Wildcat-Zirkular Nr. 34/35 - März 1997 - S. 102-104 [z34centr.htm]


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Kritik des CentrO-Artikels im letzten Zirkular

»Solche Flugblätter wollte ich eigentlich nie mehr verteilen!« Dieser Ausruf eines Genossen hat dazu geführt, daß wir in Berlin mehrmals über den Artikel zur Situation im CentrO und die Flugblatt-Aktion dazu im letzten Zirkular diskutiert haben. Für uns wurde es zum Anlaß, unsere eigenen Flugblätter zu kritisieren, denn ein Großteil der Kritik, die wir am CentrO-Flugblatt haben, gilt auch für Sachen, die wir selbst in den letzten Jahren gemacht haben. Im folgenden haben wir jetzt aber erstmal die Kritikpunkte am CentrO-Flugblatt und am Artikel im Zirkular aufgeschrieben, damit eine Diskussion ingang kommt. (Am besten legt Ihr Euch das alte Zirkular daneben, wir haben jetzt nicht jedesmal die Punkte mit Zitaten belegt, um das ganze nicht aufzuplustern.)

Die Hauptkritikpunkte aus unserer Diskussion:

* Das Flugi könnte auch von den Jusos sein. Der ganze Text, vor allem aber der Forderungskatalog am Ende stellt sich als Versuch dar, die Auswüchse des kapitalistischen Systems einzudämmen, eine Humanisierung der Ausbeutung zu erreichen. Nirgends im Flugblatt findet sich ein Hinweis darauf, daß die SchreiberInnen diese Punkte thematisieren, weil sie das System umstürzen wollen.

* Es ist überhaupt unklar, worauf die SchreiberInnen von Artikel und Flugblatt hinaus wollen. Im Flugi bieten sie sich als alternative Gewerkschaft oder Interessenvertreter an. Die ganze Sprache und Darstellungsweise ist dem gewerkschaftlichen Jargon angepaßt.

* Das Flugblatt erklärt den Leuten von oben her, in welcher Scheißsituation sie stecken. Es teilt den Leuten in den unterschiedlichen Abteilungen nur mit, daß es den anderen auch Scheiße geht und daß die auch keine Ahnung haben, wie sie sich wehren könnten - das ist schon fast paternalistisch.

* Den Weg zur Revolution stellen sich die SchreiberInnen als Dreischritt vor: Kampf für materielle Verbesserungen, Bewußtseinsbildung, Streben nach grundsätzlicher Überwindung des kapitalistischen Systems. (Ist irgendeineR von uns so zur »Bewegung« gekommen?) Damit kriegen sie ein sehr grundsätzliches Problem, denn:

* Die Eingangsthese des Artikels ist: Immigranten-Kämpfe können die Blockierung des Klassenkampfes hier aufbrechen. Und der Klassenkampf sei blockiert, weil die Leute ins System eingebunden sind. Das könne sich ändern, wenn die Leute im CentrO kämpfen, die im Gegensatz zu den »einheimischen« ArbeiterInnen »noch nicht eingebunden« sind in den Sozialstaat. Aber warum sollen die »ImmigrantInnen« weiterkämpfen, wenn sie den ersten Schritt (materielle Verbesserungen = Einbindung!?) hinter sich gebracht haben? Und warum sollte es in dieser Logik unsere Absicht sein, die Einbindung der ImmigrantInnen zu befördern?

* Es kann uns nicht darum gehen, Flugis mit "vernünftigen Forderungen" zu verteilen, um erst die Spaltungen aufzuheben und dann gemeinsam zu kämpfen. Im Grunde genommen setzt man sich damit in die Position, ausgleichend zu wirken. Aber die ArbeiterInnen sind nicht schwach, weil sie gespalten sind, sondern gespalten, weil sie schwach sind.

* Wir wissen nicht, ob der Flugblatt-Text zusammen mit z.B. FAU-Leuten geschrieben wurde. Aber wir fragen uns, wieso machen Revolutionäre so ein gewerkschaftliches Flugblatt? Und warum drucken sie die positiven Reaktionen der örtlichen Presse und des Gewerkschaftsvertreters völlig unkritisch im Anhang ab? (Wir haben den Eindruck, daß der Gewerkschaftsheinz ganz gut verstanden hat, daß die GenossInnen eigentlich seinen Job machen! Und um jetzt nicht ganz falsch verstanden zu werden: Es geht uns überhaupt nicht darum, daß in jedem Flugblatt "die Revolution" beschworen werden muß; kurze fetzige Flugblätter, die ein einzelnes Problem angreifen, machen oft sehr viel mehr Sinn. Mit »gewerkschaftlich« meinen wir, daß die SchreiberInnen den "Gesamtblick von oben" einnehmen und mit "vernünftigen Forderungen" die ArbeiterInnen zu erreichen versuchen, zu denen sie bisher keinen Kontakt haben.)

Folgende Fragen bleiben erstmal offen:

Wie kommen wir eigentlich darauf, die ImmigrantInnen würden frischen Wind in die Auseinandersetzung bringen? Wo entwickeln und formulieren sie »Vorstellungen und Ziele von einer Verbesserung ihrer Situation«, die über den Standard für »einheimische« ArbeiterInnen, also den Sozialstaat, hinausgehen?

Ein Genosse ging in der Diskussion so weit zu sagen: »Mich interessiert doch überhaupt nicht, ob die n paar Mark mehr verdienen. Und wahrscheinlich kommt die Forderung gar nicht von den Leuten selbst, sondern die SchreiberInnen haben sie so drunter geschrieben.« Aber was ist die Alternative zu solchen Flugblättern, mit denen man über bescheidene materielle Forderungen versucht, Kontakt zu anderen ArbeiterInnen aufzunehmen?

Wir haben unsere Flugblätter meist mit dem Vorsatz gemacht: den ArbeiterInnen eine Stimme zu geben - aber: welchen ArbeiterInnen? und: wie geht das in Zeiten der Flaute?

Unter jedes Flugblatt »Für die Revolution« drunter zu schreiben, löst das Dilemma jedenfalls nicht.

Wir müssen mit der Kritik tiefer gehen, um aus dem Verhalten der ArbeiterInnen selbst wieder eine grundsätzliche Systemkritik entwickeln zu können - und um in unseren Flugblättern auch wieder selber vorzukommen!

Diverse Berlin/Potsdamer Flugblatt-AutorInnen


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