02.12.2002 Midnight Notes: Die erste Regel des Friedens ...

Die erste Regel des Friedens:
Respektiere deine Feinde

Ein Essay an die US-amerikanische Antikriegsbewegung

Midnight Notes, P.O.Box 204, Jamaica Plain, MA 02130, USA

www.midnightnotes.org    [Englische Originalfassung]

 

Die Leidenschaften, die die Menschen zum Frieden unter sich geneigt machen können, sind die Furcht überhaupt und insbesondere die Furcht vor einem gewaltsamen Tod; ferner das Verlangen nach den zu einem glücklichen Leben erforderlichen Dingen und endlich die Hoffnung, sich diese durch Anstrengung wirklich zu verschaffen.
Thomas Hobbes, Leviathan (1651) [dt. Reclam, S. 118]

1. Einführung

In den USA ist die Bewegung gegen Interventionen und den Krieg mittlerweile flügge geworden, und sie wird in der nächsten Zeit auch eine Menge zu tun bekommen. Dabei ist die aktuelle Kriegsdrohung gegen den Irak das drängendste Thema für sie. Die Frage lautet: Kann die Antikriegsbewegung ihre Aufgabe effektiv und erfolgreich bewältigen?

An der Abstimmung im Kongreß zeigt sich, dass sie zur Zeit nicht vollständig an den Rand gedrängt ist. Zwischen einem Viertel und einem Drittel der Kongreßabgeordneten stimmten am 9. Oktober gegen eine »Kriegsvollmacht« für George W. Bush. Um aber zum Ausdruck einer Mehrheitsposition in diesem Land [den USA] werden zu können, braucht die Antikriegsbewegung neue Argumente, neuen Respekt (im Sinne von »noch einmal hinschauen«) vor ihren Gegnern, ein tieferes Verständnis dafür, warum sie so handeln, sowie eine realistische Einschätzung ihrer Schwächen. Denn die alten Argumente der Antikriegsbewegung scheinen die Mehrheit der US-Bürger nicht zu überzeugen, und ihre mangelnde Neugier auf die Gegner und deren Denkweise trübt ihren Sinn für Strategie.

2. Stumpfe Argumente

Während der Irakkrieg vorbereitet wird, hat die Antikriegsbewegung der US-Bevölkerung als Begründung ihrer Gegnerschaft zur Position der Bush-Regierung eine Reihe von Argumenten vorgetragen. Hier die zwei wichtigsten: erstens wird eine Invasion im Irak zum Tod von Hunderttausenden unschuldiger Zivilisten führen (neben den Hunderttausenden, die im vergangenen Jahrzehnt direkt oder indirekt durch die Sanktionen getötet wurden), und das ist unmoralisch. Zweitens wird durch eine solche Invasion (selbst mit Zustimmung der UNO) das wichtige Prinzip der nationalen Souveränität verletzt, und dadurch droht die Welt in einen Hobbes'schen »Naturzustand« zurückzufallen, in dem Nationen gegen andere Nationen Krieg führen mit dem Argument, ihnen gefalle nicht, wie die anderen ihre Bevölkerung behandelten. Doch keines dieser Argumente konnte bisher wirklich überzeugen. Warum nicht?

Das erste Argument ist richtig. Es ist wahr, dass ein Angriff der USA auf den Irak unter den Bedingungen heutiger Kriegführung den Tod Tausender unschuldiger Zivilisten zur Folge hätte - besonders angesichts der Art und Weise, wie das US-Militär Krieg führt, damit es nicht zu eigenen Toten durch feindliches Feuer kommt. Es ist ebenfalls wahr, dass diese Todesfälle unmoralisch sind, da es als Kriegsverbrechen gilt, wenn eine Regierung absichtlich Zivilisten umbringt.

Doch richtige Argumente sind nicht notwendigerweise siegreiche Argumente, auch wenn Logiker uns etwas anderes erzählen. Absolut vernünftige Menschen können sich darauf verständigen, dass es unmoralisch ist, unschuldige irakische Zivilisten zu töten. Sie können aber auch zu dem Schluß kommen, dass es noch unmoralischer ist, wenn Saddam Husseins Ba'ath-Partei an der Macht bleibt, da dies vielleicht noch mehr irakische und nicht-irakische Todesopfer (einschließlich US-amerikanischer Zivilisten) fordern könnte. Im Moment sieht es so aus, als ob in den Köpfen vieler moralischer und vernünftiger (und auch unmoralischer und unvernünftiger) Menschen in den USA das letzte Argument das erste aussticht.

Auch das Argumentieren mit der »nationalen Souveränität« wirft Probleme auf. Es ist richtig, dass nationale Souveränität einen wichtigen politischen Wert darstellt, und zwar besonders seit der Entkolonialisierung. Zu Recht haben Regierungen von Ländern der Dritten Welt sich auf dieses Prinzip berufen. Sie wollten damit alte und neue Kolonialmächte kritisieren, die sich immer wieder gerne in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen und zum Nutzen der Imperialisten »Regimewechsel« herbeizuführen versuchten. Sehr wahrscheinlich haben sich viele Menschen in der Antikriegsbewegung schon an Protesten gegen Interventionen der USA, Englands oder Frankreichs in der Dritten Welt beteiligt und sind aufgeschlossen für dieses Argument.

Aber dieselben Menschen sind auch entschiedene Verteidiger der Menschenrechte, was einem absoluten Prinzip der »nationalen Souveränität« widerspricht. Im allgemeinen sind Aktivisten der Antikriegsbewegung keineswegs der Ansicht, dass Regierungen, die die Menschenrechte ihrer Bevölkerung verletzen oder sich darauf vorbereiten, die Menschenrechte von Menschen außerhalb ihres Staatsgebiets zu bedrohen, Souveränität genießen sollten. Jeder Gebrauch dieses Arguments tendiert also dazu, die Bewegung im Innern zu spalten. Im NATO-Kosovo-Krieg und dem Krieg der USA in Afghanistan haben wir das erlebt. Zum Beispiel war die Verteidigung der nationalen Souveränität der Taliban für die Feministinnen in der Antikriegsbewegung sicherlich nicht leicht zu schlucken. Dieses Argument ist also noch schwächer als das erste, da es die Menschen außerhalb der Bewegung nicht überzeugt und die Bewegung von innen heraus spaltet.

Das bedeutet also, dass wir neue Argumente finden müssen, die sowohl die Argumente unserer Gegner stechen als auch die Bewegung nicht von innen spalten. Aber warum ist die Antikriegsbewegung in ihrer Argumentation so unzulänglich geblieben? Unserer Ansicht nach liegt das daran, dass die Antikriegsbewegung keinen Respekt vor ihren Gegnern in der Bush-Administration hat und dass sie die grundlegende Logik, der zu folgen die Regierung bei ihrem Handeln gezwungen ist, bisher nicht wirklich versteht. Sie sieht nur einen Präsidenten, der die Grammatik nicht beherrscht, einen geheimnistuerischen Vizepräsidenten, einen Verteidigungsminister, der sich aufführt wie Dr. Strangelove [1], und eine nationale Sicherheitsberaterin Marke Lady Macbeth. Und daraus zieht sie den Schluß, diese seien lediglich Lakaien einer von der Ölindustrie geschmierten rechten Verschwörung. Der größte Fehler bei jedem Kampf besteht jedoch darin, seine Gegner nicht ernst zu nehmen. Diese Weisheit gilt besonders dann, wenn die andere Seite am Gewinnen ist!

3. Öl, Krieg und Neoliberalismus

Es heißt, 1989 sei der Kommunismus zusammengebrochen, aber viele wenden ein, dass die politische Ökonomie des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg - Keynesianismus - ein Jahrzehnt vor 1989 zusammenbrach und durch ein System ersetzt wurde, das zuerst den Namen Thatcherismus bzw. Reaganismus erhielt und später dann Neoliberalismus und/oder Globalisierung. Dieses System beanspruchte, die grundlegende Institution der modernen Gesellschaft solle der Markt und nicht der Staat sein, und die beste Form aller gesellschaftlichen Beziehungen sei die Warenform. Mit der Auflösung der Sowjetunion und des osteuropäischen sozialistischen Blocks erlebte diese Auffassung vom gesellschaftlichen Leben einen großartigen propagandistischen Triumph. Noch wichtiger, sie setzte (unter dem Namen Strukturanpassungsprogramme) eine bemerkenswerte Verschiebung in der Wirtschaftspolitik der meisten Dritte-Welt-Länder in Gang, die diese für ausländische Investitionen, Zollsenkungen und ungehinderte Geldbewegungen über ihre Grenzen hinweg öffnete. Und schließlich unterminierte sie die Überlebensgarantien (Altersabsicherung, Arbeitslosenunterstützung, Gesundheitsversorgung, kostenlose Ausbildung usw.), die die Arbeiterklasse in Westeuropa und Nordamerika in einem Jahrhundert des Kampfs errungen hatte. (Midnight Notes 1992, Anm.d.Ü. siehe vor allem »Die neuen Enclosures«)

Die frühen neunziger Jahre waren für Neoliberalismus und Globalisierung eine bemerkenswerte Zeit des Triumphs. Nie zuvor war die Wirtschaftspolitik auf dem Planeten so einheitlich gewesen, und Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Welthandelsorganisation (WTO) erhielten die finanzielle und juristische Macht, die Regierungen auf dem Planeten zur Einhaltung der Regeln der neoliberalen Weltwirtschaft zu zwingen.

Bis Juli 1997 schienen die Anhänger dieser politischen Ökonomie unbesiegbar. Dann schlug die »Asienkrise« zu. Seither kam es zu einer atemberaubenden Kehrtwende. Der Neoliberalismus wurde in noch kürzerer Zeit in Frage gestellt als er für seine Triumphe gebraucht hatte. Wir müssen das kürzlich erfolgte Platzen der Börsenblase, die Rezessionen, die Zusammenbrüche von Finanzsystemen, die dramatischen Abwertungen und die Fiaskos der dot.coms hier nicht im Detail ausbreiten. Sie stellen eine internationale Krise des Neoliberalismus und der Globalisierung dar - und das nicht nur, weil der Globalisierungsboom der neunziger Jahre in kürzester Zeit sein Ende im »Verlust« von Billionen Dollars gefunden hatte.

Zunächst deuteten diese Krisenerscheinungen eine ernsthafte ideologische Niederlage an. Denn genau zum Zeitpunkt dieses Zusammenbruchs war eine internationale Anti-Globalisierungs-Bewegung in den großen Städten des Planeten auf die Straße gegangen, um die Institutionen der neoliberalen Ordnung herauszufordern (Yuen et al., 2001). Diese oppositionelle Bewegung, die in der Zeit nach dem Kalten Krieg entstanden war, drückte - insbesondere nach den Anti-WTO-Demonstrationen in Seattle 1999 - eine machtvolle Systemkritik aus, deren Wahrheit sich im Moment des Aussprechens buchstäblich vor den Augen der Welt materialisierte.

Hinzu kam, dass die betrügerische Natur des neoliberalen Kapitalismus sich in den sogenannten Skandalen um Enron, Arthur Anderson, Tyco, WorldCom usw. offenbarte und damit zeigte, dass die Konzernherren, die »Herren der Welt«, das neoliberale Evangelium der Deregulierung als Lizenz verstanden hatten, ihre Arbeiter zu betrügen sowie, weitaus bedenklicher für das System, ihre Investoren.

Gleichermaßen problematisch war die Tatsache, dass dieses neoliberale Regime in den neunziger Jahren nicht in der Lage war, die Löhne und Einkommen eines entscheidenden Teils des US-Proletariats und der »Mittelklassen« in der Dritten Welt zu erhöhen. Oft wird der Neoliberalismus als Ein-Fünftel-Gesellschaft bezeichnet: man müsse nur die Einkommen von mindestens einem Fünftel der Bevölkerung eines Landes oder der Welt dramatisch steigern, dann könne man die restlichen vier Fünftel dazu zwingen mitzumachen. Was an dieser zynischen Weisheit dran ist, sei dahingestellt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde immer offensichtlicher, dass der Neoliberalismus nicht einmal dazu imstande war.

Zwar konnte in den USA 1997 der zwanzigjährige Trend sinkender Löhne umgekehrt werden, und in den folgenden zwei Jahren stiegen die Durchschnittslöhne sogar leicht. Es war das erste Mal seit den sechziger Jahren, dass die Löhne mehrere Jahre hintereinander stiegen (Caffentzis 2001 ##link). Aber im Jahr 2000 kam dieser Anstieg zum Stillstand, und seither stagnieren die Löhne. Ein ähnliches Problem zeigte sich in Afrika, Lateinamerika und nach 1997 in einem großen Teil Asiens (mit Ausnahme Chinas): die »Mittelklassen« wurden dezimiert. Dieses Versagen des Neoliberalismus offenbarte sich besonders im Einfrieren der Bankkonten in Argentinien, das die Einkommenszuwächse des einen Fünftels des dortigen Gesellschaft rückgängig und diese Menschen zu eingeschworenen Feinden des Neoliberalismus machte.

Wenn ein System in die Krise kommt, haben die Strategen der herrschenden Klassen oft etwas anderes in petto. Aber eben nicht immer. Im Falle des Neoliberalismus/der Globalisierung gibt es, zumindest im Moment, kein alternatives System, das sie noch aus dem Ärmel ziehen könnten. Das System muß erhalten werden, sonst ...

Bushs Wahl-Putsch im Jahr 2000 machte deutlich, dass es in der Welt sehr mächtige Kräfte gab (vom Obersten Gerichtshof der USA bis zu den wichtigen Konzernmanagern), die bereit waren, im Herzen des Systems eine illegitime Regierung zu akzeptieren, wenn nur die Gruppe um Bush in die Position gebracht würde, mit der Krise fertig zu werden.

An diesem Punkt sollte die Antikriegsbewegung einen Moment innehalten. Die Regierung Bush kommt nicht in Zeiten an die Macht, in denen das Geschäft ganz normal läuft, sondern inmitten einer Systemkrise, die weit über eine konjunkturelle Delle hinausgeht.

Die Antwort der Bush-Regierung auf die Krise des Liberalismus ist einfach: Krieg. In den achtziger und neunziger Jahren wurde eine ausgefeilte Steuerung des Handels, des Kapitaltranfers und des Geldflusses aufgebaut. Was aber nicht aufgebaut wurde, war eine Institution der Gewaltausübung zur Durchsetzung der Regeln des Neoliberalismus. Die UNO war kein taugliches Instrument für diese Aufgabe, da die wichtigsten Spieler (die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates) keine vereinte Gruppe von Staaten darstellten, die fähig, geschweige denn willens gewesen wären, die Regeln des Neoliberalismus durchzusetzen. Und es erschien auch keine internationale Truppe bewaffneter Männer und Frauen mit weltweitem Gewaltmonopol am Horizont der Geschichte. Bemühungen wie die von Clinton und Gore, eine solche Truppe zu schaffen - eine, die die US-Regierung hinter den Kulissen formaler Gleichheit der beteiligten Nationen kontrollieren könnte - standen für die mächtigste Fraktion der herrschenden Klasse in den USA nicht zur Debatte. Das Mißtrauen gegenüber diesen Versuchen Clintons bildete den Hintergrund für den außerordentlichen Haß, der sich in dem Amtsenthebungsverfahren 1998 und dem Staatsstreich per Wahlen im Jahr 2000 ausdrückte. Man befürchtete, die Clinton-Leute könnten tatsächlich, zumindest auf formaler Ebene, mit einem Federstrich auf die imperiale Rolle der USA im 21. Jahrhundert verzichten.

Anhänger der Regierung Bush beschrieben diese Rolle oft mit einer Analogie zur Rolle des britischen Empire im Weltsystem des 19. Jahrhunderts. Der damalige internationale Goldstandard und Freihandel (damals hieß das Wirtschaftsliberalismus) machten die Hegemonie eines Staates erforderlich, der dafür sorgte, dass die Regeln des Systems befolgt wurden. Dieser Staat war Großbritannien. Ein zentrales ideologisches Problem sowohl des alten als auch des neuen Liberalismus ist seine Selbstdarstellung als ein autonomes, sich selbst regelndes System, was er aber nicht ist. Er benötigt jemanden, der die Ordnung durchsetzt. Denn Individuen und Regierungen, besonders wenn sie sich in einer Krise befinden oder zu den ständigen Verlierern gehören, sind versucht, die Regeln zu brechen. Der einzige Staat, der nach dieser Logik im 21. Jahrhundert die Rolle des britischen Empire spielen könnte, sind die Vereinigten Staaten. (Eine ausführliche Darstellung dieses Arguments findet sich bei Ferguson, 2001; eine Diskussion über die militärischen Aspekte der Rolle der USA in diesem Szenario bei Armstrong, 2002.)

Natürlich ist die Geschichte überdeterminiert (d.h., für die meisten Ereignisse in der Geschichte gibt es eine Vielzahl von Ursachen), und »es ist kein Zufall«, dass der Irak zum ersten größeren Testfall für diese Politik geworden ist. Immerhin ist der Irak Mitglied der OPEC und hat die zweitgrößten bestätigten Ölreserven auf der Welt. Sein Schicksal ist daher für alle von vitalem Interesse, die am Ölgeschäft beteiligt sind. Die Familie Bush, Vizepräsident Cheney und die nationale Sicherheitsberaterin Rice hatten und haben alle sehr enge Verbindungen zum Öl. Sie kennen sich aus mit den Problemen der Ölindustrie und haben Verständnis dafür, dass die Ölkonzerne die Welt gerne wieder so hätten, wie sie war, bevor Anfang der siebziger Jahre weltweit die Ölfelder verstaatlicht wurden. Ein schneller »Regimewechsel« im Irak und die anschließende von den USA durchgesetzte Privatisierung der Ölfelder würde mit Sicherheit dazu beitragen, die Uhr wieder auf die Zeit vor 1970 zurückzudrehen - und das nicht nur im Irak. [Anm.d.Ü.: siehe »Die Rekolonisierung der Ölfelder«]

Die Steigerung der direkten Profite der Ölgesellschaften ist zwar wichtig, aber sie ist nicht der ausschlaggebende Grund, der den Irak zum vorrangigen Objekt der neuen Politik der Bush-Regierung macht. Erdöl und Erdgas sind Waren, die für das Funktionieren der weltweiten Industrie grundlegend sind, von Kunststoffen über Chemikalien, pharmazeutische Produkte und Dünger bis hin zu Brennstoff für Autos und Kraftwerke. Wer diese Ware kontrolliert, ihren Preis und die Profite, die sie hervorbringt, hat einen großen Einfluß auf das gesamte kapitalistische System. Öl ist jedoch eine besondere Ware. Es ist von den Regeln des Neoliberalismus ausgenommen. Die Regeln der WTO gelten nicht für Öl. Und die OPEC, ein selbsternanntes, wenn auch nicht vollständig erfolgreiches Oligopol, wird in einer Zeit toleriert, in der der »freie Markt« die Preise aller Waren bestimmen soll, besonders der grundlegenden. Wie kann es sein, dass die OPEC heute etwa 80 Prozent der »bestätigten Ölreserven« kontrolliert und damit gegen die höheren Regeln des neoliberalen Spiels verstößt? Kein Wunder ist der Neoliberalismus in der Krise.

Diese einzigartige Besonderheit der OPEC wird durch den besonderen Charakter ihrer politischen Hauptfiguren (neben dem irakischen Ba'ath-Regime) noch verstärkt: im Iran die verzweifelten islamischen Geistlichen; in Saudi-Arabien eine herrschende Klasse, die gespalten ist in eine Globalisierungs- und eine Islamismus-Fraktion; in Venezuela die populistische Regierung Chavez; in Ecuador eine beinahe von einer Indígena-Rebellion gefangen genommene Regierung; in Libyen Ghaddafi (muß man noch mehr sagen?); in Algerien eine Regierung, die gerade noch eine islamistische Revolution unterdrücken konnte; und in Nigeria und Indonesien »demokratische« Regierungen mit fraglicher Legitimität, die jeden Augenblick zusammenbrechen können. Aus der Sicht Tausender Kapitalisten, die mittels ihrer Einkäufe an Öl und Gas einen riesigen Anteil »ihres« Mehrwerts an die OPEC-Regierungen abgeben, stellt diese Liste eine »Galerie von Schurkenstaaten« dar. Mit dieser Zusammensetzung ist die OPEC kaum eine Institution zur Versorgung einer neoliberalen Welt mit Energie.

Die OPEC stellte allerdings nicht immer ein politisches oder wirtschaftliches Problem dar. In den sechziger und Anfang der siebziger Jahre war die OPEC eine relativ gefügige Organisation, und die Verstaatlichungen und die Monopolpreise waren noch akzeptable Elemente der anerkannten keynesianischen Tagespolitik. Der Iran war unter der Herrschaft des Schah, die Ba'athisten hatten gerade ihren Nasseristischen Eifer verloren, Ghaddafi stand noch am Anfang seiner Laufbahn, Venezuela war eine zahme Neokolonie, in Indonesien herrschte der Kommunistenkiller Suharto, Nigeria war unter der Kontrolle von General Gowan, und der islamische Fundamentalismus der saudischen Monarchie wurde als altmodische Fassade gesehen, hinter der man Milliarden von »Petrodollars« in die US- und europäischen Ökonomien zurückfließen lassen konnte (Midnight Notes 1992).

Aber das war damals, und heute ist heute. Aus der Sicht der Bush-Regierung muß die OPEC entweder zerstört oder umgewandelt werden, damit die Fundamente einer neoliberalen Welt gelegt werden können, die in der Lage wäre, die Krise zu überwinden und die Energiequellen des Planeten tatsächlich zu kontrollieren. Die Bush-Regierung übt auf die OPEC-Mitglieder allen nur möglichen Druck aus. In Venezuela gab es im April 2002 einen von den USA unterstützten Staatsstreich gegen die Regierung Chavez, den führenden Falken der OPEC-Preispolitik. Er scheiterte. Im August 2002 war Saudi-Arabien dran. Die RAND Corporation gab einen Bericht heraus, nach dem die saudische Monarchie der »wahre Feind« im Nahen Osten sei und man ihr mit Invasion drohen solle, wenn sie nicht damit aufhöre, antiamerikanische und antiisraelische Gruppen zu unterstützen. Im Zuge der Entfaltung ihrer Kriegspläne nahm die Bush-Regierung diese verbale Drohung jedoch zurück.

Der Irak ist sicherlich das schwache Glied in der OPEC. Er verlor zwei Kriege, die er selbst begann. Juristisch gesehen unterliegt er einem strengen Regime von Reparationszahlungen, er kontrolliert seinen Luftraum nicht und kann nicht einmal frei importieren, sondern muß Beamte der UNO jeden einzelnen Gegenstand genehmigen lassen, den er auf dem freien Markt kaufen will. Ideologisch und wirtschaftlich ist er am Boden.

Eine von den USA gesponsorte und dem Neoliberalismus verpflichtete irakische Regierung wäre ganz sicher in einer Position, in der sie die OPEC von innen oder, nach ihrem Austritt, von außen untergraben könnte. Eine solche Transformation würde massive Investitionen im Energiesektor ermöglichen, als Alternative zum spektakulären Scheitern des High-Tech-Sektors, bei dem sich Hunderte Milliarden Dollars in Luft aufgelöst haben. Beim Versuch, die Profitabilität wieder herzustellen, werden die eher »traditionellen« mit Öl verbundenen Sektoren Vorrang erhalten vor den heute so unsicheren Sektoren der Computer- und Biotechnologie.

Es gibt einen weiteren Grund dafür, dass dem Irak die zweifelhafte Ehre widerfährt, der erste Testfall für die Hegemonierolle der USA zu sein: Massenvernichtungswaffen. Saddam Husseins Regime war immer sehr daran interessiert, in die industrielle Entwicklung zu investieren, die in der Vergangenheit auch dazu benutzt wurde, chemische und biologische Waffen zu entwickeln. Diese Waffen sind in den achtziger Jahren im Iran-Irak-Krieg ausgiebig eingesetzt worden. Die Bush-Regierung hat mit Hinblick auf den Irak eine Doktrin aufgestellt, die, falls sie verallgemeinert würde, etwa so aussähe:

  1. Beinahe jeder technologisch fortgeschrittene Produktionsprozeß kann dazu benützt werden, »Massenvernichtungswaffen« herzustellen.
     
  2. Jeder solche Produktionsprozeß, der nicht unmittelbar durch einen Multinationalen Konzern (MNK) mit Hauptsitz in den USA (oder Japan oder Westeuropa) kontrolliert wird, kann von einer Regierung dazu benützt werden, Massenvernichtungswaffen herzustellen.
     
  3. Keine Regierung, die nicht auf einer von der US-Regierung abzusegnenden Liste steht, darf die Kapazität zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen haben.

Daher darf es außerhalb dieser Liste keine Regierung geben, ob demokratisch gewählt oder nicht, deren fortgeschrittene Technologie nicht durch einen akzeptablen MNK kontrolliert wird.

Dieses Argument läuft darauf hinaus, dass die US-Regierung die Rolle übernommen hat, bis in alle Ewigkeit alle Formen industrieller Entwicklung auf der ganzen Welt zu überwachen und dagegen Veto einzulegen. Autonome industrielle Entwicklung seitens irgendeiner Regierung ohne Kontrolle durch einen akzeptierten MNK ist nicht vorgesehen. So wird diese Doktrin des »Kriegs gegen den Terrorismus« zur Grundlage für die militärische Kontrolle der wirtschaftlichen Entwicklungspolitik jeder Regierung auf dem Planeten.

Eine solche Doktrin hat natürlich enorme Konsequenzen, auch wenn sie zunächst nur das Regime von Saddam Hussein betrifft (und alle etwaigen Nachfolger). Denn selbst wenn Saddam Hussein jeglichen Zweifel daran beseitigen könnte, dass es momentan im Irak keine chemischen, biologischen oder atomaren Waffen gibt, würde das der Bush-Doktrin trotzdem nicht genüge tun. Die bloße Existenz von Industriekapazität im Irak, die sich nicht im Eigentum und unter der Kontrolle von MNK befindet und die zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen genutzt werden könnte, verletzt diese Doktrin.

Diese Doktrin zeigt, dass sich der Kampf, der sich jetzt um den Irak entfaltet, nicht nur um Öl dreht. Es geht vielmehr um die Form der weltweiten industriellen Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten. Die Kombination der Wiederherstellung der auf Öl beruhenden Akkumulation mit der Durchsetzung der Bush-Doktrin zur weltweiten industriellen Entwicklung stellt sicher, dass unsere »Speckgürtel-Benzin-Pendler«-Lebensweise in den USA (und zunehmend in Westeuropa) zu endlosen Kriegen führen wird.

4. Eine Anti-Kriegs-Strategie

Angesichts der Überdeterminiertheit der augenblicklichen Lage muß eine Antikriegsbewegung nach Argumenten und Verbündeten suchen, die sich nicht nur mit dem Irak befassen, sondern ihre Aufmerksamkeit auf die Politik der Bush-Regierung als Ganzes richten. Wo liegen ihre Schwächen? Es gibt sie auf zwei Ebenen: Geld und Menschen, und beide haben mit dem Militär zu tun.

Es ist nicht abzusehen, wieviele Regionen der Welt in den nächsten Jahren dermaßen in die Krise getrieben werden, in eine chronisch so schlechte und unhaltbare Lage, dass die Menschen in diesen Regionen versucht sein werden, die Regeln des neoliberalen Spiels zu brechen. Die Bush-Regierung war daher sorgfältig darauf bedacht, den Eindruck zu vermeiden, die USA seien die militärische Kraft zur Rettung des Neoliberalismus in letzter Sekunde. Statt die Regelverletzer mittels der Begriffe der neoliberalen Ökonomie zu orten, werden sie als Bedrohung für die Sicherheit der US-Bürger präsentiert. Die USA benennen ihre Feinde, indem sie moralische Kategorien benutzen wie »böse« [evil], »entartet« [rogue], »terroristisch« [terrorist] und »gescheitert« [failed].

Gemäß der politischen Kriminologie aus den Reden von Bush und seinen Beratern gibt es verschiedene Typen und Kategorien von Feinden. Zunächst sind da die Staaten der »Achse des Bösen« Irak, Iran und Nordkorea sowie die »entarteten Staaten« [gemeinhin übersetzt mit »Schurkenstaaten«; in »rogue« schwingt aber die Entartung, das Mißraten oder auch Einzelgängertum mit, was gerade in D. nach 1945 und 1989 noch mal extra zu denken gibt; d.Ü.] wie Kuba, Libyen und früher der Sudan. Die Kategorie der »gescheiterten« Staaten mit Sierra Leone und Somalia ist sehr offen, da viel davon abhängt, wie man »gescheitert« definiert. Ist zum Beispiel Haiti oder Argentinien jetzt ein »gescheiterter Staat«? Schließlich gibt es die nicht genau benannten »vierzig oder fünfzig Staaten«, die (mehr oder weniger aktiv) internationalen Terroristen Unterschlupf gewähren. Diese Definition des Feindes im endlosen Krieg gegen »Terrorismus« und Staaten mit einem Potential zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen ist offen und kann über ein Drittel der Nationalstaaten auf diesem Planeten umfassen.

Beim Kommunismus war es relativ klar, was den Feind ausmachte. Es waren Staaten, die von einer Kommunistischen Partei regiert wurden, und man konnte den Finanzbedarf im Fall eines Konflikts berechnen. Während das oben skizzierte Projekt der Bush-Regierung einen bedeutenden Anstieg der Investitionen ins Militär erfordert, machen es die Unwägbarkeiten der neoliberalen Ordnung aber unmöglich vorauszusagen, wie groß diese Steigerung sein muß.

Im Moment sind im Haushalt 2003 für das Militär 372 Milliarden Dollar vorgesehen. Das bedeutet, dass die USA real zum Zehnjahresdurchschnitt von 370 Mrd. der Reagan-Bush-Zeit (1982-1991) zurückgekehrt sind (O'Hanlon, 2002:2). Doch wie hoch wird das Militärbudget für 2007 ausfallen? Im Moment sind dafür 406 Mrd. Dollar vorgesehen (in Dollars von 2002) (O'Hanlon, 2002:2). Aber wie sollen wir eine Fünf-Jahres-Projektion ernst nehmen, die von so vagen Variablen wie »gescheiterten Staaten«, »entarteten Staaten« usw. abhängt - oder, in unserer Lesart, von jenen Staaten und Völkern, die aus Notwendigkeit oder Lust mit den Regeln der neoliberalen Ordnung gebrochen haben.

Diese Unsicherheit stellt eine grundlegende Schwäche der Politik der Bush-Regierung dar. Ohne Zweifel gibt es die Möglichkeit, dass der Irak geplündert wird, indem man seine Ölfelder erobert und damit die Kosten des Abenteuers bezahlt. Vielleicht war es die Möglichkeit einer solchen Plünderung, die viele Menschen in den USA davon überzeugt hat, eine Invasion sei akzeptabel. Aber bei den meisten zukünftigen Anwendungsfällen der Doktrin wird eine solche Plünderung nicht möglich sein. Als Folge werden die Zukunft der Ausbildung, der sozialen Absicherung, der Gesundheitsversorgung, der Landwirtschaft und der Ökologie zu Geiseln der nach oben offenen Anforderungen der Vormacht-Rolle. Da werden viele nicht mitmachen wollen.

Die zweite Schwäche der Politik der Bush-Regierung liegt in der Annahme, dass die US-Soldaten in den kommenden Kriegen des Neoliberalismus keine Verluste erleiden werden. Diese Annahme ist Teil des Gesellschaftsvertrags, der dem Leben in den USA heute zugrunde liegt - wenn wir auf fremdem Boden Krieg führen, wirst du dort nicht sterben -, und wird oft auch »Vietnam-Syndrom« genannt. Das war einer der eigenartigsten Siege der US-Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert. Nach dem Ende des Kalten Kriegs über eine Viertel Million Soldaten außerhalb des US-Territoriums stationiert zu haben, war nur möglich, weil die Regierung ihren Teil des Vertrags einhielt (O'Hanlon, 2002:8). Seit 1989 wurden in Panama, während des Golfkriegs, in Somalia, Haiti, im Kosovo und in Afghanistan nur wenige US-Truppen durch Feindfeuer getötet, denn meist wurden nur wenige direkt feindlichem Feuer ausgesetzt.

Wir befinden uns heute offensichtlich in einer Zeit, die der Zeit des Imperialismus und des Kampfs um Afrika Ende des 19. Jahrhunderts ähnelt, als europäische Armeen mit Maschinengewehren, weitreichender Artillerie und Kanonenbooten die Flüsse hinauffahren konnten, schlecht bewaffnete Völker in Afrika, Ozeanien und Asien angriffen, sie hinmetzelten und ihre Länder beinahe ohne eigene Verluste eroberten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die kolonisierten Rebellen eine Art technologischer und strategischer »Parität« mit den Kolonialmächten erreichen, wie wir an den zwei Vietnam-Kriegen um Unabhängigkeit (erst von den Franzosen, dann von den USA) sehen können. Heute ist das US-Militär seinen Gegnern technologisch dermaßen überlegen, dass es seine Aktivitäten ohne Verluste durch feindliches Feuer durchführen kann, solange es kein bestimmtes Territorium besetzen muß. Aber genau das werden die US-Truppen tun müssen, um die »Regimewechsel« herbeizuführen, die die Außenpolitik der USA erfordern. Dass auch die bestausgerüsteten Armeen der Welt eine regelmäßige Verlustziffer erdulden müssen, wenn sie eine feindliche Bevölkerung besetzen, sollte uns das Beispiel der palästinensischen Revolte gegen die israelische Besetzung lehren.

Das Schicksal Tausender von US-Golfkriegsveteranen, die von ihrer eigenen Armee chronisch krank gemacht wurden, weist auf einen anderen Aspekt von Kriegsopfern hin: Eine Militärmaschine, die beim Feind keine Gefangenen macht, verursacht unvermeidlich Tote unter den eigenen Soldaten. Der Grund dafür ist recht einfach. Um sich gegen einen Angriff des Feinds zu schützen, kann man ihn entweder vorwegnehmen oder in extrem kurzer Zeit auf ihn reagieren. Wenn man sie ins Extrem treibt, können beide Optionen zu eigenen Verlusten führen.

Die Aktionen, die zur Vorbereitung auf zukünftige Bedrohungen notwendig sind, führen schließlich zu einer Logik, die ein kleines Risiko eigener Verluste in Kauf nimmt, um einem Schlag des Gegners entgegentreten zu können. Doch die Vorwegnahme möglicher Bedrohungen führt zur Vervielfachung der vorwegnehmenden Handlungen. Folglich werden sich die kleinen, einzelnen Risiken der Vorwegnahme vervielfältigen, bis eigene Verluste zur Gewißheit werden. So führen Impfungen zum Schutz vor Angriffen mit Biowaffen zum Tod von eigenen Soldaten usw.. Oder wenn die Zeit zur Reaktion auf eine Bedrohung durch den Feind auf ein Minimum reduziert werden muß, dann ist die Fähigkeit zur Feststellung der wahren Identität oder Quelle der wahrgenommenen Bedrohung um dasselbe Maß reduziert. Dies führt unvermeidlich zu Verlusten durch »friendly fire«. Die Militärmaschine wird vielleicht zum größten Feind der eigenen Truppen, wenn sich die Bedrohungen vervielfältigen und die Reaktionszeit weiter verkürzt wird.

Die neue Vormachtrolle der USA im Krieg für Neoliberalismus und Globalisierung wird aus diesem Grund die Annahme in Frage stellen, dass die US-Truppen ohne eigene Verluste bleiben werden. Um garantieren zu können, dass die Ölfelder privatisiert werden und ein »Regimewechsel« zur Auflösung oder Umwandlung der OPEC führt, muß das US-Militär den Irak für lange Zeit besetzen. Darüberhinaus kann die Aktion einer Militärmaschine unter der Powell-Doktrin der »Übermacht« [overwhelming force] zum größten Feind ihrer eigenen Truppen werden. Es sind diese Faktoren, und nicht die Invasion selbst, die zu größeren Verlusten unter den US-Soldaten führen werden und damit zu einer Verletzung des Gesellschaftsvertrags, der »keine eigenen Verluste« vorsieht. Die Antikriegsbewegung muß die US-Arbeiterklasse klar und deutlich vor dieser Gefahr warnen.

Besorgniserregender als diese Gefahr ist die zunehmende Verletzung vertraglich abgesicherter Rechte der Arbeiter, die unvermeidlich die ersten Opfer dieser Militarisierung sein werden. Dieser Trend begann in der Zeit von Reagan und verstärkte sich unter der Clinton-Regierung (Caffentzis, 2001). Oft nennt man diesen Trend schönfärberisch eine »Krise der bürgerlichen Freiheiten«. Aber wenn wir uns den Anstieg der Gefangenenzahlen in den Knästen, den Angriff auf Habeas Corpus [gemeint ist das Recht auf Haftprüfung durch ein »unabhängiges Gericht«], das Ende der Sozialhilfe und die drakonischen Änderungen bei der Einwanderungspolitik ansehen, dann sehen wir, dass in den USA in den achtziger und neunziger Jahren eine neue Ära von Halbsklavenarbeit ohne Vertrag eingeführt wurde. Dieser Trend wurde von der Bush-Regierung gestärkt, indem sie unter dem Etikett »Krieg gegen den Terrorismus« die vertraglich abgesicherten Rechte der Arbeiter angriff. Die Massenverhaftungen nach dem 11. September ohne Anklage, die Verweigerung rechtlichen Beistands oder einer Haftprüfung für »terroristische Gefangene«, die Anwendung von Taft-Hartley [Gesetz von 1947 zur Regelung der Arbeitsbeziehungen in den USA, das u.a. der Regierung erlaubt, im Fall von Arbeitskämpfen eine 80tägige »Abkühlungs«-Frist zu verhängen] auf die Hafenarbeiter an der Westküste und vieles mehr zeigen die Richtung, die die Bush-Regierung einschlägt: die extreme Einschränkung vertraglicher Freiheiten.

Unvermeidlich wird mit dieser Einschränkung von Rechten ein Anstieg von Krankheits- und Todesfällen unter US-Bürgern einhergehen. Als Ausgleich für die Kriegskosten und die Steuersenkungen wird alles vom Zugang zur Gesundheitsversorgung über Arbeitssicherheit und Umweltschutz bis zur Intervention gegen Umweltverseuchung reduziert oder sogar gestrichen werden. Obwohl die US-Medien bereits gezähmt sind, werden diese Fakten mit zunehmender Regelmäßigkeit abgedruckt. Die Todesfälle, die unvermeidlich daraus erwachsen werden, sollten als Kriegsverluste gezählt werden.

Wir sind der Meinung, die Antikriegsbewegung sollte betonen, dass die Invasion im Irak Teil einer allgemeinen Strategie eines endlosen Kriegs ist, der Leben, Freiheit und Eigentum der US-Bevölkerung aufs Spiel setzt, um ein Wirtschaftssystem zu sichern, das sich weiter in einer tiefen Krise befinden wird. Wir denken, wenn diese politische Richtung eingeschlagen wird, können wir die Grundlagen für eine wirkliche Veränderung der politischen Debatte und Stimmung in diesem Land legen. (Und damit wir uns nicht mißverstehen: die Antikriegsbewegung sollte sich immer darum bemühen, die US-Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen, dass dieser endlose Krieg zur Erhaltung des Kapitalismus rund um die Welt zahllose Opfer fordern wird.)

5. Schluß: Keine Angst!

Die Politik der Bush-Regierung ist kein Produkt von Spinnern. Sondern sie ist ein verzweifelter Versuch, mit militärischen Mitteln ein Weltwirtschaftssystem zu retten, das zum Scheitern verurteilt ist. Viele Menschen in Süd- und Mittelamerika, Afrika und Asien haben keine Hoffnung mehr, für sich selbst einen Platz in diesem System zu finden, und versuchen, sich eine Lebensgrundlage außerhalb der Grenzen des Neoliberalismus zu schaffen. Dasselbe droht hier in den USA zu geschehen. Es ist diese Möglichkeit und nicht die Umtriebe von El Kaida oder Saddam Hussein, die der Bush-Regierung schlaflose Nächte bereitet.

Und jetzt ist es an der Zeit, von der Weisheit eines feindlichen Philosophen zu lernen, von Thomas Hobbes, dem Verteidiger des absoluten Staates. In dem einleitenden Zitat verortet Hobbes die Quelle des Friedens in drei Leidenschaften: der Furcht, dem Verlangen und der Hoffnung. Die Furcht hat die Bush-Regierung effektiv genutzt, um jede Opposition zu ersticken. Zu Recht behauptet sie, das erste Menschenrecht sei jenes, nicht getötet zu werden. Sie forderte eine Vollmacht, dieses Recht zu verteidigen und der Welt durch das Schwert Frieden zu bringen. Bush bezog sich oft auf die Asche der Türme des World Trade Centers, um die »Kriegsvollmacht gegen den Irak« zu bekommen, denn diese Furcht ist real. Dass die Sprecher der Bush-Regierung jedoch die anderen Leidenschaften, die zum Frieden führen - Verlangen und Hoffnung - vergessen haben, ist kein Zufall.

Sie wissen, dass sie noch nicht einmal rhetorisch an diese Leidenschaften appellieren können, ohne Gelächter auf dem ganzen Planeten auszulösen. So bankrott ist ihr Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Und das ist die größte Schwäche der Bush-Regierung: sie kann nicht allein auf der Grundlage der Furcht vor dem Tod gewinnen.

Deswegen kann sich unsere Bewegung nicht so mit der Bush-Regierung auseinandersetzen, dass sie Furcht gegen Furcht setzt oder gar die Furcht verstärkt, auf die die Regierung setzt. In diesem Spiel können wir sie nicht schlagen. Natürlich ist es unsere Pflicht als Bürger, Fehler und Übertreibungen der Bürokratie zu kritisieren, die Menschen in den USA oder im Ausland gefährden, sowie, soweit wir brauchbare Beweise haben, vergangene, gegenwärtige und auch zukünftige Verbindungen der US-Regierung mit El Kaida und Saddam Husseins Regime aufzuzeigen. Doch solange es uns nicht gelingt, die anderen Leidenschaften zum Frieden anzusprechen, sind wir genauso bankrott wie die Bush-Regierung und ihre Anhänger.

Deshalb sollte die Antikriegsbewegung das Verlangen und die Hoffnungen der US-Bevölkerung ansprechen, von allgemeiner Gesundheitsversorgung bis zu einer gesunden Umwelt. Genauso müssen wir auch die Forderungen der Anti-Globalisierungsbewegung der neunziger Jahre in unsere Demonstrationen, Foren und Programme hineintragen, und ganz besonders die Weisheit der Parole »Dieser Planet steht nicht zum Verkauf«, anders gesagt: Schluß mit der Privatisierung der Geschenke dieses Planeten und seiner Geschichte. Die Einzelheiten könne wir gerne ausarbeiten, im Moment kommt es auf die Gesamtausrichtung an.

Am Schluß noch ein geschichtliches Beispiel zur Unterstützung unserer These: Die effektivste Antwort auf die Drohung mit dem nuklearem Schrecken in den fünfziger Jahren war nicht die Anti-Atom-Bewegung, sondern die schwarze Revolution in den USA und die weltweite antikoloniale Bewegung. Schwarze in den USA und Kolonisierte im Rest der Welt stellten klar, dass B52-Bomber und Wasserstoffbomben nicht zu ihrer Befreiung beitrugen und dass sie keinen Bock hatten zu warten. Sie erklärten, ihre Befreiung als Bürger sei eine Grundbedingung für »das Verlangen nach den zu einem glücklichen Leben erforderlichen Dingen und endlich die Hoffnung, sich diese durch Anstrengung wirklich zu verschaffen.« Und nur das könne zu Frieden führen. Und tatsächlich liegt die Ursache der meisten Kriege der letzten zwanzig Jahre darin, dass dieses Verlangen und diese Hoffnungen mit der Aufzwingung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung durchkreuzt wurden.


Bibliographie:

Armstrong, David. 2002. Dick Cheney's Song of America. Harper's Magazine (Oktober): 76-83.

Caffentzis, George. 2001. From Capitalist Crisis to Proletarian Slavery: An Introduction to the U.S. Class Struggle, 1973-1998. In (Midnight Notes 2001).

Ferguson, Niall. 2001. The Cash Nexus: Money and Power in the Modern World 1700-2000. New York: Basic Books.

Midnight Notes. 1992. Midnight Oil: Work Energy War, 1973-1992. New York: Autonomodia. [auf deutsch sind die Beiträge aus Midnight Oil in TheKla 10 Zerowork, TheKla 12 Arbeit, Entropie, Apokalypse, TheKla 14 Ölwechsel und TheKla 17 Midnight Oil. Arbeit, Energie, Krieg erschienen, die meisten sind noch lieferbar. Im Wildcat-Archiv: »Die neuen Enclosures« und »Die Rekolonisierung der Ölfelder«]

O'Hanlon, Michael E. 2002. Defense Policy Choices for the Bush Administration. Second Edition. Washington, D.C.: Brookings Institution Press.

Yuen, Eddie, et al. 2001. The Battle of Seattle: The New Challenge to Capitalist Globalization. New York: Soft Skull Press.


Fußnote:

[1] Anm.d.Ü.: Der Protagonist in dem Anti-Kriegs-Film von Stanley Kubrick «Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben«.

 

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