Wildcat-Zirkular Nr. 58 - Dezember 2000 - S. 19-23 [z58oilfr.htm]


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Ein innerkapitalistischer Konflikt:

Mittelklasse gegen Großkapital

Henri Simon (Echange et Mouvement) zu den Blockadeaktionen gegen die hohen Benzinpreise in Frankreich

Beunruhigende Kämpfe von LKW-Fahrern gab es im September zunächst in Frankreich und daraufhin in einigen anderen Ländern der EU. Sie blockierten Autobahnen, Hauptstraßen und die Zufahrten zu Raffinierien und Öldepots. In einigen Regionen dieser Länder führte das zu Versorgungsengpässen und zu wirtschaftlichen Beeinträchtigungen. Gleichzeitig wurde damit die Verletzlichkeit der kapitalistischen Wirtschaft aufgezeigt, die eine winzige Minderheit entschlossener Leute zum Stillstand bringen konnte.

Den Anfang nahmen diese Kämpfe gegen die Auswirkungen des steilen Anstiegs der Spritpreise (Diesel und die verschiedenen Sorten Benzin) in Frankreich. Zuerst blockieren die Seeleute die Zufahrten einiger französischer Häfen, doch die Hauptaktion kam kurz hinterher von den Transportunternehmern. Andere Berufsgruppen folgten ihnen bzw. schlossen sich ihnen an, die auch Autos oder Lieferwagen für ihre geschäftlichen Aktivitäten benutzen. Es war die vierte derartige Blockadeaktion in ganz Frankreich in weniger als zehn Jahren: Juni/Juli 1992, November 1996, November 1997 und September 2000. Einerseits weisen diese Aktionen Gemeinsamkeiten auf; z.B. zielen sie darauf ab, den Straßenverkehr (und manchmal auch den auf der Schiene) und damit den Transport von Gütern lahmzulegen, mit schnell einsetzenden drastischen Folgen für die kapitalistische Wirtschaft, besonders seit der allgemeinen Entwicklung von »Just-In-Time«-Produktion und -Distribution. Andererseits unterscheiden sie sich völlig in Hinsicht auf die beteiligten Akteure und deren Forderungen.

Die ersten Blockadeaktionen [1992 - siehe Wildcat Nr. 60] waren eine Reaktion auf die Verschärfung der Strafen für Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung. Diese betraf direkt die LKW-Fahrer (die ihre Arbeit oft nur durchführen können, wenn sie gegen alle möglichen Regeln verstoßen) sowie die Transportunternehmer (zum einen die, die ihren eigenen LKW fahren, zum anderen Firmen, die ihre Fahrer zwingen, bei Verstößen gegen die Verkehrsregeln bis an die Grenze zu gehen). In dieser ersten Reihe von Aktionen konnten wir also sehen, wie sich auf unübliche Weise Lohnarbeiter und alle möglichen Arten von Transportunternehmern in einem gemeinsamen Kampf zusammenschlossen.

Die zweite und dritte Welle von Aktionen [1996 und 1997 - siehe Wildcat-Zirkular Nr. 33] waren klassische Klassenkämpfe von Arbeitern, d.h. angestellten LKW-Fahrern, die auf bessere Arbeitsbedingungen abzielten (bei Löhnen, Arbeitszeit, z.B. Lade- und Entladezeiten, Übernachtungen unterwegs usw., ganz allgemein ging es darum, den Druck durch den Arbeitsrhythmus zu reduzieren). Der zweite Kampf war eine Art wildcat-Streik mit einer starken Kontrolle seitens der Basis. Er endete mit einem Abkommen zwischen den Gewerkschaften, der Regierung und den Verbänden der Bosse, das mehr Versprechen enthielt als wirkliche Errungenschaften. Obwohl die Forderungen nicht alle erfüllt worden waren, endete der Streik mit Verwirrung (das war der Zweck dieses unbefriedigenden Abkommens). Die »Versprechen« wurden dermaßen unzureichend umgesetzt, daß ein weiterer wildcat-Streik kurz vor dem Ausbruch stand. Er wurde durch die Organisation eines wohl kontrollierten Streiks der Gewerkschaften verhindert. Erst der dritte Streik brachte einige Ergebnisse, aber auch sehr widersprüchlich. Die Arbeitsbedingungen der angestellten LKW-Fahrer wurden leicht verbessert, aber sie bleiben sehr hart und an der Grenze der Gesetzesverstösse.

Der letzte, der aktuelle Kampf war ein reiner Transportunternehmerkampf, von großen Firmen bis hin zu individuellen Gewerbetreibenden (die manchmal nur einen einzigen LKW besitzen). Der unmittelbare Grund war der steile Anstieg der Spritpreise (wir werden sehen, daß der Kampf vielleicht auch einen politischen Hintergrund hatte), der das oft schwierige Gleichgewicht eines Gewerbes mit starkem Wettbewerb leicht destabilisierte. Natürlich zielte dieser Kampf darauf ab, die Produktionskosten zu senken und/oder etwas finanzielle Hilfe vom Staat zu bekommen, da 80 Prozent des Spritpreises an das Finanzamt geht (eine etwas widersprüchliche Haltung, da die Transportunternehmer im Straßenverkehr für den »freien Wettbewerb« eintreten und staatliche Regulierungen aufs schärfste bekämpfen). Diese Forderungen gingen alle möglichen Arten von Arbeitern - Lohnarbeitern - nichts an. Ein kleiner Boss, der einen seiner LKW zur Blockade gefahren hatte, konnte damit angeben, »seine« Fahrer arbeiteten für ihn mit seinen anderen LKW, während er an der Barrikade stand, so verliere er kein Geld.

Über diese allgemeinen Erklärungen hinaus müssen wir die Struktur des Straßenverkehrsgewerbes betrachten und im Unterschied zur üblichen Wahrnehmung sehen, daß das Kapital keineswegs homogen ist. Sogar wenn es entsprechend den allgemeinen Tendenzen seiner Gesamtinteressen handelt, kann es innere Konflikte zwischen den verschiedenen Schichten der kapitalistischen Klasse geben. Dies wird offenbar, wenn wir uns die besondere Situation der Transportunternehmer in Frankreich ansehen (die Zahlen sind von 1992, aber daran dürfte sich nicht viel geändert haben). Von 36 000 Transportunternehmern besaßen 42 Prozent (15 000) nur einen LKW, den sie als selbständige Gewerbetreibende selbst fahren; sie stehen für etwa 10 Prozent des Gütertransportmarktes auf der Straße. 44 Prozent (15 600) sind kleine Firmen mit weniger als zehn angestellten Fahrern und halten etwa 17 Prozent des Marktes. 12 Prozent (4300) haben zwischen zehn und fünfzig Beschäftigte und 40 Prozent des Marktes. 1,7 Prozent (612) haben zwischen 50 und 200 Beschäftigte mit 22 Prozent des Marktes, und nur 0,2 Prozent (72) haben mehr als 200 Beschäftigte und 11 Prozent des Marktes. So liegt also die Verteilung des Marktes zwischen Firmen mit mehr und denen mit weniger als zehn Fahrern bei drei Viertel für die größeren Firmen und ein Viertel für die kleinsten.

Es würde zu lange dauern zu erklären, wie diese Spaltungen im Detail funktionieren, aber die unterschiedlichen Interessen dieser verschiedenen Transportunternehmer konkretisieren sich in der Tatsache, daß es zwei Unternehmensverbände gibt. UNOSTRA für die Selbständigen und die kleinen Firmen, FNTR für die größten. Oft stecken die kleinen Transportunternehmen in der Klemme zwischen der Notwendigkeit, Fracht zu bekommen (oft zu jeglichen Bedingungen und damit mit dem geringsten Spielraum bei Preis und Frist) und ihren nicht weiter abzusenkenden Kosten (Rückzahlung hoher Kredite vom Kauf der LKW, Reparaturen, Sprit, Löhne, Steuern). Sind sie selbständig und fahren ihren eigenen LKW, gleichen sie das mit Mehrarbeit aus. Beuten sie Arbeiter aus, so zwingen sie denen, oft unter sehr paternalistischen Bedingungen, dieselbe Mehrarbeit auf. Und beide verletzen andauernd entweder freiwillig oder gezwungenermaßen sämtliche Regulierungen der Arbeitsbedingungen bzw. des Straßenverkehrs. Für einige dieser Transportunternehmer bedeutet dieser starke Anstieg der Spritpreise also den Bankrott. Die großen Transportunternehmen benutzen die kleinen auf widersprüchliche Weise: einerseits schieben sie oft die schlechteren Transporte den Subfirmen zu, andererseits sahnen die kleinen Firmen oder Selbständigen einen Teil der Transporte ab und drücken dadurch auf die Preise. Die großen Firmen könnten versuchen die kleinen loszuwerden, doch sie benutzen sie, um ihre eigenen Fahrer auszubeuten.

Die Probleme mit diesen Mittelklasse-Transportunternehmern sind genau dieselben - mit einigen Besonderheiten - wie bei sehr vielen Selbständigen oder kleinen Firmen: Fischer, Taxis, Rettungswagen, Bauern usw., eine Kategorie etwas marginaler Gewerbe. Sie alle sind oft - obwohl juristisch gesehen »unabhängig« - völlig abhängig von großen Organisationen oder Firmen, die ihnen all die strengen Bedingungen von Subfirmen oder dergleichen aufzwingen. Wenn diese Art Gewerbetreibende vollzählig an den Blockaden teilnahm, ist das kein Zufall.

Ihre Stärke kam für kurze Zeit von den Transportunternehmen, und als die FNTR, der Verband der großen Firmen, die Blockaden auflöste, hatte ihr Radikalismus keine Auswirkungen mehr, und sie mußten ihre Aktionen einstellen.

Das Ende dieser Aktionen zeigt wiederum die eben aufgezeigten Interessensunterschiede zwischen dem großen Kapital und dieser Mittelklasse von Gewerbetreibenden. Die FNTR erreichte ein Abkommen mit der Regierung über den Spritpreis (die Schiffer hatten vorher ein anderes Abkommen erzielt, das die Transportunternehmen mit dazu brachte, ihre Aktionen zu beginnen). Der andere Verband, die UNOSTRA, weigerte sich, das Abkommen anzuerkennen, da es den kleinen Transportunternehmen praktisch nichts brachte. Ihre Position wurde von einigen Mitgliedern der FNTR geteilt, die das Abkommen als Verrat betrachteten. Die Blockaden wurden jedoch aufgehoben, aber nicht sofort, sondern mit Problemen während einiger Tage, als noch andere Kategorien von Gewerbetreibenden (auf dem Bau usw.) der Aktion neues Leben einzuhauchen versuchten (in einigen Städten auf dem Land hatten sie einige Tage lang Erfolg). Der Hauptverband der Bosse MEDEF hatte wegen der Störung der Wirtschaft gegen die Blockaden protestiert, und die FNTR disziplinierte ihre rebellischen Mitglieder, indem sie 15 ihrer Zweigorganisationen in verschiedenen Departements (Verwaltungsdistrikte in Frankreich) auflöste.

Der politische Hintergrund kann auf zwei Ebenen gesehen werden:

All das gilt für Frankreich, das offensichtlich zum Vorbild für andere europäische Länder wurde (England, Deutschland, Belgien, Spanien, Schweden usw.). Alle Regierungen dieser Länder (besonders der Labour-Politiker Tony Blair) beschuldigten die Regierung Frankreichs, »der Straße« nachgegeben zu haben und damit dieselbe Kategorie von Gewerbetreibenden in anderen Ländern ermutigt zu haben, dieselbe Art von Aktion zu starten, um dasselbe zu erreichen. Selbst wenn es hier um eine andere Klasse geht als die Arbeiterklasse, oft um Ausbeuter der Arbeiter, so ist es doch von Bedeutung zu sehen, wie sich solch eine Aktion spontan auf europäischer Ebene verbreitet, ohne Koordinierung durch eine Organisation (und sogar gegen die Verbände der Transportunternehmer). Dies könnte die Tendenz zu einer internationalen Entwicklung der Kämpfe widerspiegeln, die in Zukunft auch in den Kämpfen der Arbeiter zu sehen sein könnte.


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