Wildcat-Zirkular Nr. 64 - Juli 2002 - S. B2-B23 [z64argen.htm]


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Argentinien: Aufstand gegen die Politik

Ein Reisebericht über piqueter@s und asambleas, besetzte Betriebe und betrogene Sparer

Als im Dezember aus Argentinien die Nachrichten von einem Volksaufstand, von gestürzten Regierungen und Versammlungen auf den Straßen kamen, hatten wir den Eindruck, dass dort etwas Neues passiert, das nicht nur für die ArgentinierInnen, sondern für uns alle von Bedeutung sein könnte. Grund genug für eine Argentinien-Beilage zum letzten Zirkular [1], und für eine Reise. Im April bis zum 1. Mai war ich drei Wochen in Buenos Aires und hatte dort die Gelegenheit, mir die Bewegungen, die sich am 19./20. Dezember explosionsartig zu Wort gemeldet haben, aus der Nähe anzusehen. Der April war im Vergleich zu den Vormonaten eine 'ruhige Zeit'. Trotzdem gab es kaum einen Tag ohne Demos, Kundgebungen oder Straßenblockaden: gegen den IWF, gegen Preiserhöhungen, Entlassungen, Zwangsräumungen - für mehr Geld für Gesundheit und Bildung, für die Freiheit aller politischen Gefangenen, Festeinstellungen, Sozialtarife, Palästina, Kuba, undsoweiter. Seit dem 19. Dezember wurden in Argentinien mehr als 2000 cacerolazos [2] gezählt.

Die Mobilisierungen gehen weiter, aber es wäre falsch, von 'der Bewegung' zu sprechen, denn dort sind sehr verschiedene soziale Akteure am Werk. Auf der proletarischen Seite sind das in erster Linie die piqueter@s [3], die Bewegung der arbeitslosen ArbeiterInnen, die sich seit Mitte der 90er Jahre organisieren und immer wieder mit großen Blockaden das Land lahmlegen, sowie die ArbeiterInnen der besetzten Betriebe. Auf der anderen Seite die sogenannte Mittelschicht: sie ist im Dezemberaufstand zum ersten Mal massenhaft auf die Straße gegangen, wo sie die piqueter@s getroffen und gemeinsam mit ihnen die Regierung gestürzt hat. Seitdem organisiert sich die Mittelschicht in Nachbarschaftsversammlungen auf der Straße und probiert Basisdemokratie aus, und 'Betrogene SparerInnen' fordern vor den Banken ihr Geld zurück.

Argentinien hatte das Image eines reichen und 'weissen' Landes - ein Musterland des Neoliberalismus, wo alle von europäischen Einwanderern abstammen und wo eine breite Mittelschicht gut lebt. Auch wir haben den Artikel zum Aufstand mit diesem Bild eingeleitet, das wir inzwischen aber für fragwürdig halten; es dürfte eher dem Selbstbild der meinungsmachenden Schichten entsprechen, als der Realität. Wenn man die Innenstadt von Buenos Aires in Richtung Stadtrand verläßt, sieht das Panorama zunehmend arm und 'lateinamerikanisch' aus (siehe Die Situation der MigrantInnen in Buenos Aires). Bei einer Aktion von piqueter@s, die vor einem Supermarkt am Stadtrand demonstrieren und Lebensmittel fordern, sieht kaum jemand 'europäisch' aus - das Bild könnte ebensogut aus Bolivien stammen - und diese Armut ist auch nicht erst in den letzten Krisenjahren entstanden.

Richtig ist an dem Bild vom reichen Land, dass der Lebensstandard in Argentinien im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern hoch war, und dass es eine breite 'Mittelschicht' gab, d.h. eine breite Schicht von Menschen mit geregelter Arbeit und einem Einkommen, von dem sie halbwegs gut leben konnten, und mit dem sie sich abgesichert fühlten. Diese vermeintliche Sicherheit ist in den letzten Jahren zusammengebrochen. Die Krise bedeutet für die sogenannten Mittelschichten Verarmung, und für die, die schon vorher arm waren, krasse Verelendung.

Die Situation in Argentinien ist kompliziert und widersprüchlich. Das folgende ist mein Versuch, ein wenig Ordnung in das Chaos der vielen und so verschiedenen Eindrücke zu bringen.

 

Der 19. und 20. Dezember -
ein großer gesellschaftlicher Umbruch

»Nichts ist mehr so wie vorher« - dieser Satz, mit dem sie uns seit dem 11. September nerven, hat in Argentinien eine hoffnungsvollere Bedeutung - hier bezieht er sich auf den (Auf)-Bruch des 19. und 20. Dezember, als die Leute trotz Ausnahmezustand auf die Straße gegangen sind und Basta gesagt haben. Alle bekommen leuchtende Augen, wenn sie von diesen Ereignissen berichten. Den langen Schatten der Diktatur wurde mit diesem Aufstand zum ersten Mal massenhaft etwas entgegengesetzt. Denn die »30 000 Gründe, weiter zu kämpfen«, die 30 000 Menschen, die der Staat während der Diktatur 1976-83 verschwinden und ermorden ließ, lasten als Erbe und Warnung schwer. Nach den Kämpfen in den 70ern ist eine ganze Generation von RevolutionärInnen und kämpferischen ArbeiterInnen in der Diktatur buchstäblich ausgerottet worden. Dabei haben viele ängstlich weggeguckt und sich rausgehalten. Die Explosion am 19./20. hat die Angst kollektiv überwunden. Manche sagen, die Diktatur sei erst an diesen Tagen wirklich zuende gegangen.

»Nie wieder Diktatur - Nie wieder: Halt Dich raus»: Seit dem Ausbruch im Dezember ist massenhafte Einmischung angesagt. Bei einer Umfrage Anfang März gab jede/r dritte Befragte im Großraum Buenos Aires [4] an, schonmal an einem cacerolazo oder an einer Nachbarschaftsversammlung teilgenommen zu haben. Bei vielen Aktionen auf der Straße ist großes Selbstvertrauen zu spüren: 'Hier sind wir, ihr kriegt uns nicht mehr weg, ihr müsst mit uns rechnen. Wir wissen jetzt, wie man eine Regierung stürzt, und können das jederzeit wieder tun. Wir lassen uns nicht mehr regieren, wir nehmen die Sache selbst in die Hand.'

»Sie sollen alle abhauen, kein einziger soll bleiben« (Que se vayan todos, que no quede ni un solo) - das ist nach wie vor die Parole, die alle vereint. Damit sind die Politiker gemeint, und auch andere Elendsverwalter wie Gewerkschaftsfunktionäre. Aber was meinen die verschiedenen Beteiligten mit der Parole? Geht es nur darum, das korrupte Politikerpack zu verjagen, das den Staat jahrelang als Selbstbedienungsladen benutzt hat - oder geht es um eine Gesellschaft ohne Staat? Solche Fragen werden in Argentinien zur Zeit nicht in kleinen Zirkeln und Hinterzimmern diskutiert, sondern auf der Straße. Allein in der Hauptstadt soll es etwa 140 asambleas barriales (Nachbarschaftsversammlungen) geben. Die Beteiligung ist im Laufe der Monate zurückgegangen, aber es gibt einen Kern von etwa 8000 Leuten, die jede Woche verschiedenste Themen von den eigenen Belangen bis zur großen Politik diskutieren (und wesentlich mehr Leute, die immer wieder bereit sind, auf die Straße zu gehen). Traditionelle Politik und Vertretung, und alles, was irgendwie danach aussieht, wird rigoros abgelehnt. Stattdessen probieren die Leute aus, wie denn eine wirkliche Basisdemokratie aussehen könnte.

Viele Normen und gesellschaftliche Benimmregeln sind zusammengebrochen. Wer hätte schon gedacht, seine biedere Nachbarin mit dem Kleistereimer in der Hand Plakate gegen die Preiserhöhungen an den Supermarkt kleben zu sehen, oder den elegant gekleideten Innenstadtmenschen, der mit dem Kochtopf auf die Blechfassade einprügelt, hinter der sich neuerdings fast alle Banken verstecken?

Mich hat immer wieder die Selbstverständlichkeit beeindruckt, mit der die Leute Straßen, Plätze und öffentliche Orte erobern. Ein massenhaftes und alltägliches 'Reclaim the Streets' - ohne das so zu nennen oder viel Aufhebens drum zu machen. Viele asambleas finden auf Straßenkreuzungen statt und leiten dafür stundenlang den Verkehr um. Auch kleine Demonstrationen und Kundgebungen bleiben nicht auf den Bürgersteigen, sondern nehmen sich mindestens einen Teil der Straße. Bei Demonstrationen, an denen piqueter@s beteiligt sind, übernehmen diese die Verkehrsregelung und den Schutz der Demo: am Anfang und am Ende geht je eine geschlossene Reihe mit Knüppeln, die sich auch an jeder Straßenkreuzung postieren, damit erst gar kein Autofahrer auf die Idee kommt, in die Demo reinzufahren.

Die Aktionsform der Straßenblockade, von den piqueter@s eingeführt, ist zum Allgemeingut geworden. Ob das arme Familien in den Außenvierteln sind, denen die kostenlosen Milchrationen für die Kinder gestrichen wurden, oder ein paar Kindergärtnerinnen samt Eltern und Kindern, die gegen fehlende Putzmittel und befristete Verträge demonstrieren - alle finden es völlig normal, zur Hauptverkehrszeit mehrspurige Straßen zu sperren. »Was sollen wir denn sonst machen, ein Jahr lang haben wir Eingaben gemacht, und keiner hat auf uns gehört - nach der ersten Blockade letzte Woche ist immerhin schonmal einer von der Stadt vorbeigekommen, um sich die Zustände hier im Kindergarten anzusehen«.

 

ArbeiterInnen unter Gewerkschaftskontrolle

Trotz aller Mobilisierungen ist doch eine Schwäche der Bewegung(en) nicht zu übersehen: Die ArbeiterInnen sind als solche nicht dabei. Sie sind als DemonstrantInnen auf der Straße und beteiligen sich als NachbarInnen an den asambleas. Aber ihre Macht, die kapitalistische Maschine anzuhalten, bringen sie (noch) nicht ins Spiel. Die Bewegung der asambleas ist eine Nach-Feierabend-Bewegung; ihre Aktionen finden vorwiegend spätnachmittags und am Wochenende statt.

In Betrieben, die noch funktionieren, ist es ruhig. Dort haben die ArbeiterInnen Angst, dass auch sie von Entlassung und Arbeitslosigkeit getroffen werden und damit wie so viele andere aus einer Mittelschichtsexistenz in Armut abstürzen könnten. Ausserdem stehen sie unter der Kontrolle der beiden peronistischen Gewerkschaften CGT und CGT-disidente. Die Zeit der gewerkschaftlichen Generalstreiks unter der Regierung De la Rúa scheint nach dem Aufstand und der Regierungsübernahme des Peronisten Duhalde vorbei zu sein. Der Aufruf der CGT-d zu einem landesweiten Streik für den 14. Mai wurde gerade wegen schlechtem Wetter abgesagt! Abgesehen davon, dass diese geniale Begründung sicher noch längere Zeit für böse Bemerkungen herhalten wird, besteht die Vermutung, dass der wahre Grund in irgendwelchen nichtöffentlichen Verhandlungen und Abkommen mit der Regierung zu suchen ist. Die beiden CGTs sind nicht nur reformistisch, korrupt und staatstragend - am 1. Mai gab es keine Straßenmobilisierung der CGT, aber ihr Präsident Daer traf sich demonstrativ mit Staatspräsident Duhalde zum Essen -, sondern auch noch mafiös. Die wenigen Versuche von innergewerkschaftlicher Opposition müssen mit Angriffen rechnen, wie z.B. dem Überfall einer vermummten Prügelgarde der CGT-d auf das Lokal einer Gruppe von nicht linientreuen Taxifahrern.

Streiks finden vor allem im öffentlichen Dienst statt. Die LehrerInnen der Provinz Río Negro streiken wegen verspäteter Lohnzahlungen, ausstehendem Weihnachtsgeld und dem schlechten Zustand der Schulgebäude. Um den Konflikt auszuweiten, blockieren sie am 3. und 4. April nach 60 Tagen Streik gemeinsam mit anderen Staatsbediensteten, den ArbeiterInnen der besetzten Fabrik Zanón, piqueter@s und RentnerInnen zentrale Landstraßen und Brücken. Im April zieht eine Karawane von Angestellten des Bildungswesens aus dem Landesinneren nach Buenos Aires. Ausgangspunkt für die heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die Ende April in mehreren Provinzen stattfinden, sind ebenfalls Mobilisierungen von Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes.

Die Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes (ATE) und der LehrerInnen (CTERA) gehören dem Dachverband CTA an, der vor zehn Jahren als Alternative zur peronistischen CGT gegründet wurde, mit kämpferischer Rhetorik und einem offeneren Organisationsmodell (hier können sich auch Arbeitslosengruppen oder gewerkschaftsuntypische ArbeiterInnen wie Prostituierte organisieren). Aber die Hoffnung auf eine kämpferische Organisation wurde schnell enttäuscht, und mußte spätestens mit der Ablösung der Regierung von Menem (Peronist) durch De La Rúa mit seiner von der CTA unterstützten Alianza begraben werden. Sämtliche ArbeiterInnenkämpfe - wie auch der Streik und die Ausweitungsversuche der LehrerInnen - müssen gegen die Gewerkschaftsführungen durchgesetzt werden, die nur als 'Gewerkschaftsbürokratie' oder kurz als 'die Bürokratie' bezeichnet werden. In einigen Betrieben und Gewerkschaften gibt es oppositionelle Delegierte oder Gruppen, und die Motorradkuriere haben die erste (und bisher einzige) unabhängige Gewerkschaft (SIMeCa) gegründet. Aber die meisten Kämpfe sind Defensivkämpfe gegen Entlassungen oder wegen nicht gezahlter Löhne. Das Ende der Gewerkschaftsbürokratie und der unbefristete Generalstreik sind eine beliebte Parole bei Demonstrationen, die aber von der Realität wohl doch noch ziemlich weit entfernt ist. Im Zentrum der Versuche, sich als ArbeiterInnen unabhängig zu organisieren, stehen die besetzten Fabriken.

 

Brukman und Zanón unter Arbeiterkontrolle

Dem Beispiel der ArbeiterInnen der Keramikfabrik Zanón in der Provinz Neuquén, die schon am 2. Oktober letzten Jahres die Fabrik besetzt haben, folgten am 18. Dezember die Textilarbeiterinnen von Brukman in Buenos Aires. Inzwischen sind noch weitere Betriebe, die vor der Pleite standen und von den Besitzern verlassen wurden, von den ArbeiterInnen besetzt und ans Laufen gebracht worden.

Die Kämpfe sind defensiv. »Wir wollen arbeiten« steht riesengroß an der Brotfabrik Panificación 5, die Mitte April in einem Vorort von Buenos Aires besetzt worden ist. Hier wird nicht das Ende der Ausbeutung gefordert, sondern zunächst nur die Teilnahme an ihr - 'richtige Arbeit' statt der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für lächerliche Unterstützungszahlungen, die der Staat anzubieten hat. Die Fabrikbesetzungen sind in erster Linie Überlebensstrategien in der dramatischen Krisensituation, keine Strategie des Klassenkampfs. Sie könnten jedoch innerhalb der defensiven Situation zu Kristallisationspunkten für neue Ansätze von Kämpfen werden. Die ArbeiterInnen von Zanón und Brukman tun einiges dafür, dass dies passiert.

Bei Brukman, einer Fabrik für Herrenkonfektion mitten in Buenos Aires, haben 115 Arbeiterinnen, überwiegend Frauen gearbeitet. Schon seit Wochen waren nur noch Teile des Lohns bezahlt worden; mal 50 Pesos (damals noch 50 US$, heute etwa ein Drittel), mal aber auch nur fünf pro Woche. Dann wird den Arbeiterinnen gesagt, sie bräuchten nicht mehr zu kommen, weil es keine Arbeit mehr gäbe. Sie organisieren ein Treffen und beschliessen, zwecks Rettung ihrer Arbeitsplätze die Fabrik zu besetzen. Die Besitzer erscheinen und erklären, dass sie kein Geld mehr haben, übergeben den Arbeiterinnen den Schlüssel und machen sich mitsamt Geschäftsleitung und Vorarbeiterinnen aus dem Staub. Zehn Tage lang suchen die Arbeiterinnen per Presse und Ministerium ihre verschwundenen Ausbeuter. Dann machen sie die erste Straßenblockade und beginnen, Produktion und Verkauf selbst zu organisieren. Teilweise beliefern sie die alten Kunden, und daneben verkaufen sie in einem eigenen Laden zu viel niedrigeren Preisen als früher.

Drei bis viermal pro Woche treffen sich die Arbeiterinnen zu einer Versammlung im Betrieb, bei der sie die Arbeit organisieren, die politischen Aufgaben verteilen und alle Entscheidungen treffen. Sie haben eine Kommission von sechs Personen gewählt, die sie nach außen vertritt. 54 Arbeiterinnen machen die Besetzung mit. Alle verdienen jetzt den gleichen Lohn von 150 Pesos pro Woche. Sie sagen, dass sie eigentlich zu wenige sind, um die ganze Arbeit und alle sonstigen Aktivitäten hinzukriegen. Sie versuchen, ihre früheren Kolleginnen, die sich noch nicht trauen, zum Mitmachen zu gewinnen. Platz wäre für bis zu 400 Arbeiterinnen, und zur Erweiterung der Produktpalette schlagen sie gemein-und-nützliche Dinge wie Bettlaken für Krankenhäuser oder Schulkittel vor. Sie wollen den Betrieb nicht selbst - mitsamt der Schulden - als Kooperative übernehmen, sondern fordern die Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle, und wenn der Staat den Laden nicht übernehmen will, dann soll er sie wenigstens einfach da weiterarbeiten lassen.

Die Besetzung fällt genau in die Zeit des Argentinazo und des Entstehens der asambleas. Die Brukman-Arbeiterinnen haben von Anfang an die Unterstützung der Nachbarn und der umliegenden Nachbarschaftsversammlungen. Leute bringen Lebensmittel vorbei; vor dem Betrieb wird unter einer Plane eine Volksküche eingerichtet. Die Arbeiterinnen organisieren selbst Nachtwachen in der Fabrik, die durch UnterstützerInnen vor dem Tor verstärkt werden. Am Samstag, 16. März, räumt die Polizei die wenigen anwesenden Arbeiterinnen mit Gewalt aus der Fabrik, um eine Kontrolle des Inventars durchzuführen. 200 UnterstützerInnen aus verschiedenen asambleas kommen zur Fabrik und erreichen mit einem cacerolazo und mehrstündigen Straßenblockaden, dass die Räumung abgebrochen wird. Auch am nächsten Tag kommen viele Leute zum Schutz der Besetzerinnen vor die Fabrik.

Obwohl die meisten Arbeiterinnen vorher keinerlei politische Erfahrung hatten, haben sie die Besetzung autonom, ohne Gewerkschaft oder Parteien organisiert. Einer der sechs gewählten VertreterInnen war vorher Gewerkschaftsdelegierter in der Fabrik gewesen. Die Arbeiterinnen verlangen von ihm, dass er erst von diesem Posten in der Gewerkschaft, die sie nie unterstützt hat, zurücktritt, um 'frei' zu sein für seine neue Aufgabe. Erst nach zwei Monaten Besetzung, zu einem Treffen der Arbeiterinnen mit dem Ministerium im Februar, läßt sich die Gewerkschaft blicken, um zu beteuern, dass sie auf der Seite der Arbeiterinnen stünde und sie sowieso schon immer unterstützt hätte. Aber da ist es bereits zu spät für diesen Versuch der feindlichen Übernahme - die Brukman-Arbeiterinnen wollen von der Gewerkschaft nichts mehr wissen. Stattdessen nehmen sie Kontakt zu den Arbeitern der besetzten Fabrik Zanón in Neuquén auf. Sie wollen sich nicht darauf beschränken, 'ihre' Betriebe ans Laufen zu bringen und die eigenen Arbeitsplätze zu retten, sondern versuchen, von dieser Basis aus ein Bündnis kämpferischer ArbeiterInnen aufzubauen.

 

... gegen den Waffenstillstand der Gewerkschaftsbürokratie

»Ole, ole, Straßenblockaden und Basisversammlungen, und dann alle auf zum Generalstreik« - ist eines der auf ArbeiterInnen-Demos beliebten Lieder. (Der Sound der Arbeiterklasse und ihrer Trommelgruppen ist übrigens wesentlich besser als das Kochtopfgeklapper der Mittelschicht). Bis zum Generalstreik müssen vermutlich noch einige Demokilometer zurückgelegt werden, und noch versucht nur eine kleine Minderheit, die Arbeitereinheit von unten aufzubauen - aber es sind immerhin beeindruckende Versuche. Am 11. April findet im Rahmen eines vom Bloque Piquetero [5] ausgerufenen landesweiten Aktionstages eine Demo mit 2000 TeilnehmerInnen von Brukman aus zum Arbeitsministerium statt, mit verschiedenen Organisationen von piqueter@s, Transportarbeitern, Lehrerinnen und Unidozenten, Beschäftigten aus Öffentlichem Dienst und Gesundheitsbereich, ein paar Delegierten aus Metall- und Chemiebetrieben, und natürlich den ArbeiterInnen von Brukman und Zanón. Die Demo zieht zum Büro der Firma TyC (Torneos y Competencias), die die Sportzeitung El Gráfico eingestellt und ihre ProduzentInnen entlassen hat. Eine Gruppe der Entlassenen kämpft seit sechs Wochen von außen für ihre Arbeitsplätze und die Weiterführung der Zeitschrift, mit einer Mahnwache vor dem Betrieb und Aktionen gegen die Eigentümer.

Als nächstes trifft die Demo vor der Hauptpost auf eine ebenso große Kundgebung der Postbeschäftigten, die unter Gewerkschaftsregie gegen weitere Entlassungen protestieren (bei der Privatisierung wurde die Zahl der Beschäftigten von 20 000 auf 12 000 reduziert, nun sollen mit der Schließung unrentabler Filialen weitere 1 600 entlassen werden). Diese Demo sieht anders aus: ein Gewirr von weißblauen Nationalflaggen [6], und auf der Tribüne stehen dickbäuchige Funktionärstypen mit Anzug und Krawatte. Eine Gruppe der Kundgebungsteilnehmer kann zwar durchsetzen, dass jemand von der Arbeiter-Demo ein Grußwort spricht, aber zu einer Verbindung der so verschiedenen Mobilisierungen kommt es nicht.

 

ArbeiterInnen-Konferenz auf der Straße

Zwei Tage später, am 13. April findet auf Einladung der ArbeiterInnen von Brukman und Zanón ein 'Treffen zur Verteidigung der besetzten Fabriken' vor der Brukman-Fabrik statt. Zu dem Zweck wird mal wieder die Straße abgesperrt und bestuhlt. 700 Leute debattieren vier Stunden lang über die Zukunft des Klassenkampfs. Es sind fast nur beschäftigte und arbeitslose ArbeiterInnen gekommen, ein ähnliches Spektrum wie auf der Demo, und kaum VertreterInnen von asambleas.

Als Redezeitregel gilt: Leute aus Betrieben sollen es nicht übertreiben, haben aber keine Redezeitbeschränkung; VertreterInnen von Nachbarschaftsversammlungen oder Arbeitslosenorganisationen haben fünf Minuten pro RednerIn, Parteien und Menschenrechtsorganisationen zehn Minuten, aber nur einE RednerIn pro Organisation, und die auch erst am Ende des Treffens. Eine wirkliche Diskussion kommt in diesem großen Rahmen nicht zustande. Es gibt Berichte über betriebliche Konflikte, politische Vorschläge, Aufrufe, Statements und Unmengen von Grußadressen (darunter eine von den Arbeitern der Continental-Reifenfabrik Euzkadi in Mexiko, die seit Anfang Januar streiken und den Betrieb gegen den Abtransport der Maschinerie besetzt halten; persönlich anwesend sind zwei compañeras der besetzten Textilfabrik DYMAC aus Uruguay: »Was wir hier tun hat kein Land und keine Religion; wir Arbeiter sind eine Klasse.«).

Viele RednerInnen sprechen gegen die Gewerkschaftsbürokratie und für den Generalstreik: »Hier wird noch kein Generalstreik rauskommen, aber wir können anfangen, darauf hinzuarbeiten, und wenn wir uns einig sind, 'dass sie alle abhauen sollen', dann müssen wir auch sagen, was wir dafür tun, dass sie wirklich abhauen.« Statt der staatlichen Beschäftigungsmaßnahmen 'Planes Trabajar' [7] werden 'richtige' Arbeitsplätze gefordert und Selbsthilfe durch Besetzungen propagiert: von den 120 000 Arbeitsplätzen, die in Argentinien in den ersten zwei Monaten des Jahres verlorengegangen sind, wurden 5000 durch die ArbeiterInnen gerettet, mit Besetzungen, Kooperativen und Selbstverwaltung. [8] Die Anwesenden beschließen gegenseitige Hilfeleistung: falls eine besetzte Fabrik geräumt werden sollte, soll das als Angriff auf alle von allen beantwortet werden. Eine gemeinsame Streikkasse wird eingerichtet, und der Anfang gleich mit einer Sammlung gemacht, damit die Uruguayerinnen eine Rückfahrkarte kaufen können. Den streikenden LehrerInnen aus Río Negro wird ebenso Unterstützung zugesagt wie den Bahnarbeitern, die zur Verteidigung von Arbeitsplätzen und Löhnen warngestreikt haben. Die Gewerkschaftsführung der Bahnarbeiter wird aber kritisiert, weil sie sich nicht klar gegen eine Fahrpreiserhöhung ausspricht, die die Unternehmer fordern: »Wir können nicht unsere Löhne auf Kosten der Lebenshaltungskosten des ganzen Volkes verteidigen.«

Bei Pepsico Snacks sind im Januar 52 Arbeiterinnen mit befristeten Verträgen nicht verlängert worden. Gewerkschaftsdelegierte im Betrieb haben eine Kampagne für ihre Wiedereinstellung angefangen, was von der Gewerkschaft kritisiert wurde, da die Prekären nicht in ihren Tarifvertrag und ihre Zuständigkeit fallen. Nun sind auch die Delegierten entlassen worden. Anwesend sind auch prekär Beschäftigte ("contratista" = Sklavenhändler) der Stadtverwaltung und der privatisierten Telefónica, die sich organisieren. Arbeitslose Bauarbeiter in der Provinz Jujuy haben das Gewerkschaftsbüro besetzt und sind mit Gewalt geräumt worden. »Der Gewerkschaftsführer Galián ist seit 12 Jahren im Amt, der vertritt nicht uns, der steht zur Regierung... er soll zurücktreten, wir werden weitermachen, bis wir das erreichen, koste es, was es wolle...«

Wichtigster Vorschlag der ArbeiterInnen von Brukman und Zanón ist die Herausgabe einer Arbeiterzeitung. Es reicht nicht aus, dass über die Kämpfe in verschiedenen linken Parteizeitungen berichtet wird. Die eigene Zeitung soll die Erfahrungen unter den ArbeiterInnen verbreiten. Nachdem sie nun schon die Fabriken selbst ans Laufen gebracht haben, haben sie keine Zweifel mehr, dass sie auch selbst eine Zeitung machen und verbreiten können (und manche sagen, dass sie nicht nur die Fabriken, sondern auch das Land selbstverwalten könnten, was aber von zwei Seiten aus bezweifelt wird: die einen meinen, dass sie das noch nicht können, und die anderen, dass sie das gar nicht wollen). Am nächsten Tag findet bei Brukman das erste Redaktionstreffen statt, und am 1. Mai wird die erste Ausgabe von »Unser Kampf - von der Basis aus« vorgestellt. Das Startkapital kommt aus Unikreisen, die Verteilung läuft über die besetzten Betriebe und andere kämpferische ArbeiterInnengruppen. Zur Zeitungsvorstellung und 1. Mai-Kundgebung vor Brukman kommen etwa 2000 Leute. Diesmal sind auch zwanzig asambleas vertreten.

 

Betrogene Sparer: Gebt uns unsere $$$ zurück!

Während ArbeiterInnen und piqueter@s versuchen, den Klassenkampf zu organisieren, fordern die 'Betrogenen Sparer' [9] in der Innenstadt vor der Tür der BankBoston ihre Dollars zurück. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag treffen sie sich hier mit ihren Kochtöpfen zum Demonstrieren. Sie gehören teilweise zur gutsituierten Mittelschicht, die wahrscheinlich gleich wieder ruhig wäre, wenn sie nur ihre Dollars wiederbekommen würde. »Wir sind die clase media, wir schicken unsere Kinder zur Schule, wir zahlen unsere Steuern, und jetzt hat man uns beraubt«, erklären sie, und: »Wir brechen nie die Gesetze, wir sind keine Kriminellen.« Ein Schild erklärt, wie sie die Welt sehen: »Ohne Sparer kein Kredit - ohne Kredit keine Produktion - ohne Produktion keine Nation.«

Aber selbst bei den 'SparerInnen' (und noch mehr bei den asambleas) ist der Begriff Mittelschicht irreführend. Auch hier demonstrieren Menschen, die außer ihrer Arbeitskraft nur ein paar wenige Dollars hatten, an die sie jetzt nicht mehr herankommen - wie z.B. die Frau, die zu einer Art Sprecherin der SparerInnen wurde, nachdem sie bei einem Polizeieinsatz in der Bank besonders schlecht behandelt wurde. Auf Stadtteilversammlungen, bei Demonstrationen und in Talkshows hält sie nun flammende Reden, bis zum Letzten gegen die ganze Schweinebande zu kämpfen. Sie ist 46 Jahre alt, mußte mit sechs Jahren anfangen zu arbeiten, lebt mit ihren vier Kindern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung und hat seit zwei Jahren keine feste Arbeit mehr. Vorher hatte sie einen Kiosk, den sie wegen der Krise und den unbezahlbaren Forderungen der Polizei nach Bestechungsgeldern schließen mußte. Bei der Einführung des corralito hatte sie noch 4500 $ auf der Bank - das magere Ergebnis von vierzig Jahren Arbeit, die ihr nun staatlicherseits vorenthalten werden.

Der corralito [10], das Einfrieren der Bankguthaben, war der Auslöser für die Revolte im Dezember gewesen. Zuerst waren noch Abhebungen von 250 Pesos pro Woche und Überweisungen möglich; später wurden die Konten ganz eingefroren. Reiche Leute haben sich Anwälte genommen, vor dem Verfassungsgericht gegen den corralito geklagt, Recht bekommen und ihr Geld weggescheffelt. Die kleinen Sparer, die sich keine Anwälte leisten können, gingen leer aus. Im April machen sie wieder den Auftakt zu einer größeren Mobilisierung: Der Kongress will am 22.4. den 'Plan Bonex' beschließen, mit dem die eingefrorenen Guthaben in Bons umgewandelt werden sollen, die aber frühestens in fünf Jahren (oder bei Dollar-Bons in zehn Jahren) eingelöst werden können. Die SparerInnen umzingeln den Kongress und bleiben zum Teil die ganze Nacht dort. Am nächsten Tag mobilisieren auch die asambleas und linke Parteien. Tausende kommen zum Kongress und zum außerhalb liegenden Regierungssitz Olivos. »Die Zukunft ist schon da. Chau Präsident, hallo Volk« hat jemand auf die Straße geschrieben. Die Situation ist sehr angespannt. Der Wirtschaftsminister tritt zurück, aber Präsident Duhalde bleibt noch im Amt.

 

Asambleas: Versammlungen auf der Straße

Die wichtigste Neuerung aus dem Dezemberaufstand sind die asambleas barriales, die Stadtteil- oder Nachbarschaftsversammlungen. So spontan wie die ersten cacerolazos entstanden sind - die ersten Topfdeckel werden geschlagen, und dann machen alle mit - haben sich auch die asambleas entwickelt: Ein paar NachbarInnen stellen sich auf der Straße zusammen oder setzen sich auf dem Rückweg von der Demo nochmal auf eine Kreuzung, andere gesellen sich dazu, und schon ist die asamblea und die Diskussion im Gange. Anfangs haben sich hunderte von Leuten an solchen Runden beteiligt, und es herrschte an manchen Orten karnevalsähnliche Fiestastimmung. Mit der Zeit haben sie sich organisiert: feste Tage und Orte einmal pro Woche vereinbart, die Treffpunkte mit Plakaten und an Wänden bekannt gemacht, Lautsprecheranlagen besorgt. Die asambleas finden öffentlich und unter freiem Himmel statt, in Parks oder mitten auf der Straße. Öffentliche Plätze und Straßen für Zusammenkünfte und Diskussionen zu erobern, ist nicht nur Mittel, sondern auch Zweck der Veranstaltung. Nur bei Regen wird die asamblea entweder in einen Raum oder auf den nächsten Abend verlegt.

Am Anfang werden zwei Versammlungsleiter gewählt, die darauf achten, dass alle zu Wort kommen und sich an die Redezeitbeschränkung von drei Minuten halten, sowie ein Protokollant, der sämtliche Vorschläge aufnimmt, damit sie am Ende zur Abstimmung gestellt werden. Diese Leute sollen nur koordinieren und können jederzeit, also noch am selben Abend, wieder abgewählt werden, wenn sie sich nicht an die basisdemokratischen Spielregeln halten. Diese Aufgaben, wie auch die Vertretung der Stadtteilversammlung auf der Interbarrial, dem wöchentlichen Koordinationstreffen aller asambleas, sollen rotieren. Die Versammlungen dauern in der Regel etwa drei Stunden, und der Zeitpunkt für das Ende wird vorher festgelegt, um zu verhindern, dass durch endlose Debatten die NachbarInnen vergrault werden und am Schluß nur die Kader der linken Parteien übrigbleiben. 'Sie sollen alle abhauen' ist bei den asambleas nicht nur eine Parole, sondern wird zum Prinzip der Beziehungen untereinander: alle Verhaltensweisen, die an 'die Politik' erinnnern, werden infrage gestellt, und durch selbstbestimmte basisdemokratische Regeln ersetzt. Die große Mehrheit der TeilnehmerInnen an den asambleas sind Frauen.

Der corralito, die Sperrung der Bankkonten, die im Dezember der Auslöser für die Mittelschicht war, auf die Straße zu gehen, ist in den asambleas kaum noch Thema. Inzwischen geht es um alles Mögliche von Problemen im Stadtteil über soziale Fragen bis zur großen Politik: Ein regelmäßiger Teilnehmer der asamblea und zwei seiner Kollegen von der Telefónica, der privatisierten Telefongesellschaft, sind entlassen worden - die asamblea beschließt, sie bei den Verhandlungen mit den Chefs am nächsten Tag durch eine Protestdelegation zu unterstützen. Mehrere Läden im Viertel fallen durch überteuerte Preise auf - die asamblea macht durch selbstgemachte Plakate darauf aufmerksam. Größere Mobilisierungen werden besprochen: gemeinsame Teilnahme und vorherige Mobilisierung im Stadtteil. Die Menschenrechtskommission der UNO will Kuba eine Rüge erteilen; die argentinische Regierung ist dafür - die asamblea ist dagegen.

'Warum kommen heute weniger Leute zu den asambleas als am Anfang? Was läuft schief, ist da nicht Selbstkritik nötig? Es reicht nicht aus, sich durch e-mails gegenseitig zu informieren - wir sollten mehr Wände bemalen und öffentlich Informationen verbreiten. Und wo ist der Spaß am Widerstand geblieben? Erinnert ihr euch noch an die Tage im Dezember, was da für eine Stimmung hier auf der Straße war? Daran müssen wir anknüpfen!' Gesagt, getan: als die asamblea des benachbarten Stadtteils per Handy anruft, um mitzuteilen, dass sie soeben ein nächtliches cacerolazo aus Protest gegen die geplanten Bankgesetze der Regierung beschlossen haben, ergibt die schnelle Abstimmung eine klare Mehrheit für die Teilnahme. Kurz vor Mitternacht tauchen die Leute aus dem anderen Stadtteil mit ihrem Transparent auf, und die asamblea verwandelt sich in eine singende und tanzende Demo.

 

Kollektive Praxis

In den asambleas entstehen nicht nur Diskussionen und Beschlüsse, sondern auch eine gemeinsame Praxis. Neben den wöchentlichen Treffen auf der Straße arbeiten verschiedene Kommissionen an Vorschlägen und praktischer Vorbereitung, z.B. von Stadtteilfesten oder politischen Veranstaltungen. Als Überlebensstrategie in der Krise betreiben viele asambleas gemeinsame Gemüsegärten, oft auf besetzten Brachgeländen, und organisieren gemeinschaftliche Einkäufe. Manche organisieren solidarische Volksküchen für die Arbeitslosen im Stadtteil. Die Anonymität in den Stadtteilen ist aufgebrochen. Eine Diktatur könnte heute wahrscheinlich nicht mehr so einfach Menschen aus dem Stadtteil abholen und verschwinden lassen, ohne dass sich jemand einmischt ...

Die Energiepreise und Stromabschaltungen wegen nicht bezahlter Rechnungen sind häufiges Thema. Unter der Parole 'Kein Nachbar ohne Strom' organisieren viele asambleas Unterschriftenlisten für Sozialtarife, Aktionen und Bürobesetzungen bei den jeweiligen Büros der Stromerzeuger, und es gibt schöne Beispiele praktischer Selbsthilfe: aus einem Stadtteil wird berichtet, dass die asamblea eine kleine Eingreifgruppe von Klempnern und Elektrikern zusammengestellt hat, die im Fall von Stromabschaltungen auftauchen, um die Anschlüsse wieder anzuklemmen.

Krise und neue Armut haben zu einem enormen Ansteigen der Obdachlosigkeit geführt. Überall in der Stadt sieht man Matratzen und Menschen, die sich auf der Straße einrichten. Viele sind von Zwangsräumungen bedroht, weil sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können, oder in besetzten Wohnungen und Gebäuden leben. Auch hier werden asambleas aktiv, mit rechtlicher und praktischer Unterstützung. Im April haben fünfzig entschlossene Menschen aus einer Piquetero-Organisation und der örtlichen asamblea trotz berittener Polizei mit Hunden den Abbruch einer bereits eingeleiteten Zwangsräumung erreicht, und die Rechtsanwältin konnte danach wieder neue Fristen rausschlagen.

Wie weit die TeilnehmerInnen der asambleas in solche sozialen Konflikte eingreifen, ist je nach Stadtteil sehr unterschiedlich. In reicheren Stadtteilen kümmern sie sich lieber um sich selbst und ihr Eigentum, oder um Proteste gegen Kneipenlärm, oder ähnlich bewegende Themen. Ein großer Unterschied besteht zwischen den asambleas in der Stadt und denen der ärmeren Außenviertel von Gran Buenos Aires. In den Vororten müssen sie mit Angriffen von Schlägerbanden rechnen, die sich aus Fußballfans und peronistisch orientierten (oder von den Peronisten [11] bezahlten) verarmten Jugendlichen rekrutieren. AktivistInnen werden im Stil der Diktatur eingeschüchtert - es gab anonyme Drohungen und Schüsse auf Wohnungen. Im April wird eine 20-jährige aus Quilmes entführt, zwei Stunden in einem Auto festgehalten und mit einer Schußwaffe bedroht; und in Lanús schießt ein Knastwärter aus seinem Auto heraus auf eine Demo von piqueter@s und verletzt einen Demonstranten mit Lungendurchschuß. Bei den Sicherheitskräften in Argentinien sitzt die Waffe locker: seit dem Ende der Diktatur 1983 sind mehr als tausend Jugendliche von der Polizei erschossen worden.

 

Asamblea Interbarrial: Parteilogik gegen Basisorganisierung

Seit dem 13. Januar findet jeden Sonntag im Parque Centenario, dem geografischen Zentrum von Buenos Aires, die Asamblea Interbarrial, das Koordinationstreffen der Stadtteil-Versammlungen statt. Heute sind es nicht mehr 2-3000 TeilnehmerInnen wie am Anfang, sondern eher 5-600. Linke Parteien und Grüppchen haben Stände und Transparente aufgebaut und verteilen Papier, aber nicht bei der Versammlung selbst, sondern auf dem Weg davor. Der Versammlungsort selbst ist nur von Transparenten der asambleas eingerahmt. Um das Mikrofon ist ein Areal abgetrennt, in dem eine Kommission an einem Tisch alle Vorschläge aufnimmt und die Abstimmung am Ende vorbereitet.

Die Interbarrial ist kein Ort der Diskussion. Die VertreterInnen der asambleas tragen Berichte oder Vorschläge aus ihren Stadtteilen vor, nach Rednerliste und Aufruf, ohne aufeinander einzugehen; auch hier mit Redezeitbegrenzung und Abstimmung am Schluß. Die Vielfalt der Themen aus den asambleas findet sich auch hier wieder und führt zu so schönen Statements wie: »Wir verurteilen die Räumung unseres gemeinschaftlichen Gemüsegartens durch die Bahnpolizei und den Angriff Israels auf Palästina«. Die Beiträge sind sehr unterschiedlich, genauso wie die RednerInnen, von denen manche wahrscheinlich vorher noch nie vor einer so großen Versammlung geredet haben. Andere machen eher den Eindruck von Politprofis und sind es leider auch. Obwohl die vielen linken (vor allem trotzkistischen) Splitterparteien als solche nicht auf den Versammlungen auftreten dürfen, sind ihre VertreterInnen als NachbarInnen, als TeilnehmerInnen der asambleas aus den Stadtteilen, anwesend. Und während sie sich an der Basis der Stadtteile noch eher zurückhalten (müssen), wittern sie bei diesem Koordinationstreffen die Chance, Leute zu rekrutieren, Linien durchzudrücken und Politik zu machen. Im Laufe des April haben sie es mit ihren Machtspielchen fast geschafft, diese selbstgeschaffene Koordination kaputt zu machen.

Auf der Interbarrial konnten von Anfang an alle Anwesenden mit abstimmen. Noch Anfang April wird der Vorschlag, dieses Verfahren durch ein System von wechselnden Delegierten mit dem Mandat ihrer asamblea zu ersetzen, weil das demokratischer und repräsentativer wäre, vehement abgelehnt - der Vorschlag riecht zu sehr nach Stellvertretung und der verhassten 'Politik'. Um die Frage, wie der diesjährige 1. Mai begangen werden soll - mit zahl- und endlosen Reden aller Sektoren und Parteien, oder mit einer gemeinsam abgestimmten Rede, aber von wem vorgetragen?? - entstehen im Laufe des April Auseinandersetzungen, die mehrfach zu Schlägereien zwischen Mitgliedern zweier trotzkistischer Parteien auf der Interbarrial führen. Am letzten Sonntag vor dem 1. Mai findet eine aufgeregte Interbarrial statt, mit mehr TeilnehmerInnen als sonst und einem sehr angespannten Diskussionsklima. Diesmal wird der Vorschlag, nach Mandaten abzustimmen, der ausdrücklich mit den hereingetragenen Streitigkeiten zwischen Parteiapparaten begründet wird, mit nur einer Gegenstimme angenommen. Ein Interventionsversuch eines Parteivertreters wird mit lautstarkem Parolengesang beantwortet: 'Respektiert die Mandate, Schluß mit den Apparaten'. Falls sich die Interbarrial von dieser Krise erholt, dann stellt in Zukunft jede asamblea eine/n RednerIn mit einer Stimme; es sollen aber möglichst viele mitkommen, um ihre/n Delegierte/n zu kontrollieren. Der Vorschlag, Mandate nicht pro asamblea, sondern entsprechend der Anzahl der TeilnehmerInnen zu verteilen (manche haben 20, andere 200 TeilnehmerInnen), wurde nicht angenommen, da es zu einfach wäre, die Teilnehmerzahl hochzuspielen, um mehr Mandate zu bekommen.

Wie nach dieser Vorgeschichte zu erwarten, gab es am 1. Mai weder eine gemeinsame Rede, noch eine gemeinsame Kundgebung. In den Tagen davor tauchten immer neue Flyer auf, alle mit der Parole 'Für die Einheit' - und mit immer neuen Ortsangaben. Letzten Endes gab es mindestens drei große und jede Menge kleinere Kundgebungen, Demonstrationen und Feierlichkeiten.

 

Wie weiter?

Die ArgentinierInnen wissen jetzt, wie man eine Regierung stürzt, und alle sagen: 'Sie sollen alle abhauen'. Aber alle sagen auch: die Basisbewegung ist noch nicht weit genug. Damit können sehr unterschiedliche Vorstellungen gemeint sein: von 'nicht weit genug' für eine Macht- oder Regierungsübernahme, bis hin zu Utopien einer anderen Gesellschaft ohne Staat, Macht und Regierung, die die nationalstaatliche Dimension und die Beschränkung auf Argentinien sprengen. Für alle steht aber die bange Frage im Raum, was nach einem Sturz der Regierung Duhalde kommen würde. Eine Militärdiktatur im alten Stil hätte nicht mehr die notwendige Zustimmung, weder national noch international (bzw. von den USA), aber viele sehen die Gefahr eines zivil-militärischen Putsches, wie er gerade in Venezuela versucht wurde. Diese Unsicherheit war am 23. April bei der Mobilisierung zum Kongreß gegen den Plan Bonex deutlich zu spüren: ein möglicher Sturz von Duhalde lag in der Luft; viele sind nicht hingegangen, weil sie das zu früh fanden, und als die Situation nachts zu eskalieren drohte, zogen sich die meisten DemonstrantInnen zurück.

Bei den Basisorganisierungen zeigt sich ein allseitiges Bemühen um Einheit. Schon im Dezember kam die Parole 'piquete und cacerola - ein Kampf' auf. Aber die Welten der verarmten piqueter@s und der versammelten Mittelschichten bleiben getrennte, auch wenn sie sich auf der Plaza de Mayo mit Applaus begrüssen und die Krise viele Menschen über bisherige Trennungslinien hinweg abstürzen lässt.

Die piqueter@s sind zur Zeit (und schon seit Jahren) der kämpferischste Teil und die stärkste Kraft der Arbeiterklasse in Argentinien. Sie haben nachdrücklich bewiesen, dass sie die Zirkulation unterbrechen, Straßen blockieren und das Land lahmlegen können. Aber als arbeitslose ArbeiterInnen haben sie nicht die Macht, in die Produktion einzugreifen. Die ArbeiterInnen selber befinden sich in der widersprüchlichen Situation, dass sie am Abend bei der asamblea alles in Frage stellen, aber am nächsten Morgen wieder zur Arbeit gehen (müssen), wo sie die Regeln der kapitalistischen Ordnung respektieren. Die Arbeit - und damit die Reproduktion der kapitalistischen Verhältnisse - läuft trotz Straßenblockaden und täglicher Demonstrationen weiter. Der kapitalistische Alltag wird an vielen Punkten in Frage gestellt - aber nicht im Betrieb. Bei dieser zentralen Frage bleibt der Horizont auf 'richtiges Arbeiten' beschränkt, auf einen Kapitalismus, der wenigstens funktioniert.

Die Frage, ob sich die Arbeiter als solche zu Wort melden und ihre Macht als Produzenten einsetzen, ist weiterhin unklar. Krise, Deindustrialisierung und Armut erzeugen in den Betrieben ein Klima von Ohnmacht und Defensive. Ausserdem sind die Kontrolle der Gewerkschaften und vor allem der Peronismus bis heute stark, besonders bei denen, die nichts haben. In den Armenvierteln hängen große Bilder von Evita Perón; nicht selten hängen die Idole Evita und Che direkt nebeneinander.

Trotz der breiten Ablehnung von 'Politik' ist die Gefahr, dass die Bewegung doch wieder durch eine parlamentarische Alternative eingefangen oder durch eine 'politische Lösung' kanalisiert wird, nicht ausgeschlossen. Die meisten Politiker können sich auf der Straße nicht blicken lassen, weil sie dort beschimpft, bespuckt und angegriffen werden, aber ein paar linke Abgeordnete gelten als persönlich integer, absolut unkorrupt und politisch korrekt, und die laufen in den Mobilisierungen rum und sammeln Punkte. Der Vorschlag von Trotzkisten, eine 'Verfassungsgebende Versammlung' (Asamblea Constituyente) einzuberufen, würde die Eigeninitiative der bereits existierenden asambleas in die Unterstützung einer politischen Lösung umleiten, und damit zur Institutionalisierung der Bewegung führen. Die Geschichte der Interbarrial, wo politische Machtspielchen reproduziert und die asambleas ausgebremst wurden, läßt da nichts Gutes erwarten.

Aber trotz alledem: den Aufbruch, der seit dem 19./20. in Gang gekommen ist, wird niemand so leicht zurückdrehen können. Die Menschen werden sich nicht wieder von der Straße wegschicken und zu Zuschauern ihrer eigenen Geschichte machen lassen. Die Politik hat abgewirtschaftet, die Krise ist dramatisch und der Kapitalismus hat keine Lösung zu bieten. Es kann jederzeit zu einer weiteren sozialen Explosion kommen. Die Situation ist offen.

A aus K, Ende Mai 2002


Fußnoten:

[1] Beilage zum Wildcat-Zirkular Nr. 63, März 2002: Der Dezemberaufstand und seine Vorgeschichte; Entwicklung des Kapitalismus in Argentinien; Peronismus; Klassenkämpfe von den Anfängen des letzten Jahrhunderts bis zur letzten Militärdiktatur 1976.

[2] cacerolazo: von cacerola - Kochtopf: Demonstration, bei der durch Schlagen auf Kochtöpfe Lärm gemacht wird. Der Aufstand im Dezember fing mit einem spontanen cacerolazo an.

[3] Von piquete - Streikposten. Statt vor Betrieben errichten die Arbeitslosen ihre Streikposten auf den großen Überlandstraßen.

[4] Im Großraum Buenos Aires wohnen 13 Millionen Menschen, etwa ein Drittel der Landesbevölkerung. Buenos Aires wird unterteilt in den inneren Stadtbereich Capital Federal (3 Millionen EinwohnerInnen) und Gran Buenos Aires.

[5] Nach zwei großen landesweiten Versammlungen der piqueter@s im Juli und September 2001 kam es Ende des Jahres zur Spaltung, nachdem die im Gewerkschaftsdachverband CTA organisierten piqueter@s Verhandlungen mit der Regierung aufgenommen hatten. Organisationen von piqueter@s mit trotzkistischer und kommunistischer Tendenz bildeten daraufhin den Bloque Nacional Piquetero. Gewerkschafts- und parteiunabhängige Organisationen von piqueter@s sind in der Coordinadora Aníbal Verón zusammengeschlossen (benannt nach dem Arbeiter, der im Mai 2000 bei einer Demonstration in Mosconi, Provinz Salta, erschossen wurde, was dort zum Aufstand führte).

[6] In diesem Fall war die Beflaggung besonders aufdringlich, aber die Nationalfahne darf auch an den besetzten Betrieben und auf Demos von piqueter@s nicht fehlen. Dort ist auch zu beobachten, wie Menschen, die in diesem Land offensichtlich nicht viel abbekommen, die Baseballkappen abnehmen, um die eigentlich unsingbare Nationalhymne zu singen, oder danach in 'Argentina, Argentina'-Rufe ausbrechen. Ein Ausdruck antiimperialistischer Tradition, wie er in ganz Lateinamerika zu beobachten ist? Oder ein Erbe des peronistischen Nationalismus? Oder der Anspruch auf Zugehörigkeit zu einem 'anderen Argentinien'?

[7] Diese Unterstützungszahlungen für gemeinnützige Arbeiten wurden 1989 nach Plünderungen eingeführt. Es gibt 150 Pesos pro Monat für den Haushaltsvorstand (entsprach früher 150 US-Dollar, jetzt nur noch etwa 50 Dollar). Die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie liegt jedoch zur Zeit bei 550 Pesos. Im Oktober 2001 lebten 14,5 Millionen ArgentinierInnen unter der Armutsgrenze; in diesem Jahr sind nochmal 5,5 Millionen dazugekommen - insgesamt 20 Millionen von 36 Millionen EinwohnerInnen.

[8] Laut Pressemeldungen, zitiert von einem Vertreter von Zanón. 5000 selbstverwaltete Arbeitsplätze klingt nach viel, ist aber gegenüber der Zahl von verlorengegangenen nur ein Bruchteil, und außerdem sind hier sämtliche Formen von Überlebensstrategien mit selbstverwalteter Arbeit, Kooperativen usw. gemeint. Die ArbeiterInnen, die die besetzten Betriebe zum Ausgangspunkt für Organisierung und weitergehende Kämpfe machen wollen, sind eine kleine Minderheit.

[9] Dies steht auf dem Transparent, mit dem sie beim monatlichen großen cacerolazo am 20. April zum ersten Mal als Block auftauchen. Transparente sind in Argentinien meist riesengroß und transportieren nicht Parolen und Forderungen, sondern Identitäten - Partei- oder Gruppenzugehörigkeiten.

[10] corralito - Laufstall für Kinder.

[11] Zum Peronismus siehe Beilage zum Wildcat-Zirkular Nr. 63.


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