Wildcat-Zirkular Nr. 16 - Juni 1995 - S. 19 [z16mai45.htm]


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Stimmen zum 8. Mai aus dem Ausland

Im Folgenden dokumentieren wir ein Flugblatt der englisch/amerikanischen Wildcat-Gruppe , sowie einen Text aus den USA von Workers World. Mit beiden Texten können wir nicht widerspruchslos übereinstimmen, aber gerade im Zusammenhang mit dem 8. Mai finden wir es wichtig, über den eigenen »nationalen« Tellerrand hinauszublicken. Sonst fällt leicht unter den Tisch, in welcher Konfrontation Proletariat und Arbeiterklasse zu ihren eigenen Staaten stand, während diese »die Welt vom Faschismus befreiten« und damit ein »Zeitalter der Vernunft« (Major in Berlin) einläuteten. Ebenso wird damit unterschlagen, daß Freiheit, Demokratie und Vernunft nur in den westlichen Industriestaaten zur Anwendung kommen sollten. Als z.B. das Proletariat in vielen afrikanischen Ländern - von dem zigtausende als Kanonenfutter von ihren Kolonialherren in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen worden waren - den »Sieg der Freiheit« wörtlich nahm und meinte, nun auch das Joch ihrer Herren abschütteln zu können, wurden sie schnell und blutig daran erinnert, daß ihre »Befreiung« nicht gemeint war. In den eurozentristischen Sichtweisen der deutschen »anti-deutschen« wird dies gerne vergessen. (Die Geschichte der Teilnahme afrikanischer Soldaten am Zweiten Weltkrieg und den Aufständen nach dem Ende des Krieges ist bisher auch in der Geschichtsschreibung kaum beleuchtet worden. Wir wollen für die nächsten Zirkulare einige Informationen dazu zusammenstellen.) Dieser Blindheit ist allerdings nur konsequent, weil schon die falsche Unterstellung zum Ausgangspunkt genommen wird, Kriegsziel der Westalliierten oder der SU sei die Zerschlagung des Faschismus gewesen. Auf diese Weise entwickelt dann eine Linke, die sich vor einigen Jahren noch militant gegen jede Rüstungspolitik und Kriegstreiberei zur Wehr setzte, schleichend eine Vorstellung vom »gerechten Krieg« und es gehört mittlerweile zum guten Ton, sich bei Soldaten bedanken zu müssen. (Zur Vorstellung vom gerechten Krieg siehe den Artikel von Ekkart Krippendorff »Einen gerechten Krieg gibt es nicht« in der taz vom 8.5.95, der zeigt, daß es im Zweiten Weltkrieg nicht um die »Befreiung vom Faschismus«, sondern um Machtpolitik ging.) Diese schleichende Entwicklung hat schon bei der inner-linken Debatte um den Golf-Krieg und um Jugoslawien begonnen. Wir können den zunehmenden Ruf nach »gerechten Kriegen« - haben die USA ihn in Haiti nicht schön vorgeführt? - nur als Ausdruck erschreckender Ohnmachtgefühle verstehen, genauso wie die wieder zunehmende Hoffnung auf den Staat als den Organisator der Menschlichkeit (z.B. die Forderung nach mehr Staatsgewalt gegen Nazis, die zunehmende Beteiligung an den Wahlen bei der letzten Bundestagswahl). Heute fällt es leicht, den »Verrat« der Sozialdemokratie bei der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 zu brandmarken. Vergessen wird dabei, daß es dieselbe Logik eines »gerechten Krieges« - nämlich gegen die brutale zaristische Diktatur in Rußland - war, mit der die Sozialdemokratie ihre Entscheidung verkaufen konnten. Wenn heute Linke und sogar Autonome den alliierten Soldaten nachträglich ihren »Dank« aussprechen, müssen wir uns fragen, gegen wen wohl der nächste »gerechte Krieg« geführt werden darf ...

Nun zu den beiden Texten. Mit Wildcat aus London haben wir zwar den Namen, nicht aber die Organisation gemeinsam (im Zirkular Nr. 1 haben wir schon einmal einen Text von ihnen übersetzt, zu Somalia). Das hier abgedruckte Flugblatt ist für Leute in Großbritannien geschrieben und bezieht sich auf die dortigen Diskussionen. Schon deshalb ist es nicht unmittelbar für die Diskussionen hier zu verwenden. Einige pauschale Formulierungen (daß sich die »reichen Juden« der Vernichtung hätten entziehen können, was einfach falsch ist, oder das allgemeine Gerede von »zionistischer Propaganda«) laden - gerade in der hierzulande geführten Debatte - dazu ein, den Text ebenso pauschal zu verurteilen. Innerhalb des Zirkularkreises gab es daher einige Bedenken gegen die Dokumentation des Flugblatts. Ich sehe in dem Text, dem in seiner Kürze an vielen Stellen historische Oberflächlichkeit vorgeworfen werden könnte (was genauso für den Text von Workers World gilt), aber eine wichtigen Beitrag zu der Debatte um »Anti-Faschismus«. Unter den Vorzeichen von »political correctness« scheint es oft mehr darauf anzukommen, wer etwas sagt, als was er sagt. Würden wir z.B. ähnliche Aussagen und Analyseansätze von Rabbinern oder aus der jüdischen Forschung zitieren - und die gibt es -, könnten wir uns auf billige Weise gegen Vorwürfe wappnen. (Es wäre nur das Spiegelbild der Situation in einem us-amerikanischen Hörsaal, als ein Schwarzer kritiklos die Judenvernichtung rechtfertigen durfte - weil er schwarz war! Und Kritik an einem Schwarzen ist nicht p.c.!) Der Bruch, der sich in den Debatten um den 8. Mai abgezeichnet hat, geht tiefer, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Es geht sehr grundsätzlich um die Frage, ob wir an einer radikalen Kapitalismus-Kritik festhalten, ob wir den Staat und die Ausbeutung bekämpfen, oder ob wir uns allmählich mit dem Kapitalismus und seiner Demokratie als dem kleineren Übel abfinden wollen, da wir die Perspektive auf eine wirkliche Befreiung längst aufgegeben haben. An der Kritik des Kapitalismus festzuhalten, heißt nicht, die Einzigartigkeit der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten zu übersehen - das tut auch das Flugblatt von Wildcat/GB nicht. Aber es bemüht sich um eine radikalere Kritik an der »kapitalistischen Zivilisation«, die den Genozid in den verschiedensten Formen möglich machte und macht - heute weitaus besser getarnt als »Naturkatastrophen« oder »Stammesrivalitäten«.

Der zweite Text, »The hidden History of World War II« stammt von einer dieser us-amerikanischen ML-Gruppen, die dem Ende der SU nachtrauern und einen dogmatischen Klassenstandpunkt behaupten (also z.B. in einem Nebensatz die Unterstützung für Hitler auf den Mittelstand reduzieren). Aber der Text erinnert an einige Hintergründe, die verständlicherweise gerade für die GenossInnen in den USA von besonderer Wichtigkeit sind, wenn sie dem Image der USA als »antifaschistischem Befreier« entgegentreten wollen. Die Faszination westlicher Politiker für die »gesellschaftlichen Aufräumarbeiten« der Nazis ist heute genauso gut dokumentiert wie die Tatsache, daß es eine schlichte Lüge ist, wenn sich us-amerikanische Militärs später hinstellten und erklärten, man habe von den Vorgängen in den KZs nichts gewußt. Zwischen 1943 und 1945 wurden 2000 Kassiber aus Auschwitz geschmuggelt, hauptsächlich von der ansässigen polnischen Bevölkerung. Gestützt auf diese Dokumente erschienen 1944 in der Schweiz 383 Presseartikel, in den USA 54 Artikel über das Morden in Auschwitz.

F.


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