Wildcat-Zirkular Nr. 64 - Juli 2002 - S. 9-22 [z64beweg.htm]


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Zum Stand der Bewegung

Ende 1999 ließen die militanten Anti-WTO-Proteste von Seattle unsere Herzen höher schlagen. Sie hoben sich so wohltuend vom Gegengipfel in Köln wenige Monate zuvor ab. Seitdem ist es zu einer nicht abreißenden Kette von massenhaften Mobilisierungen gekommen. Hier ist offenkundig etwas Neues an die Oberfläche getreten:

  1. Was in den letzten Jahren als »Antiglobalisierungsbewegung« dargestellt wurde, ist nur die Oberfläche einer untergründigen Entwicklung, bei der viel eher von »Bewegungen« gesprochen werden kann als bei den Aktionen gegen die (vereinzelten) Events. Vor allem die Medien mit ihrer Fixierung auf Spektakuläres und reformistische Gruppen mit ihrem Interesse, die Bewegung in einen Versuch zur Verbesserung des Kapitalismus zu kanalisieren, haben zur Wahrnehmung der vielschichtigen und zueinander im Widerspruch stehenden Strömungen als »Antiglobalisierungsbewegung« beigetragen. Trotzdem enthalten sie zwei wichtige Momente: sie sind offensiv und massenhaft.
     
  2. Die Mobilisierungen sind offensiv. Das erste Mal seit fast 20 Jahren, in denen sich die Linke in der Defensive befunden hat, gehen wieder Leute nach vorn, erobern, wenn auch nur für begrenzte Zeit, die Straße und füllen sie mit Inhalten, die mehr sind als eine Abwehrreaktion aus der Opferpose, wie wir sie in den 90er Jahren nur allzu oft sehen konnten.
     
  3. Die Proteste bewegen eine große Zahl von Menschen. 50 000 Leute in Seattle, 10 000 in Prag - das schienen damals riesige Teilnehmerzahlen, verglichen mit den 90er Jahren. Inzwischen gehen oft sogar Hunderttausende Menschen auf die Straße, die Tendenz ist bisher ungebrochen. Dies ist aus zwei Gründen wichtig: Die Demos machen nach langer Zeit wieder ein massenhaftes Unbehagen am Kapitalismus öffentlich, das die Voraussetzung für eine Umwälzung der Verhältnisse ist. Zweitens sind sie für die Leute selber wichtig: viele machen zum ersten Mal solche Demoerfahrungen, schöpfen Stärke daraus, so viele zu sein - und können den Schwung durchaus in ihre politischen Aktivitäten mitnehmen. Auf den großen Events treffen sich Leute, die in denselben Bereichen aktiv sind: Migration, Gentechnik, Arbeitslosigkeit usw..
     
  4. Nicht erst die »Antiglobalisierungsbewegung« hat den planetaren Maßstab erfunden. Initiativen sind heute in der Regel global - im Unterschied zu lokal begrenzten Protesten gegen Entlassungen, Atommüllendlager, Nazis oder Sozialkürzungen - im Unterschied aber auch zum »Internationalismus« der Bewegungen Ende der 60er Jahre. Und damit sind nicht (nur) die Mobilisierungen gegen die Gipfel gemeint, sondern z.B. globale Mobilisierungen zu Migration und staatlichen Rassismus. In ihren kapillaren und weltweit vernetzten Diskussionen kommunizieren die AktivistInnen auch zwischen den Events über Kontinente hinweg, was von einer Renaissance des internationalen Polittourismus begleitet wird.
     
  5. Die AktivistInnen entstammen einer neuen politischen Generation. Die Mobilisierungen werden von jungen Leuten getragen, die sich in der zweiten Hälfte der 90er Jahre politisiert haben und die oft erfrischend unideologisch auftreten. Sie suchen nach einer offeneren, weniger hierarchischen Art der Organisierung als sie sie etwa in Parteien vorfinden.
     
  6. In der BRD sind die Events vor allem für Leute attraktiv, die mit ihrer Orientierung auf Teilbereiche an Grenzen gestoßen sind und jetzt weiter gehen wollen; es gibt ein proportionales Verhältnis etwa zwischen der Krise der Antifa und der Beteiligung am Gipfelsturm. In Ländern wie Frankreich, Italien, Belgien oder Britannien surfen die Mobilisierungen viel stärker als in der BRD auf breiten sozialen Bewegungen - hier haben die AktivistInnen dementsprechend auch ein sehr viel kritischeres Verhältnis zum Event-Hopping.
     
  7. Die Gipfeltreffen werden in einer Phase gestürmt, in der sich die Widersprüche unter den Kapitalisten in der Krise zuspitzen. Seattle, Prag usw. sind nicht wegen der Proteste gescheitert, sondern weil sich die Konferenzteilnehmer nicht mehr einigen können. Das spricht aber nicht gegen die GipfelstürmerInnen, sondern skizziert den möglichen Raum, in dem sich eine Bewegung entfalten könnte: Die Rezession ist nicht vorbei, die Telekommunikationsindustrie befindet sich im freien Fall, die Türkei, Argentinien, Japan sind nur die bekanntesten Fälle von Ländern am Rande des wirtschaftlichen Kollaps - und Argentinien ist zudem ein Land, in dem die Menschen den Kampf gegen die Krise aufgenommen haben. In einer solchen Situation können Bewegungen vielfach stärkere Dynamiken als in stabilen Verhältnissen entfalten.
     
  8. Auch deswegen kann die Bewegung Vorläufer von viel weitergehenden sozialen Aufbrüchen sein.
     

Aus all diesen Gründen ist es aber auch schwer, von einer »Bewegung« zu sprechen: Erstens ist das, was bisher hierzulande an die Oberfläche tritt, keine soziale Bewegung. Zweitens macht es gerade die Stärke der verschiedenen Initiativen aus, daß sie nicht eine Bewegung, sondern viele ist. Darüberhinaus ist der Begriff schwierig und mißverständlich: als in den 80er Jahren die »NSB« (Neuen Sozialen Bewegungen) zu einem universitären Forschungsobjekt wurden, ist er von »radikalen Reformisten« wie Joachim Hirsch, Roland Roth u.a. umgedreht worden. War in den 60ern und frühen 70ern das movement selbstverständlich eine subversive, revolutionäre Angelegenheit, so versteht man seither darunter eine Mobilisierung, die auf Teilbereiche beschränkt ist und letztlich auf Integration in den bürgerlichen Staat abzielt. Die Totalität des Kapitals als Ausbeutungs- und Klassenverhältnis wird dabei ausgeblendet.

Wichtiger als das Problem des Begriffes ist aber der erste Aspekt: »Bewegung« meint nicht einfach massenhaftes Verhalten in bestimmten, abgegrenzten Situationen, wie es die Proteste anlässlich der Gipfeltreffen darstellen; »soziale Bewegung« bedeutet immer massenhaften Bruch mit dem Bisherigen auch im eigenen Leben. Die »Antiglobalisierungsproteste« sind spektakulärer Ausdruck eines verbreiteten Unbehagens am Kapitalismus; aber auch die vielen untergründigen Strömungen und Netze sind bisher viel mehr politische Strukturen, und bestenfalls minoritäre Vorläufer von sozialen Bewegungen. Das Tragende sind bisher die »AktivistInnen« und nicht soziale Dynamiken. Das ist kein Vorwurf, der ausgerechnet den Aktiven zu machen wäre - aber gerade weil sie dieses Problem selber sehen, laufen sie womöglich in eine von zwei Fallen: sich selbst als schon »antikapitalistische Bewegung« zu imaginieren und/oder mit Soft-Avantgarde-Vorstellungen zu hantieren, die darauf rauslaufen, daß die anderen Menschen mehr oder weniger so zu werden haben, wie sie schon sind. Gerade Argentinien zeigt, daß das Herangehen »wir basteln uns eine Bewegung« weit hinter dem zurückbleibt, was reale soziale Dynamiken erzeugen können. Vorfabrizierte Konzepte, wie eine Bewegung aussehen solle, können sogar reale soziale Prozesse blockieren (siehe Beilage, S. 20ff.).

Insofern sie in ihrer Praxis ein anderes gesellschaftliches Handeln realistisch erscheinen lassen, können die Mobilisierungen aber sehr fruchtbar werden und mit ihren Aktionen den gesellschaftlichen Raum öffnen, in den andere dann nachstoßen können. In ihrer Ausrichtung auf das gesellschaftliche Ganze gehen die Aktionen über die thematische Beschränktheit der »Neuen Sozialen Bewegungen« hinaus. In ihrer Kontinuität überwinden sie auch die Begrenztheit der politischen Praxis in den 90er Jahren, die sich immerzu als »Kampagne« organisierte.

Wenn im folgenden von »Bewegung« geschrieben wird, müssen diese Schwierigkeiten mitgedacht werden.

Globalisierung?

Obwohl es auch nach dem Ende der Bewegungen der 60er und 70er Jahre immer wieder zu teilweise großen Mobilisierungen kam, wie etwa den poll tax riots in Großbritannien 1990, haben diese nie eine solche Kontinuität entwickeln können, wie die Demonstrationen der letzten Jahre. Was bringt die verschiedenen Positionen aber gerade jetzt zusammen, was ist die Basis für Hunderttausende, sich nach so langer Zeit erstmals wieder massenhaft auf die Suche nach »einer anderen Welt« zu machen? Weltweit sind Menschen in Bewegung gegen die Auswirkungen von etwas, das als »Globalisierung« bezeichnet wird, und das sie in ihrem Kampf dagegen anscheinend vereint: gegen die Monopolisierung der Kultur, die Vereinheitlichung des Essens, des gesamten Lebens einerseits, gegen die fortschreitende Intensivierung der Arbeit, und gegen breite Verarmungstendenzen andererseits. Dieser Widerstand gegen die »Globalisierung« ist in verschiedener Hinsicht widersprüchlich. Es war und ist gerade der westliche Lebensstil, der vielen Menschen auch als erstrebenswert erscheint. »Globalisierung« wird ideologisch oft mit dem weltweiten Durchmarsch des Kapitals, mit seiner Allmacht, mit seiner Fähigkeit, die Welt seinen Bedürfnissen unterzuordnen, gleichgesetzt. Das Gegenteil ist der Fall: »Globalisierung« ist vor allem eine Fluchtbewegung des Kapitals gewesen, die als Reaktion auf die Stagnation in den Metropolenländern seit Anfang der 70er Jahre zu entschlüsseln ist. Weltweit wurde eine neue Arbeitskraft rekrutiert und in Bewegung gesetzt. Vor allem in Südostasien hat dieser Prozess bis Mitte der 90er Jahre Industrialisierung und Proletarisierung in einem bis dahin einzigartigen Umfang vorangetrieben.

Spätestens als die südostasiatischen Ökonomien und in ihrem Gefolge andere Länder, wie Russland oder Brasilien, in der zweiten Hälfte der 90er Jahre in die Krise gerieten, hatte sich die »Globalisierung« als ideologisches Bild einer erfolgreichen kapitalistischen Verwertung blamiert. Was bis dahin als erfolgreiche Kur gegen die Krise der westlichen Ökonomien gegolten hatte - der ökonomische Liberalismus - geriet auch von bürgerlicher Seite zunehmend in die Kritik. Vor diesem Hintergrund konnten sich Vertreter der aufständischen mexikanischen Zapatisten mit Madame Mitterand treffen, hierher rührt der Appell an die »Zivilgesellschaft«, der darauf vertraut, offene Ohren für die eigene Position zu finden. In der Kritik am Neoliberalismus oder an der Globalisierung treffen sich die mexikanischen »Indígenas« mit europäischen Ex-Finanzministern.

In der zweiten Hälfte der 90er Jahre waren - mit Ausnahme Spaniens - überall in Westeuropa »linke« Regierungen an die Macht gekommen. Das war eine Reaktion auf die Auswirkungen »neoliberaler«, »thatcheristischer« Politik der Mitte-Rechts-Regierungen. Aber gerade die (ehemals?) sozialdemokratischen Regierungen erwiesen sich als die brutaleren Vollstrecker der Globalisierung und Vertreter einer kapitalistischen Offensive. Sie haben die steckengebliebenen Versuche ihrer konservativen Vorgänger, die Sozialsysteme in den kapitalistischen Industriestaaten den neuen Erfordernissen anzupassen, konsequenter vorwärtsgetrieben, als es ihren Vorgängern möglich gewesen war. In Reaktion darauf geht das breite Unbehagen - noch verstärkt durch die immer wieder aufbrechende kapitalistische Krise - gegen den Kapitalismus und seine Verwalter in Politik und Wirtschaft wieder stärker auf die Straße. Und entsprechend finden wir in der »Antiglobalisierungsbewegung« auch alle sozialen Gruppen, die dieses Unbehagen teilen. Neben den Dauerbrennpunkten, wie etwa Indonesien oder Argentinien, gibt es auch in Europa und den USA Kämpfe von MigrantInnen, illegalen wie legalen. Die Globalisierung kommt hier, wenn auch noch marginal, als sich entwickelnder Kampfzyklus einer globalen Arbeitskraft an.

Aktuelle Situation

Ins öffentliche Bewusstsein ist diese »Bewegung« mit den Protesten gegen die WTO-Tagung in Seattle im November 1999 getreten. Entlang der Treffen der G8, des IWF und der Weltbank kam es zu einer nicht abreißenden Kette von Protesten. Nach den Ereignissen des letzten Jahres in Göteborg oder Genua, wo die teilweise militanten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und DemonstrantInnen für eine breite Beachtung in den Medien sorgten, ist es inzwischen schwieriger geworden, die Proteste wahrzunehmen.

Nach den massiven Angriffen der Bullen auf die DemonstrantInnen in Genua war die Frage, ob sich die Leute überhaupt weiter auf die Straße trauen würden, oder ob das Kalkül des Staates aufgehen würde, ihnen mit der massiven Repression ihre Grenzen aufzuzeigen. Aber die Mobilisierungen sind nicht abgerissen und haben an Umfang oft sogar noch zulegen können. Nachdem im März und Mai Hunderttausende gegen die EU-Gipfel in Spanien demonstrierten, und das IWF/Weltbank-Treffen in Washington D.C. ebenfalls von Protesten mit bis zu 100 000 Teilnehmer/inne/n begleitet war, kann von einem »Verschwinden« der Proteste keine Rede sein, auch wenn sie inzwischen weniger mediale Beachtung finden. Das mag einerseits Strategie sein, denn die Bewegungen haben ihre Dynamik bisher auch aus ihrer medialen Verarbeitung gezogen (copy cat), andererseits haben die Proteste gerade durch ihre Kontinuität ihren für die bürgerlichen Medien spektakulären Charakter verloren.

Abseits des Medieninteresses brechen die regelmäßigen Proteste weder ab, noch büßen sie an zahlenmäßiger Stärke ein. Spätestens in Genua hatte sich ein Spektrum eingefunden, das weit über die Militanten von Reclaim the streets (RTS) oder Peoples global action (PGA) hinausging, die bis dahin die Aktionen dominiert hatten (vor allem in Prag und Göteborg). Die 300 000 DemonstrantInnen von Genua waren zu einem großen Teil aus der näheren Umgebung oder zumindest aus Italien selbst. Damit konnte die Isolation der Proteste, wie sie für frühere Mobilisierungen prägend war, durchbrochen werden. Die »Bewegung« bekam Tuchfühlung zu Protesten, die sich nicht nur gegen die Politik der EU, der Weltbank, des IWF oder der WTO wenden, sondern auch gegen die Politik Berlusconis und der italienischen Unternehmer - und sie nahm Kontakt zu anderen sozialen Subjekten auf (Arbeiterjugend, soziale Zentren, MigrantInnen) und löste somit ein, was Seattle versprochen hatte! Diese Proteste haben in Italien ihren vorläufigen Höhepunkt in den Demonstrationen gegen die Arbeitsrechtsänderung vom 23. März (zwei Millionen DemonstrantInnen in Rom) und dem Generalstreik vom 16. April 2002 (13 Millionen Streikende) gefunden. [1]

Auch die 500 000 DemonstrantInnen Mitte März in Barcelona kamen zum größten Teil aus Spanien selbst. Das ist einerseits positiv, weil es die lokale Verankerung zeigt. Außerdem bleiben Demos von diesem Ausmaß nicht ohne Folgen für die gegenseitige Wahrnehmung der Beteiligten. Andererseits wirft es die Frage auf, ob und wie die »Event-Hopper« mit der neuen Situation umgehen. Waren bislang die politischen Bezüge vor allem auf Bewegungen in der »Dritten Welt« gerichtet (die EZLN in Mexiko, die Landlosenbewegung MST in Brasilien...), bieten sich nun neue Anknüpfungspunkte für die politischen AktivistInnen.

Die bisherigen Erfolge der Aktionen bestanden zum Teil darin, dass - zumindest bis Genua - in den Medien mehr über die Proteste als über die eigentlichen Gipfeltreffen, Tagungen, o.ä. zu erfahren war. Darüberhinaus haben die nicht abreißenden Proteste dazu geführt, dass Treffen abgesagt, verschoben oder verkürzt wurden. Weltbank, IWF oder WTO konnten sich nicht mehr ungestört, wann und wo sie wollten, treffen. Das ist zwar nicht wenig, es ist aber auch nicht zu leugnen, daß den Herren der Welt die Militanz auf der Straße zuweilen ganz recht kam, konnten sie doch das Scheitern der Konferenzen auf die gewalttätigen Protestierer schieben und versuchen, die massiven Widersprüche untereinander (Stahl- und Landwirtschaftssubventionen; Strafzölle, Regulierung der Finanzströme; Schuldenmanagement usw.) dahinter zu verstecken.

Aus solchen Sackgassen kommen Bewegungen nur raus, wenn sie aus dem »Anti-« rauskommen; ob »Antiglob« oder »Antikap«: der Schritt nach vorn kann nur darin bestehen, die sozialen Kämpfe in allen Teilen der Welt wahrzunehmen und sich zu ihnen (kritisch) in Beziehung zu setzen.

Ideolog(ie)en in der »Bewegung«

Die Mischung der Leute, die die Proteste tragen, ist nach wie vor vielfältig: Attac, Grüne, Gewerkschaften, KommunistInnen, Linksradikale. Während Medien und PolitikerInnen immer noch von »Antiglobalisierungsbewegung« reden, und sich auch viele der AktivistInnen so verstehen, ist der Rahmen während der Proteste weiter gesteckt. Vor allem linksradikale Gruppen wollen mit ihrer Kritik an der »Globalisierung« den ganzen Kapitalismus treffen - bleiben aber oft dabei stecken, die Ablehnung der kapitalistischen Verhältnisse nur zu behaupten und in ihrer Praxis den Unterschied zu den »globalisierungskritischen« Positionen nicht wirklich deutlich machen - in Genua ist deutlich geworden, daß eine radikale Position sehr leicht in die Sackgasse läuft, die sich von reformistischen »Mitstreitern« nur durch direkte Aktion und Militanz unterscheidet.

Das Verhältnis zwischen »Antikapitalismus« und »Antiglobalisierung« ist weitgehend ungeklärt. Vor allem in Frankreich, aber auch in den USA richtet sich ein großer Teil der Bewegung gegen den »Neoliberalismus« oder die »Globalisierung«. Diese wird als aktuelles Projekt zur Zurichtung der Welt für die Bedürfnisse des Kapitals verstanden und oftmals aus der Perspektive der »Opfer« heraus kritisiert. Zur Disposition steht nicht die Ausbeutungsgesellschaft als Ganzes, sondern die »Auslieferung« des Lebens an den »Markt« und die Kapitulation der Politik vor der Wirtschaft. Die Globalisierung erscheint vielen als der große »Gleichmacher«, der von oben die Lebensverhältnisse bestimmt, Identitäten zerstört, alles Leben in Ware verwandelt. Dem setzen die »Antiglobalisierer« die Idee entgegen, durch ein Mehr an staatlicher Regulierung, etwa über Steuern (Tobin-Steuer), und eine »Demokratisierung« der Wirtschaft, wären die schlimmsten Auswüchse der neoliberalen Politik der letzten 15 Jahre zu korrigieren. Organisationen wie Attac und andere NGOs setzen auf einen Dialog mit dem Staat und seinen Institutionen. Sie sind in dieser Richtung inzwischen noch einen Schritt weiter gegangen und positionieren sich nicht mehr »gegen die Globalisierung« sondern »für eine andere Globalisierung«. Dabei meinen sie keine »Globalisierung von unten«, sondern sie debattieren z.B. in Porto Alegre tatsächlich darüber, welche Weichenstellungen sie für eine erfolgreiche Kapitalverwertung für richtig halten. Kein Wunder, daß sie auch bei denen Zustimmung finden, gegen die sie augenscheinlich protestieren, [2] denn die Besorgnis über das weitere Schicksal des Kapitalismus hat in den letzten Jahren breiteste (links- und rechts-)bürgerliche Kreise erreicht. Attac und andere Organisationen funktionieren als Brücke zwischen den Protesten und den kapitalistischen Sachwaltern.

Ihnen stehen AnarchistInnen oder direct action-AktivistInnen mit ihrem postulierten »Antikapitalismus« gegenüber. Sie organisieren teilweise Gegenveranstaltungen zu den großen, z.B. von Attac dominierten, Protestaktionen. Sie lehnen den Dialog mit dem Staat ab und sind oft Träger der militanten Auseinandersetzungen am Rande der Gipfel-Treffen. Ihnen reicht es nicht, gegen die »Globalisierung« zu sein, sie wollen eine Kritik am ganzen Kapitalismus als Gesellschaftssystem formulieren. Gerade direct action-AktivistInnen haben inzwischen auch Kritik an den Events geäußert und fahren teilweise selbst nicht mehr hin.

Bei größeren Treffen, wie der »Bundeskoordination Internationalismus«, die Mitte Mai in Frankfurt (Main) stattfand, kommt es zwar zu Diskussionen zwischen Vertretern beider Positionen, bei den Protesten selbst stehen diese aber ziemlich unvermittelt nebeneinander. Einige der jungen AktivistInnen halten die Frage nach den radikalsten Inhalten, nach »Reformismus oder Revolution« für philosophisch oder ihren eigenen Fragestellungen nicht entsprechend. Das könnte daraus resultieren, dass bisher noch keine ernsthaften praktischen Konsequenzen zu sehen sind, die sich auf einen radikalen, kapitalismuskritischen Ansatz stützen.

Die »Bewegung« ist also in ihrer politischen Zusammensetzung sehr heterogen. Im wesentlichen lassen sich vier Hauptströmungen benennen, die sich nicht immer deutlich voneinander trennen lassen, da sie in verschiedenen Netzwerken und Organisationen (PGA, Attac) zusammenkommen und kooperieren.

Linksbürgerliche Positionen

Hierunter sind linksliberale und bürgerlich-moralische Positionen zu fassen, deren prominenteste Vertreterin vielleicht Naomi Klein ist. [3] Die Ideologie dieser Position kritisiert nicht das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis, sondern lediglich seine aktuelle Form, die »Globalisierung«, sie wollen eine »andere Globalisierung«. Hier findet auch das bürgerliche Unbehagen gegen den »Casinokapitalismus« oder die »entfesselten Marktkräfte« seinen Platz. Die Vertreter dieser Strömung richten sich gegen die Macht multinationaler Konzerne, sprechen über die »moralische Verantwortung, Arbeitsplätze und Wohlstand zu teilen«. Sie haben die öffentliche Wahrnehmung der Bewegung am meisten geprägt. Ihr Spektrum reicht von kirchlichen Gruppen über den französischen »Bauernpolitiker« José Bové und Bürgerrechtsgruppen bis zu Linksliberalen, SozialdemokratInnen und Grünen. Ihnen geht es in letzter Instanz um einen »Kapitalismus mit menschlichem Antlitz«.

Ya Basta! / Tute Bianche / Disobbedienti

In der Zeit zwischen Seattle und Genua spielten die Tute Bianche der italienischen Ya Basta!-Szene in den europäischen Mobilisierungen eine wichtige Rolle. Sie organisierten Zugbesetzungen, traten offen militant gegen die Bullen auf, sie waren zahlreicher als der »schwarze Block« und aufregender als die traditionelle Linke oder die moralisierende Kirchengruppe. In Großbritannien und Australien gibt es Gruppen, die sich auf sie beziehen (Wombles und Wombats); FelS versucht, sich als deutscher Vertreter der Tute Bianche zu präsentieren.

Die Militanz der Tute Bianche war oft inszeniert, ihre Aktivitäten richten sich an die »Zivilgesellschaft«, ihre Organisation ist streng hierarchisch. [4] Theoretisch sind sie mit Antonio Negri verbandelt, ihr Standpunkt ist kein Klassenstandpunkt, sondern der des bürgerlichen Subjekts: es geht um Bürgergeld und »universelle Rechte«. Ihr militantes Auftreten und ihre inhaltliche Ausrichtung weisen sie als »radikale Reformisten« aus.

AnarchistInnen / direct action-AktivistInnen / Black Bloc

Die britische Reclaim the streets-Bewegung (RTS) und die amerikanische direct action-Szene sind stark anarchistisch geprägt. Sie haben die Bewegung dort stark beeinflußt - anders als etwa in Frankreich, wo neben den Linksbürgerlichen vor allem traditionelle Linke tonangebend sind. Nach dem Riot im Londoner Finanzviertel vom 18. Juni 1999 - dem ersten global action day - ergaben sich auch Kontakte der eher am Klassenkampf orientierten älteren Anarcho-Szene zu RTS, was im angloamerikanischen Raum weitergehende Diskussionen um Militanz und politisches Soldatentum ausgelöst hat. Bei den Protesten in Seattle und Quebec haben die jugendlichen, meist anarchistisch orientierten direct action-Gruppen eine wichtige Rolle gespielt. In Europa finden sich solche Gruppen im »black bloc«, zu dem sicher auch deutsche Antifas zu zählen sind, die sich nicht unbedingt als »Anarchisten« verstehen würden.

Der »Schwarze Block« verfolgt keine spezielle politische Ideologie, er hat vielmehr die Tendenz zum Militanzfetisch, wo Gewalt die Inhalte ersetzt. Gerade die Ferne zu sozialen Bewegungen macht die Militanz des »Schwarzen Blocks« zu einer »symbolischen Militanz«, die aufgrund fehlender eigener Inhalte die politischen Forderungen der Linksbürgerlichen unterstützt (bewusst oder unbewusst).

Darüberhinaus gibt es unzählige Kleingruppen, die direkte Aktionen machen oder sich in bestimmten sozialen Situationen festgesetzt haben (Migration, Nulltarif ...), diese aber im globalen Zusammenhang thematisieren und beackern. Von ihnen ist natürlich in den Medien nicht viel zu sehen.

Traditionelle Linke

Während sich in England und Frankreich vor allem trotzkistische Gruppen wie die Socialist Workers Party an die Bewegung hängen, finden sich in Deutschland PDS, DKP und Linksruck, der sich in einigen Städten in den Attac-Strukturen aufgelöst zu haben scheint, im Fahrwasser der »Bewegung«. Lauthals revolutionäre Sprüche skandierend, verbreiten diese Gruppierungen (links-)bürgerliche Positionen und Praktiken: zuerst den Bezug auf den Staat, an den sie ihre Appelle für eine »andere Welt« richten.

Traditionelle Linke versuchen unter anderem, Gewerkschaften als »antikapitalistisch« zu präsentieren. Allerdings läßt sich hierzulande bisher kaum eine gesteigerte Sympathie für die Gewerkschaften bei den ArbeiterInnen feststellen, wohl aber bei Leuten, die sich wieder auf die Suche nach der »sozialen Frage« oder nach einer »antikapitalistischen« Praxis machen. In anderen Ländern stellt sich das anders dar. Die Massendemonstrationen in Italien verweisen zumindest auf ein größeres Mobilisierungspotential der Gewerkschaften als hierzulande.

Staatliche Umarmungsversuche und Repression

Entlang der beschriebenen Differenzen gibt es staatliche Spaltungsversuche, indem ein selektiver Dialog mit bestimmten NGOs geführt wird. Hier setzen vor allem Weltbank oder IWF an den Gemeinsamkeiten zwischen ihren Positionen und denen vieler NGOs an. Faktisch sind zahlreiche NGOs in die Projekte der Weltbank eingebunden, mehr als die Hälfte (54 Prozent) der Weltbank-Projekte laufen unter Beteiligung von NGOs. Vor allem das Weltsozialforum in Porto Alegre ist ein Platz des kritischen Dialogs mit den Institutionen der Globalisierung, dem IWF und der Weltbank.

Andererseits sind die polizeilichen Aktionen gegen die Proteste bis auf wenige Ausnahmen sehr brutal gewesen. Das Gewaltlevel ist dabei von den Tränengaseinsätzen in Seattle bis zu den Schüssen von Göteborg oder Genua immer weiter gesteigert worden. Die Repression richtete sich zum Teil gezielt gegen die Infrastruktur (indymedia-center in Genua) der »Bewegung« und gegen betont nicht »militante« Demonstranten. Auch während der jüngsten Proteste kam es zu Polizeiübergriffen auf »friedliche« Demonstranten, wie die critical mass-Demonstration in Washington. Dass es bislang nicht zu einem neuen Angriff im Ausmaß der Genua-Proteste gekommen ist, kann mit einer veränderten Strategie des Staates zusammenhängen. Während die früheren Proteste (Seattle, Prag, Genua) sehr von der Berichterstattung profitiert hatten, ist, wie schon erwähnt, über die jüngsten Mobilisierungen wenig zu hören.

Die Bullen arbeiten inzwischen auf internationaler Ebene zusammen und tauschen Daten aus. Das ist vor allem an Reisebeschränkungen, Meldepflicht und Einreiseverboten zu spüren, von denen zahlreiche AktivistInnen betroffen sind. In der BRD kommen dabei z.B. Gesetze zur Anwendung, die ehemals über Hooliganausschreitungen, etwa zur WM in Frankreich, legitimiert worden waren. Darüberhinaus gibt es nach dem 11. September 2001 den gesamteuropäischen Versuch, über »Anti-Terror«-Gesetze typische Aktionsformen sozialer Bewegungen, wie Besetzungen oder Blockaden, als »terroristisch« einzustufen, auch wenn es bisher keine Terrorismus-Vorwürfe gegen solche Aktionen gab.

Der Kriminalisierungsaufwand und die Brutalität, mit der gegen die Proteste vorgegangen wurde, lassen sich nicht aus ihrem eigenen Bedrohungspotential erklären, das sich im Wesentlichen gegen Gipfeltreffen und andere Großereignisse richtet. Aber diese Bewegungen könnten ein Klima für einen weiter- und tiefergehenden Protest schaffen, weltweite soziale Bewegungen befördern, die den Kapitalismus viel ernsthafter in Frage stellen, als sie selbst das können - gegen diese Gefahr richtet sich der Gewaltapparat des Staates. Die Möglichkeit einer weitergehenden und umfassenderen Protestbewegung zeigt sich bereits in den letzten Mobilisierungen vor allem in Spanien aber auch den Massendemonstrationen und Streiks in Italien.

Zwischen Zivilgesellschaft und Bewegung

Die Akzeptanz, die die Kritik an der »Globalisierung« auch innerhalb der bürgerlichen Politik und der zugehörigen Öffentlichkeit hat, die Zustimmung, die die Aktivisten von Clinton, Wolfensohn, Schröder, Stieglitz usw. erhalten haben, schufen einen Raum, bestimmte Dinge zu artikulieren - und einen Rahmen, in dem sich die Proteste bewegen können. Hier zeigt sich gleichzeitig das große Problem der »Bewegung«: wenn sie sich inhaltlich auf »Antiglob« kanalisieren läßt, und über die entsprechenden Organisationen, die eine solche Kritik formulieren (Attac) und institutionalisieren, in den kapitalistischen Staat integrieren läßt, gibt sie nichts als den kritischen Dialogpartner für die Herrschenden ab. Ob in Prag oder in Porto Alegre, ob in den Reihen von Attac oder in einer der zahllosen NGOs, die die »Globalisierung« kritisch begleiten und ein wenig »menschlicher« gestalten, die globalisierungskritischen Netzwerke haben heute oft die Rolle einer global kommunizierenden Sozialdemokratie, die mit den Institutionen des IWF oder der Weltbank verwoben ist, und die den sozialen Kitt für die kapitalistische Entwicklung effektiver liefern kann, als es diese Institutionen oder die korrupten Staats- und Parteiapparate jemals könnten.

Aber die »Bewegung« ist auch etwas anderes. Vor allem die jungen AktivistInnen machen sich auf die Suche nach einer anderen Welt. Sie nehmen Diskussionen auf, die jahrzehntelang verschüttet waren, und führen sie weiter. Während der Proteste gelingt es ihnen immer wieder, deutlich zu machen, dass es ihnen nicht um Integration oder einen Dialog mit dem Staat geht. Sie lehnen staatliche Vermittlung ab, suchen nach eigenen Aktions- und Ausdrucksformen und bringen damit einen Protest auf die Straße, dem es um mehr geht, als die menschlichere Gestaltung der alten Ausbeutung. Uns geht es vor allem um diesen Aspekt. Den Unmut über die kapitalistischen Zumutungen spüren Menschen weltweit. An vielen Orten haben sie den Kampf für ein besseres Leben schon aufgenommen, bevor irgendjemand von »Antiglobalisierungsbewegung« geredet hat. Aber meistens ist dieser Unmut noch viel untergründiger, drückt sich nur selten in offenen Kämpfen aus, die sich darüberhinaus fast nie in Beziehung zueinander sehen. Die noch verborgene Widerspenstigkeit kommt in den Mobilisierungen zutage, die »Bewegung« steht für etwas, das sie selbst nicht ist, von dem sie nur eine Ahnung vermittelt.

Die Proletarisierungs- und Migrationsprozesse haben weltweit zu einer neuen Zusammensetzung der Arbeitskraft geführt, die sich inzwischen auch in ihren aufkeimenden Kämpfen ausdrückt. Die »Antiglobalisierungsbewegung« kann Vorbote und Wegbereiter einer viel breiteren Bewegung gegen das Kapital sein. Die Reaktionen des Staates - Integrationsversuche einerseits, brutale Repression andererseits - zeigen nur, dass die Sachwalter des Kapitals das schon verstanden haben.

Es ist an der Zeit, dass die Bewegung selbst das auch versteht - und daraus eine auf diese sozialen Prozesse gerichtete Praxis entwickelt.


Fußnoten:

[1] Zu den Schwierigkeiten der Kämpfe in Italien, die gewerkschaftliche Kontrolle zu überwinden und eine konkrete Solidarität zwischen verschiedenen Kämpfen zu praktizieren, siehe die beiden Artikel zu Italien in der Beilage: Migrantenstreiks in Italien und Lotta Sporca.

[2] So zeigte Gerhard Schröder Verständnis für »friedliche Gegner der Globalisierung«: Mit ihrer Kritik an ungleichen Handelsbeziehungen oder Finanzspekulationen stünden sie nicht allein, schrieb er in der »Welt am Sonntag« nach den Protesten gegen die IWF/Weltbank-Tagung am 20. April 2002 in Washington. Weltbank-Präsident James Wolfensohn sagte in Prag, »die jungen Leute auf der Straße stellen die richtigen Fragen«. Der ehemalige Weltbankchef Joe Stieglitz spricht sich allerorten für die Antiglobalisierungsbewegung aus ...

[3] Eine Kritik von Naomi Kleins Buch »No Logo!«, in dem sie ihre Ideen über eine andere, gerechtere Welt vorstellt, findet sich im Wildcat-Zirkular 59/60.

[4] Zur Kritik der Tute Bianche gibt es im Wildcat-Zirkular 59/60 einige Artikel.


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