Der Schrei und die Arbeiterklasse
John Holloway: »Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen«
John Holloways Buch »Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen« macht die bundesdeutsche Linke mit einer angelsächsischen Theorietradition bekannt, die hierzulande undenkbar zu sein scheint. Holloway, der zusammen mit Werner Bonefeld und Kosmas Psychopedis zunächst die Zeitschriftenreihe Open Marxism und später Common Sense herausgegeben hat, bezieht sich kritisch sowohl auf den italienischen Operaismus als auch auf die Kritische Theorie.
Die hiesige Linke scheitert immer wieder dabei, verschiedene Theorien zu historisieren und »aufzuheben«. Holloway liefert dafür einen Versuch: er steht kritisch zu beiden Theorietraditionen, und bricht sich die Stücke heraus, die er politisch brauchen kann. Redakteure und Autoren der Subtropen (Beilage der Jungle World) oder der Fantomas (Magazin der Monatszeitung analyse und kritik) gehen da anders vor: der Operaismus wird als subjektivistisches Abfeiern des Klassenkampfs betrachtet und deswegen als altbackene Revolutionstheorie abgelehnt; die Kritische Theorie wird als Theorie über das Scheitern der Revolution angesehen und als zu pessimistisch verworfen; heraus kommt ein Liebäugeln mit dem Postoperaismus, der am prominentesten von Antonio Negri vertreten wird. Es geht nicht um eine kritische Aneignung oder Überwindung, wie Holloway sie betreibt, sondern um die neueste Philosophiemode (was man an dem unkritischen Umgang mit den von Hardt/Negri umkodierten Begriffen wie »Biomacht« und »Multitudo« erkennen kann).
Was später als »italienischer Operaismus« bekannt wurde, war zu Beginn der 60er Jahre der vielgestaltige Versuch von marxistischen Dissidenten, neue Praxis- und Theoriefelder zu eröffnen (sie gingen wieder zu den Arbeitern, sie lasen Marx neu, sie kritisierten den offiziellen Marxismus, sie eigneten sich die neuesten Untersuchungsmethoden der damaligen Industriesoziologie an usw.). Sie legten Mitte der 60er Jahre wichtige theoretische Texte vor, die in vieler Hinsicht eine Revolutionierung des Marxismus bedeuteten. In ihnen wurde mit der Vorstellung der Neutralität von Technik und Maschinerie gebrochen, und sie entschlüsselten das Arbeiterverhalten als Verweigerung der Arbeit.
Mit dieser Tradition hat der heute weithin begeistert aufgenommene Postoperaismus von Negri und Co. schon lange gebrochen. Bereits Negris Schriften zu Beginn der 70er Jahre (die auch in der BRD diskutiert wurden) breiteten einen faszinierenden Mix aus Voluntarismus (die Partei erschafft die Arbeiterklasse) und Strukturalismus (alle Situationen sind prinzipiell »überdeterminiert« - gerade daraus entspringt dann die Notwendigkeit und die Rolle der Kader und der Partei!) aus. Spätestens seit der 77er Bewegung in Italien hat sich Negri im Flirt mit dem französischen Poststrukturalismus à la Deleuze und Guattari vom Marxismus und der Methode der materialistischen Kritik abgewendet. Die bundesdeutschen Fans von Empire berauschen sich an den vom Poststrukturalismus übernommenen Begriffen wie »Bio-Macht« und »Deterritorialisierung«. Empire eröffnet ihnen einen neuen Kosmos, wieder positiv über Widerstandsformen sprechen zu können, weil es den Gedanken der Aufhebung und der Negativität ablehnt.
Auf der anderen Seite hat sich ein Häuflein kritischer Kritiker in der deutschen Linken versammelt, die im Rückgriff auf Adornos Abwendung vom Marxschen Praxis-Begriff einen allgemeinen Verblendungszusammenhang behaupten, den nur der Kritiker durchdringen könnte. Sie halten an der Negativität fest, jedoch mit allerhand erkenntnistheoretischen Implikationen: wenn der Verblendungszusammenhang so total ist, was prädestinierte gerade die Kritiker, ihm zu entkommen? Kritik wird zur elitären Pose. Die Negativität wird in einen Zirkel eingespannt und landet schließlich in einer Beschwörung des ganzen falschen Zustands.
John Holloway geht einen anderen Weg: er bezieht sich auf Marx und durchaus in dem Sinne, dass - dem kritischen Materialismus folgend - der Fetischismus zum Schlüssel des Verständnisses gesellschaftlicher Verhältnisse wird. Er ist ein profunder Kenner der kritischen Theorie und teilt Adornos Ablehnung des Identitätsdenkens. Allerdings misst er - dem frühen Operaismus folgend - dem Klassenkampf eine entscheidende Rolle zu. Entgegen dem postoperaistischen Getöse vom »ontologischen Antagonismus der Vielheit« und der produktiven, spinozistischen »Multitudo« geht Holloway von einem bipolaren Antagonismus aus. »Die Welt verändern ...« ist schon allein deswegen ein wichtiges Buch, weil es die fetischisierte Debattenkultur der deutschen Linken - Fans von allem, was »Post-« ist, auf der einen und kritische Kritiker auf der anderen Seite - unterlaufen könnte.
Holloway hat nichts gemein mit den Staatsmarxisten, die über die Eroberung der Staatsmacht den Sozialismus aufbauen wollen. Ebenso wenig hält er von der Vorstellung, eine machtvolle Gegen-Totalität in Form einer revolutionären Partei aufzubauen, wie sie im theoretischen Konzept von Georg Lukacs auftaucht. Unter den Aufständischen in Argentinien ist Holloway wohl auch deswegen kein Unbekannter. Der argentinische Aufstand zeigt, dass sich die alten klassischen Politik- und Machtvorstellungen totgelaufen haben und die Leute auf der Suche nach anderen Modellen sind. Holloway allerdings kann die Fragen der Aufständischen zwar theoretisieren, aber auch keine Antworten geben.
Denn wie kommt man zu einem fundamentalen Veränderungsprozess ohne Machtübernahme? Holloway hat die Möglichkeit dieses Prozesses mittels einer existenzialistischen Setzung in sein Denkmodell eingebaut. Am Anfang steht für ihn »der Schrei«. Hier wiederholt Holloway Positionen, die er schon vor Jahren entwickelt hat. [1] Der Schrei ist zugleich ein Erschrecken über die Welt und ein Schrei nach einer anderen Welt. Der Schrei ist eine Spannung zwischen dem Existierenden und dem Vorstellbaren. Der Schrei ist gegen den Macht-Realismus eines Machiavelli gerichtet, der nur das gelten lässt, was ist, und nicht, was wir uns wünschen. Holloways Schrei will die Macht enden sehen, und nicht - wie Foucault - das ewige Machtspiel bloß nominalistisch [2] darstellen. Der Schrei ist Ausdruck des »konsequenten Bewusstseins von Nichtidentität«: wir sollen identisch werden mit etwas, das uns fremd ist. Unser Tun wird gebrochen und in uns äußerliche Formen gepresst, unsere Subjektivität objektiviert. Zwar teilt Holloway den Angriff von Strukturalismus und Postmodernisten auf die Vorstellung eines freien, autonomen Subjekts, hält aber wie Adorno daran fest, das Subjekt nicht zu leugnen, sondern es vor der idealisierten Vorstellung eines einheitlichen Subjektes zu retten. Das Subjekt bürgerlicher Theorie schreit nicht, es ist mit sich identisch. Holloways Subjekt dagegen schreit aufgrund seiner zerrissenen Subjektivität und ist gerade deshalb Subjekt. Subjektivität ist für ihn nur als negative denkbar, sie kann nur antagonistisch zur eigenen Objektivierung existieren, wir schreien, weil wir nicht-identisch sind.
Holloway liest die Kritische Theorie gegen das Feuilleton und die Interpretation der neuen kritischen Kritik, die nur noch die kulturpessimistische Geste der Kritischen Theorie sehen wollen. Adorno wird mit dem Schrei konfrontiert und gefragt, ob denn tatsächlich die Verhältnisse bereits vollständig objektiviert und fetischisiert sind. Geht man vom bereits abgeschlossenen Fetischismus aus, so kassiert man den Kampf um die Fetischisierung, betreibt also selbst einen Fetischismus. Die Kategorie des Fetischismus wird in einem Rückgriff auf Marx wieder an den Ausbeutungsprozess, dem die Kritische Theorie keine Beachtung schenkte, angedockt: »Wird die Verbindung zwischen dem materiellen Prozess der Ausbeutung und der Fetischisierung des Denkens getrennt, dann wird Verdinglichung und Fetischisierung auf ein bloßes Werkzeug der Kulturkritik, auf ein gehobenes Stöhnen reduziert.« (S. 90)
Der Kern der Objektivierung, der Identifizierung, des Fetischismus-als-Prozess ist für Holloway der Klassenkampf. Hier findet der Versuch statt, das Tun zu brechen und hier wird gegen diesen Versuch rebelliert. Es gibt keinen Klassenkampf von unten oder von oben, sondern er ist Kern der Fetischisierung. Klassenkampf ist der Versuch der Klassifizierung und Widerstand gegen das Klassifiziert-Werden. Holloway betrachtet die Identität der Arbeiterklasse als »Nicht-Identität«. Er kritisiert hier vollkommen zu Recht alle Versuche, die Arbeiterklasse als positives Subjekt und nicht als Negation zu begreifen: von der Sozialdemokratie bis zum Operaismus. Auch bei Negri/Hardt liegt der Träger des Antagonismus, der im postmodernen Gewand als »Multitudo« daherkommt, positiv vor. Die Multitude ist mit sich identisch, sie ist produktiv und muss nicht gegen die Form kämpfen, in die sie gepresst wird.
In seinem negativen Klassenbegriff liegt Holloways Stärke. Doch dieser Klassenbegriff entgleitet zu frühmarxistischen Bestimmungen, zu einem Kampf gegen die »Entmenschlichung der Menschheit«. Der konkreten Ausbeutung misst Holloway wenig Bedeutung zu. Der Ort der Mehrwertproduktion sei unwichtig. Nachdem er ehedem die »Arbeit« ins Zentrum seines Verständnisses der Welt gestellt hatte, und für seinen damals unscharfen Arbeitsbegriff kritisiert wurde, der eben nicht die spezifisch kapitalistische Form der Ausbeutung beinhaltete [3], ist er nun dazu übergegangen, statt über Arbeit über »das Tun« zu reden, statt über Kapital über »das Getane«. Dies ist Holloways Bemühen geschuldet, jegliche Orthodoxie zu vermeiden. Hier stellt er sich aber ein Bein, weil sein »Tun« eben jedes menschliche Tun umfasst. Aber nicht alles menschliche Handeln ist Arbeit und unterliegt der Mehrwertauspressung. Aufgrund dieser Aufweichung der Begriffe kommt Holloway zu einem nichtssagenden Klassenbegriff. Wo er noch versprach, den materialistischen blinden Fleck der Kritischen Theorie zu beheben, erblindet er selbst: Die Arbeiterklasse - »wir können sie nicht sehen, untersuchen, organisieren, denn die Arbeiterklasse, als revolutionäre Klasse, ist nicht: sie ist Nichtidentität« (S. 174). Holloway fällt hier wieder in die Vagheiten der Kritischen Theorie zurück. Es ist schleierhaft, warum Holloway die Untersuchungen der Arbeiterklasse ablehnt, während er an dem Begriff festhalten will. Warum sollte man eine Call-Center-Arbeiterin auf die konkrete »Entmenschlichung« im Arbeitsprozess nicht befragen können? Warum sollte man nicht die Klassenzusammensetzung der Zapatistas, die Holloway immer wieder als leuchtendes, und gerade deswegen unglaubwürdiges Beispiel von nicht-identitärem Kampf anführt, untersuchen können? Weshalb sollten sich südkoreanische Werftarbeiter nicht fragen, was sie als Arbeiter mit den Kämpfen beispielsweise der chinesischen oder indonesischen Textilarbeiterinnen verbindet? Unterscheiden sich die Fragen, die sich die Arbeiterinnen einer besetzten Fabrik in Argentinien stellen, von denen, die in einem Tauschring in Buenos Aires anstehen? Anstatt in der Untersuchung des Ausbeutungsprozesses und vor allem der Kämpfe innerhalb und gegen diesen Prozess nach Antworten zu suchen, jongliert Holloway mit philosophischen und allgemein-menschlichen Begriffen.
Dennoch möchte Holloway nicht bloß an der existenzialistischen Rückversicherung festhalten, dass wir alle schreien. Der Schrei muss für ihn Ausdruck des »materiellen Vorhandenseins der Anti-Macht« sein. Diese Überlegung führt ihn zum Krisenbegriff. Die Krise ist für Holloway Ausdruck der Entkopplung gesellschaftlicher Verhältnisse. Im Kapitalismus ist im Gegensatz zum Feudalismus die formale Freiheit gegeben. [4] Die Kapitalisten streben danach, ihre Arbeiter aussuchen zu können, aber auch die Arbeiterinnen haben die Möglichkeit, sich auf die Suche nach anderen Kapitalistinnen zu machen. Nur die Form der Ausbeutung bleibt bestehen, weil die ProduzentInnen im Zuge der »ursprünglichen Akkumulation«, die sich als Prozess immer wiederholt, von ihrem eigenen Tun und ihren Produktionsmitteln getrennt werden. Arbeit und Kapital streben ständig danach, sich von ihrer wechselseitigen Abhängigkeit zu befreien: hier ist die Quelle der eigentlichen Zerbrechlichkeit des Kapitalismus. Holloway begreift das Kapitalverhältnis als ein soziales Verhältnis von gegenseitiger Abhängigkeit einerseits und als Kampf anderseits. Doch er fasst dieses Verhältnis unhistorisch. Es gerät ihm zu einem unkonkreten Herr-Knecht-Verhältnis, in dem die »reine Unruhe des Lebens« zur treibenden Kraft wird. Das Kapital befindet sich in diesem Verhältnis auf der Flucht vor der immer gegebenen Aufsässigkeit. Holloway projiziert diese Vorstellung von Klassenkampf sogar in die Geschichte zurück und versucht sich mittels eines so verstandenen »Klassenkampfes« den »Übergang« vom Feudalismus zum Kapitalismus zu erklären.
In »Die Welt verändern...« folgt Holloway der Marxschen Vorstellung vom tendenziellen Fall der Profitrate und beschreibt, wie das Kapital selbst die Krisentendenz weiter anheizt, indem es versucht, die Ausbeutung der lebendigen Arbeit zu umgehen, die lebendige Arbeit durch Maschinen ersetzt und eine Flucht in die Finanzmärkte vornimmt. Holloway bemüht das Bild eines Hundes und seines Besitzers: im Kampf um die Unterordnung des Hundes hat der Herr seine Leine. Die kann Spielraum und relative Freiheit gewähren. Das Kapital kann in Form des Kredits die Ausbeutung umgehen und für eine Zeit Geldakkumulation anstelle realer Akkumulation betreiben. Doch entgegen so mancher Position, die meint, der Kapitalismus könne tatsächlich auf spekulative, immaterielle oder andere, die Wertproduktion umschiffende Weise aus Geld mehr Geld machen, hält Holloway am Wertgesetz fest. Die Krise erinnert immer wieder daran, dass in der jetzigen Form der Vergesellschaftung keine Emanzipation von der lebendigen Arbeit möglich ist. Weder können sich die Arbeiter durch den Kauf von T-Aktien von der fremdbestimmten Plackerei lösen, noch kann das Kapital durch den Verkauf derselben der Ausbeutung der lebendigen Arbeit auf lange Sicht ausweichen!
Diese starke und doch alte Erkenntnis reicht Holloway aber nicht. Er muss diese Überlegung mit seinem existenzialistischen und subjektivistischen Grundbild des Schreis verbinden: »Wir sind die Krise, wir-die-wir-schreien, auf der Straße, auf dem Land, in den Fabriken, in den Büros, in unseren Wohnungen und Häusern ...« (S. 234) Eine solche subjektivistische Krisentheorie war schon immer die größte Schwäche des alten Operaismus (»Die Arbeiterklasse produziert die Krise«); aus der richtigen Beobachtung, dass Klassenkämpfe und gesellschaftliche Rebellion Ende der 60er Jahre den Keynesianismus in die Krise trieben, wurde ein überhistorisches Deutungsmuster. Doch diesem vermeintlichen Generalschlüssel bleiben einige Türen verschlossen. Eine Krisentheorie auf der Höhe der Zeit hätte gerade darauf zu reflektieren, dass das kapitalistische Weltsystem in einer tiefen Krise steckt, ohne dass weltweite Klassenkämpfe als Krisengrund zu entdecken sind.
Dennoch ist »Die Welt verändern ...« ein wichtiger Beitrag, der gegenüber dem affirmativen Postoperaismus den Vorzug des negativen Denkens hat. Doch bei aller Entfetischisierung in der Theorie muss sich Holloway mit der Wirklichkeit und der daraus resultierenden Frage konfrontieren lassen, ob er nicht mit seinem unkritischen Bezug auf die Zapatistas selbst Fetischisierung betreibt, und ob er nicht die problematischen Suchprozesse in Argentinien dadurch idealisiert, dass er sie als bereits abgeschlossene Beispiele von Anti-Macht begreift.
John Holloway
Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen
Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2002, 255 S., 24,80 Euro
Fußnoten:
[1] Vgl. dazu »Vom Schrei der Verweigerung zum Schrei der Macht«; deutsch in Wildcat-Zirkular 34/35.
[2] Als Nominalismus wird eine philosophische Position bezeichnet, die die Begriffe, die die Menschen von der Welt haben, als bloße Namen (nomina) versteht, deren Existenz sich auf das gesprochene Wort beschränkt.
[3] »Offener Brief an John Holloway«; Wildcat-Zirkular 39.
[4] Auf diesen Umstand kommt Holloway immer wieder zu sprechen. Weil es ihm an einer Analyse des Produktionsprozesses mangelt, gerät ihm die formale Freiheit der ProduzentInnen zum Charakteristikum kapitalistischer Ausbeutung. Das Kapitalverhältnis wird dabei für ihn zu einem Verhältnis wechselseitiger Flucht. Die Kapitalisten fliehen vor der aufsässigen Arbeitskraft, die Arbeiter vor der Ausbeutung. Diesen wichtigen Gedanken hatte er schon früher in seiner Polemik »Capital moves« entwickelt (siehe Wildcat-Zirkular 21).