Kurzfassung des Artikels zur Weltarbeiterklasse (Wildcat 98, Frühjahr 2015), geschrieben für Analyse & Kritik (ak) Nr. 609, erschienen am 20.10.2015
In den Streikwellen der letzten Jahre hat eine Weltarbeiterklasse Gestalt angenommen. Was heißt das für die Krise in Europa und die Kämpfe in der BRD?
Zu Beginn der globalen Krise seit 2007 schien der Kapitalismus endgültig delegitimiert. Mehr und mehr ehemals radikale Linke setzten aber verstärkt auf den Staat, »um den Kapitalismus vor sich selber zu retten«. Für diese staatsorientierte Linke, die auf einen »radikalen Reformismus« als systemüberwindende Strategie setzte, ist die 180-Grad-Wende SYRIZAs eine historische Niederlage.
Bereits vor Ausbruch der Krise hatte eine globale Streikwelle begonnen, die dem Kapital wesentlich mehr zusetzte und 2010 einen ersten Höhepunkt erreichte. Die darauf folgenden Aufstände in Nordafrika 2011 wurden größtenteils blutig niedergeschlagen und in Bürgerkriege transformiert.
In dieser Situation sind wir heute. Der Kapitalismus hat in diesen acht Jahren keine Legitimation zurückgewonnen, im Gegenteil! Die höchst »undemokratische« Konstruktion der EU und des Euro ist für alle sichtbar geworden. Aber Eurogruppe, Bundesregierung und Gewerkschaftsführungen haben durch ihr Krisenmanagement eine »Normalisierung« erreicht. Auch deshalb gilt es, die eigene Praxis im weltweiten Zusammenhang zu betrachten und auf den Klassenkampf statt auf Regierungspolitik zu beziehen.
2004 wurde der erste »globale Stau« registriert. Die Streiks im chinesischen Perlflussdelta 2004, auf dem Höhepunkt des Booms, waren der erste große, offensive Kampfzyklus in den neuen Fabriken. Sie erreichten Lohnerhöhungen und strahlten auf die Fabriken in ganz Ostasien aus. In Vietnam, Kambodscha, Bangladesch, Bahrain wurde gestreikt; der Streik der Busfahrer im Iran 2006 war dort der erste wichtige Streik seit 1979! Die weltweite Streikwelle erreichte 2010 einen Höhepunkt, im letzten Drittel 2010 – mitten in der Weltwirtschaftskrise! – bündelten sich die Kämpfe in einem geografisch und quantitativ geschichtlich einmaligen Ausmaß; das Ende des Neoliberalismus und die Entstehung der weltweiten Arbeiterklasse zeichneten sich ab.1 Diese globale Streikwelle bereitete den Weg für politische Revolutionen und Protestbewegungen. Ohne die Streiks in der Phosphatindustrie in Tunesien und die Massenstreiks in der ägyptischen Textilindustrie in Mahalla 2006 bis 2008 wäre es nicht zu den Aufstandsbewegungen in diesen Ländern gekommen.
Eine solche Welle von Massenprotesten auf der Straße, Streiks und Aufständen hatte die Welt noch nicht gesehen; sie ist nur mit revolutionären Aufbrüchen wie 1848, 1917 oder 1968 vergleichbar. Die Proteste richteten sich gegen soziale Ungerechtigkeit, gegen Krieg, gegen Korruption. Es gab Food Riots gegen die Erhöhung der Lebensmittel- und Energiepreise, Aufstände für wirkliche Demokratie, Streiks gegen Unternehmer_innen, Generalstreiks gegen die Sparpolitik. Sie waren häufig nicht friedlich. Insbesondere die Besetzung öffentlicher Plätze und die gemeinsame Organisation des Alltags strahlten als Kampfform auf die gesamte Mittelmeerregion und die USA aus.
Angesichts stagnierender Wachstumsraten in den alten Metropolen floss brachliegendes Kapital in die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), in denen 40 Prozent der Weltbevölkerung leben und die (bis auf Russland) über eine junge aufstrebende Arbeiterschaft verfügten.2 Auch schienen diese Staaten zunächst nicht von der Weltwirtschaftskrise getroffen zu sein. Aber gerade in diesen Hoffnungsträgern des Kapitalismus haben die Arbeiter_innen den Kampf aufgenommen. In den Schwellenländern sind in sehr unterschiedlichen kulturellen und politischen Milieus auffällig ähnliche Arbeiterbewegungen entstanden, die in kurzer Zeit erhebliche Lohnerhöhungen durchsetzen konnten.
Ihre Streiks haben viele Gemeinsamkeiten: Die Schwerpunkte liegen in zentralen Branchen der jeweiligen Ökonomien, die bestreikten Unternehmen sind multinational tätig, die Arbeiter_innen geraten bei ihren Kämpfen mit den bestehenden Gewerkschaften aneinander, suchen sich andere Gewerkschaften oder benutzen eigene Organisationsformen. Häufig kommt es zu gewaltsamen Angriffen der Staatsmacht auf die Streikenden, andererseits aber auch zu Gewalt gegen Manager_innen und Streikbrecher_innen seitens der Streikenden.3
2011 schrieb Steven Colatrella in der Wildcat 90, im »traditionellen Streik« liege die Kraft, den Kämpfen Stärke und Richtung zu geben und die Schwächen der »IWF-Riots« zu überwinden; »die globale Verlagerung der Produktion schuf keine neuen Arbeiterklassen. (Sie gab aber) großen Teilen der Arbeiterklasse eine neue strukturelle Macht.« Fabrikarbeiter_innen, die ihre Unternehmer_innen auf nationaler Ebene angreifen, fordern gleichzeitig das Kapital auf globaler Ebene heraus. Die Globalisierung der Produktion hat die Arbeiterklassen der Schwellenländer in eine strategische Position versetzt. Sie haben gelernt, an den Gewerkschaften vorbei bessere Löhne zu erkämpfen.4
Diese Kämpfe setzten sich 2014 fort – auch unter dem Heraufziehen der nächsten Krise. Seit 2013 wurde viel Kapital aus den BRICS-Staaten abgezogen und teilweise in die sogenannten MINTS-Staaten Mexiko, Indonesien, Nigeria, Türkei und Südkorea transferiert. Auch dies sind Staaten mit einer großen und sehr jungen Bevölkerung – mit großen Protestbewegungen. Die Türkei zum Beispiel war im Juni 2013 Schauplatz eines Aufstands (»Gezi-Park«), und im Mai 2015 ging eine Streikwelle durch die gesamte Autoindustrie, in der die Arbeiter_innen die Gewerkschaft davonjagten.
Ohne den schuldenfinanzierten Boom in den Peripherieländern wäre die Wirtschaft in der EU bereits vor der globalen Krise nicht mehr gewachsen. Durch die von Merkel und Steinbrück aufgezwungene Art des nationalen Banken-Bailouts wurden die Schulden für diese Staaten dann untragbar. Seither zwingen die Vertreter_innen der Eurogruppe Griechenland ein Szenario auf, von dem sie wissen, dass es kein Wachstum schafft – denn es geht auch um Länder wie Italien, Spanien, Portugal, die baltischen Staaten. Es geht darum, neoliberale Politik gegen die Klasse in der ganzen EU durchzusetzen. Der Euro schafft die Zwänge dazu.
2010 sprachen viele vom »Laboratorium Griechenland«. In einem kleinen Land werde ausprobiert, wie weit man gehen könne: Was passiert, wenn man die Löhne und Renten kürzt, die Tarifautonomie aufhebt und die Mehrwertsteuer erhöht? Aber das »Laboratorium« ist keine Versuchsreihe, sondern die EU steht massiv unter Druck und riskiert in diesem Klassenkampf sehr viel.
Die Arbeiter_innen in Griechenland scheinen in einer Art Schockstarre zu sein. Daran wird sichtbar, wie eine ehemals kämpferische Arbeiterklasse durch Unterschichtung zersetzt worden ist. Es gibt nur wenige Punkte, an denen sie mit Streiks etwas reißen könnte. Seit dem Beitritt zum Euro hat sich die wirtschaftliche Situation verschlechtert: Industriearbeitsplätze wurden abgebaut; landwirtschaftliche Produkte sind Hauptexportgut, während die im Lande verzehrten Lebensmittel großteils importiert werden. Viele Griech_innen konnten in den Jahren vor der Krise allerdings ihren Lebensstandard verbessern: Billige Kredite haben zur Ausweitung einer Mittelschicht geführt, die in Eigentumswohnungen und die Ausbildung ihrer Kinder investierte. Grundlage des Booms war neben den billigen Krediten aber die billige Arbeitskraft der vielen Migrant_innen, die die Handarbeit erledigten. Seit der Krise arbeiten wieder zunehmend Griech_innen in der Tourismusindustrie. Hier wird das Ziel der EU-Politik deutlich: die Arbeitsbedingungen der Migrant_innen auf weite Teile der Klasse auszudehnen.
SYRIZA war nach dem Niedergang der Massenbewegung an die Regierung gekommen. Und die Erfahrung war dieselbe wie bei Schröder/Fischer, Hollande, Renzi: Mit der Linken an der Regierung wird alles noch schlimmer. Die meisten Kader von SYRIZA kommen aus der Oberschicht oder sind Akademiker_innen mit guten Verbindungen ins Establishment; für sie persönlich bringt die EU Vorteile. Ihre Strategie zur Regierungsübernahme und ihr Regierungshandeln haben sie auch politisch von der Arbeiterklasse getrennt. Die ersten sechs Monate waren sie nur mit der Troika und innerparteilichen Säuberungen beschäftigt; sie haben keine einzige große Reform angeschoben, die das Leben der Menschen in Griechenland verbessert hätte. Das »Nein« beim Referendum im Juli war ein letzter Aufschrei – danach setzte Tsipras die angebliche »Alternativlosigkeit« durch. Er wurde trotzdem wiedergewählt, allerdings mit weniger Stimmen, weil fast die Hälfte nicht mehr wählen ging.
Nachdem die Arbeiter_innen in der BRD 25 Jahre lang allein mit ihren Kämpfen waren, beziehen sich heute wieder linke Gruppen und Intellektuelle darauf – setzen dabei allerdings Gewerkschaft und Arbeiterklasse in eins.
Zwischen 2004 und 2006 gab es zum ersten Mal wieder große Streiks kampfstarker Belegschaften, aber bei Opel, AEG, BSH war es das letzte Gefecht.5 Die »Massenarbeiter_innen« der ersten und zweiten Generation konnten nochmal hohe Abfindungen abräumen – und sich dann in der Beschäftigungsgesellschaft ein Jahr lang überlegen, wie sie die zehn Jahre bis zur Rente überbrücken wollen. Die Lokomotivführer_innen mischten 2006 und 2007 mit ihren Streiks die Verhältnisse bei der Bahn auf und stießen damit auf breite Sympathie.
Als die Weltwirtschaftskrise 2008 auf die Exportindustrie durchschlug, kam der Staat eventuellen Arbeiterreaktionen zuvor und subventionierte kräftig mit Abwrackprämie, verlängerter Kurzarbeit und Baukrediten. Somit wurden Handwerker_innen, die Bauindustrie und die festangestellten Arbeiter_innen (gern zusammengefasst als »die Sparer«) vor dem Absturz geschützt. Die Leiharbeiter_innen hingegen wurden ohne viel Federlesen entlassen. Die Unternehmen nutzten die Krise zur weiteren Rationalisierung und setzten die Belegschaften verschiedener Standorte in Konkurrenz zueinander. Wilde Streiks bei Daimler Sindelfingen erreichten zwar Teilerfolge, konnten dem wichtigsten Unternehmerangriff aber nichts entgegensetzen: der weiteren Zersetzung der Belegschaften durch Leiharbeit und (nach deren gesetzlicher Gleichstellung) durch Werkvertragsarbeiter_innen.
Von außen betrachtet scheint die BRD 2015 von Streikwellen durchzogen: die Lokführer_innen, die Post, die Erzieher_innen, die Lehrer_innen – wann hat es seit den 1990er Jahren zum letzten Mal diese Gleichzeitigkeit von Streiks im ehemaligen Öffentlichen Dienst gegeben? Welche Chancen, gemeinsam das Land aufzumischen! Aber von innen betrachtet waren diese Streiks unter strenger Kontrolle der Gewerkschaften, die sie scheinbar beliebig anfangen und – mit Ausnahme des Kita-Streiks – auch wieder abblasen konnten. Die GDL erreichte ihr Hauptziel, die anderen Streiks gingen verloren, zurück blieben Frust, das Gefühl, verheizt worden zu sein – verbrannte Erde.
Schuld der Gewerkschaften? Sie haben jedenfalls im Bezugsrahmen der Standortkonkurrenz operiert: Während die IG Metall seit Jahren ihre Tarifverträge ohne Streiks abschließt – diese würden ja der Exportindustrie schaden! –, verlor ver.di durch Umstrukturierung im Einzelhandel und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen ihre ehemals kampfstarken Belegschaften. Angesichts des gewaltigen Rationalisierungsangriffs: Zerlegung der Post, Massenentlassungen bei Banken, Versicherungen (Allianz!), im Einzelhandel und allgemein in der Logistik stehen sie mit dem Rücken an der Wand. Solidarität zwischen den Gewerkschaften? Eher im Gegenteil. Mitte April haben IG Metall, IG Chemie, EVG und IG Bau gemeinsam mit dem DGB-Vorsitzenden ein Kooperationsabkommen gegen die anderen vier DGB-Gewerkschaften geschlossen. Solidarität mit den griechischen Arbeiter_innen? Pustekuchen!
Dank der EU-Freizügigkeit hat das BRD-Kapital Zugriff auf einen der größten zusammenhängenden Arbeitsmärkte der Welt und kann die – 25 Jahre nach der Wende noch immer sehr niedrig entlohnten – Arbeitskräfte in Osteuropa ausbeuten.
Die Konstruktion der EU war bisher ziemlich erfolgreich dabei, die nationalen Arbeiterklassen gegeneinander auszuspielen – vor dem Hintergrund, dass sie einen gewissen Schutz vor der vollen Konkurrenz des Weltmarkts darstellt. Innerhalb der EU geht es den meisten Arbeiter_innen besser als außerhalb, und hier ist auch kein Krieg. Das gilt in verstärktem Maße für die BRD: Trotz einschneidender Maßnahmen wie Hartz IV und der Schaffung eines Niedriglohnsektors, in dem etwa ein Viertel aller abhängig Beschäftigten arbeitet, sehen sich viele im Vergleich zur übrigen Welt materiell relativ geschützt. (So wie auf der anderen Seite viele Flüchtlinge und Arbeitsmigrant_innen mit allen Mitteln versuchen, in die BRD oder die EU zu kommen – weil es anderswo viel schlimmer ist.) Diese scheinbare Alternativlosigkeit hat Bewegungen von unten den Schneid abgekauft und zu einer erdrückend entpolitisierten Situation geführt.
Gegen die materielle Einbindung der Arbeiter_innen und die institutionelle Einbindung der Linken sehen wir im Moment nur zwei Gegentendenzen: Proletarisierung und Kämpfe in nicht repräsentierten Bereichen.
Aktuell erleben wir breite und beschleunigte Proletarisierungsprozesse in der BRD. Gerade Großbetriebe (früher die Basis der Arbeiter-/Gewerkschaftsmacht) lagern zunehmend auch Kernbereiche an Fremdfirmen aus, um das Arbeits- und Tarifrecht auszuhebeln. Gleichzeitig kommen verstärkt Einwander_innen, zum größten Teil aus EU-Ländern, aber auch als »Flüchtlinge«. Sie finden Arbeit in der Pflege, der Bauindustrie (die Zahl der »deutschen« Bauarbeiter ist um 70 Prozent gesunken), als Erntearbeiter_innen oder in der Fleischindustrie – eine der größten Wachstumsbranchen in der BRD.
Sie alle machen die Erfahrung der Klassengesellschaft – und dass sie keine Vertretung haben. Es gibt vermehrt Protestaktionen gegen Lohnbetrug oder krasse Unterbezahlung, aber noch keine öffentlich wahrnehmbare »Kampfwelle« (Streiks bei der Meyer-Werft in Papenburg, Protest von ungarischen Schlachtern in Birkenfeld usw.). Die Proteste laufen unabhängig voneinander; ohne Unterstützung von außen würden sie meist nichts erreichen. Viele der neuen Migrant_innen sind noch gar nicht fähig, sich am Arbeitsplatz organisiert zu wehren.
Wenn Kapitalvertreter_innen ihre Fühler nach Flüchtlingen ausstrecken, suchen sie Arbeitskräfte, die bereit sind, sich »hochzuarbeiten«. Die vielbeschworene »Integration« der Flüchtlinge wird nicht ohne Auseinandersetzungen innerhalb der Klasse stattfinden – und zu Lasten der schwächsten Teile der ansässigen Klasse gehen, denen zur Zeit nur eingebläut wird: »Wir« sind ein reiches Land.
Kapitalismus war von seinen Anfängen an ein globales, über den Weltmarkt vermitteltes Verhältnis. Doch ohne staatliche Rechtsordnung und nationale Arbeitsmärkte hätte das Kapital nicht überlebt. Entwickeln konnte es sich aber nur, indem es auf eine industrielle Reservearmee von Landarbeiter_innen, Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, unterbeschäftigten Proletarier_innen (auch in anderen Ländern) zurückgriff. Die historische Arbeiterbewegung hat sich in den Staat hinein gekämpft und aus Proletarier_innen Staatsbürger_innen gemacht. Der (Sozial-)Staat garantiert seinen Staatsangehörigen eine gewisse Absicherung gegen Existenzunsicherheit.
Die These von der »Weltarbeiterklasse« geht davon aus, dass diese Anbindung der Arbeiter_innen an den Staat über eine (sozialdemokratische) Arbeiterbewegung aufgebrochen ist. 1968ff. hat es eine breite und langfristige Abwendung der proletarischen Bewegungen vom Staat und von Staatlichkeit überhaupt gegeben. Der Abbau von Sozialleistungen seit Beginn der 1980er Jahre hat zu einer gewissen Entfremdung breiter Schichten vom Staat geführt – obwohl er die Stammbelegschaften durchaus noch schützt: Man denke an die massiven Staatsinterventionen seit 2008 zur Rettung der Autoindustrie in der BRD, den USA und in Frankreich.
Auch deshalb ist gegen die Schäuble/Merkel-Partei eine »neokeynesianische« »linke« Position schwach, die in der Erhöhung der Arbeiterlöhne in der BRD die Lösung der EU-Krise sieht. Zudem gaukelt sie vor, Arbeiter_innen und Kapital könnten ein gemeinsames Interesse haben. Eine Linke, die sich gesellschaftliche Umwälzungen nur über den Staat vorstellen kann, hat mit dem Zerfall SYRIZAs ausgespielt.
Ein anderer Teil der radikalen Linken will den Staat abschaffen und hat in den letzten Jahren auf Aufstände gesetzt. Aber Griechenland 2008, Iran 2009, die Indignados, die Gezi-Park-Proteste, Stuttgart 21, die arabischen Aufstände, Occupy Wallstreet, Hongkong ... haben eines in aller Schärfe klargemacht: Ein Umsturz der bestehenden Ordnung ist nur möglich, wenn sich die Arbeiter_innen als Arbeiter_innen am Aufstand beteiligen. Im Streik können sie reale Macht entwickeln, hier formieren sich kollektive Subjekte.
Die Arbeiter_innen in den Schwellenländern haben sich in den letzten Jahren große Lohnerhöhungen erkämpft. Sie sind noch kein neues »revolutionäres Subjekt«, in dem sich breite Schichten erkennen würden. Eine Utopie, dass andere Verhältnisse möglich sind, ist noch nicht greifbar geworden. Aber in den Kämpfen lassen sich durchaus neue Entwicklungen feststellen. Arbeiter_innen beweisen erstaunliche Fähigkeiten, ihre Kämpfe zu organisieren und über Ländergrenzen hinweg zu koordinieren. Sie haben verstanden, dass sie sich nur kollektiv durchsetzen können. Sie kämpfen mit egalitären Forderungen, lassen sich von Gewerkschaften nicht aufhalten und schrecken vor harten Konfrontationen nicht zurück. Sie werfen Probleme auf, auf die das System keine Antwort hat. In der herannahenden Krise kann das Kapital keine Lohnzugeständnisse machen. Aber die Regimes können die Austerität gar nicht gegen die kämpfenden Massen durchsetzen.
Politische Debatten statt Diskurse! Statt Beschäftigung mit sich selber Ausrichtung der Organisationsbemühungen auf die Erfordernisse/Widersprüchlichkeiten der Klassenbewegung. Diese Fragen müssen heute im Zentrum der politischen Debatte und unserer Organisierungsbemühungen stehen.
Wildcat-Kollektiv, veröffentlicht in: Analyse & Kritik Nr. 609, 20.10.2015
[1] Für eine genauere Ausführung siehe den Artikel »Weltarbeiterklasse« in Wildcat 98, Sommer 2015.
[2] Die Abkürzung BRIC ist eine Erfindung der US-Investmentbank Goldmann Sachs von 2001 und wurde in den letzten Jahren auf BRICS ausgedehnt.
[3] Siehe Jörg Nowak: Massenstreiks in der globalen Krise, Standpunkte 10/2015, online auf www.rosalux.de
[4] Siehe Steven Colatrella: In unseren Händen liegt eine Macht, in: Wildcat 90.
[5] Beim Autobauer Opel in Bochum fand im Oktober 2004 einer der größten wilden Streiks der jüngeren deutschen Geschichte statt. Gegen massive Entlassungspläne legten dort Tausende Arbeiter_innen gegen den Willen der Gewerkschaft sechs Tage lang die Arbeit nieder. Inzwischen ist das Bochumer Opelwerk trotzdem abgewickelt. Im Frühjahr 2006 streikten in Nürnberg Beschäftigte des AEG-Hausgeräte-Werks gegen die Schließung; am Ende kam ein Sozialplan heraus, das Werk wurde geschlossen. Und im Herbst 2006 streikten Beschäftigte der Bosch Siemens Hausgeräte (BSH) gegen die Abwicklung ihres Werk in Berlin-Spandau.