, allerdings mit Artikeln sehr unterschiedlicher Qualität. Sven Schaller liefert nicht nur einen guten Überblick, sondern auch eine interessante These: die Regierung Morales würde die mit der Agrarreform 1952 begonnene kapitalistische Umgestaltung der bolivianischen Landwirtschaft zu Ende führen – die vollständige Proletarisierung der Minifundistas.
[3] Zahlen aus der Studie Weisbrot, Rebecca, Johnston, Bolivia, The Economy during the Morales Administration, 2009. Zusammenfassung in: Der Neue Extraktivismus – Eine Debatte über die Grenzen des Rohstoffmodells in Lateinamerika; Hrsg.: FDCL e.V. und Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, 2012.
[4] Die Renta Dignidad erweiterte 2008 das schon bestehende Programm für über 60-Jährige: ein Zuschuss von 1800 Bs (ca. 210 Euro) im Jahr als Rentenzuschuss, 2400 Bs für Menschen ohne feste Rente. Der Bono Juana Azurduy ist ein Programm für nicht-versicherte Schwangere: 50 Bs wenn alle Voruntersuchungen wahrgenommen werden, 125 Bs bei der Geburt, 125 Bs für jeden Arztbesuch mit dem Kind bis zum 2. Lebensjahr. Der Bono Juancito Pinto zahlt 200 Bs im Jahr für den regelmäßigen Schulbesuch bis zur 6. Klasse Grundschule.
[5] Zu El Alto siehe die Buchbesprechung in Wildcat 87: Raul Zibechi, Die Zersplitterung der Macht / Nautilus Flugschrift 2008.
[6] Leider nur auf Englisch und Spanisch, Nosotros somos Coordinadora, Fundación Abril, 2008, bzw. Cochabamba! Water War, 2004; Zum Thema auf deutsch z.B. Lateinamerikanachrichten 406 / 2008.
[7] Im Dossier Bewegungen in Lateinamerika findet Ihr Infos zu den Kämpfen zwischen 2000 und 2005
[8] Schon im Sommer 2010 war es in Potosí zu breiten Protesten und Demonstrationen gekommen. Auslöser waren nicht umgesetzte Wahlversprechen: Investitionen in dieser armen Region des Landes, in der die Regierung 2009 fast 80 Prozent Stimmenanteil hatte. Die Regierung war überrascht, dass sich in einer ihrer Hochburgen solch breite Proteste entwickelten.
[9] Siehe die Website der Kasa Kamasa.