10.05.2004 | Brüchige Festungen – Teil 3 |
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3) Krise der Gewerkschaft und FlexibilisierungDie modernen Gewerkschaften gründen ihre Daseinsberechtigung auf die Verhandlung der Ausbeutungsbedingungen und des Preises der Arbeitskraft im Rahmen des Systems. Man könnte auch sagen, dass die Macht der Gewerkschaften die Entstehung von Ausbeutungsnormen ermöglicht hat, weil diese Institutionen nämlich aus Arbeiterkämpfen entstanden sind, in denen sie die Ausgebeuteten den »Gesetzen der Ökonomie« unterwerfen und eine integrative Rolle spielen konnten, wo sie an der Reproduktion der Bedingungen der Arbeiterklasse innerhalb des Systems mit all seinen Spaltungen und Hierarchien teilhaben konnten. Seitdem das rückläufige Wirtschaftswachstum und die steigende Arbeitslosigkeit die regulative Rolle der Gewerkschaften zusehends verringert haben, werden diese Spaltungen zur Quelle von gegensätzlichen und konfliktträchtigen Identitäten: alt gegen jung, Männer gegen Frauen, ImmigrantInnen gegen Einheimische. Das Auseinanderbrechen des einstigen Arbeitermilieus fördert diese Spaltungen, die die Gewerkschaften und politischen Parteien bewahrt und reproduziert haben. Die heute oftmals mystifizierte Stärke der Gewerkschaftsapparate beruhte wesentlich auf ihrer Fähigkeit, den Korporativismus zu verteidigen. Jedes Mal wenn im Laufe des letzten Jahrhunderts die Kämpfe der Ausgebeuteten verhandelbare ökonomische Inhalte und Spaltungen überwunden und den Weg der sozialen Emanzipation eingeschlagen hatten, entpuppten sich die Gewerkschaften als Hüter des Systems. Der Generalstreik im Mai 68 in Frankreich ist dafür das augenfälligste Beispiel; er markiert den Höhepunkt und den beginnenden Abstieg der kapitalistischen Integration durch die Gewerkschaften. Die Linksregierungen in Frankreich haben sich seit 1981 auf die Gewerkschaften gestützt, um die notwendigen Maßnahmen zur kapitalistischen Restrukturierung durchzubringen. Das war in besonderem Maße beim Gesetz zur 35-Stunden-Woche der Fall. Ziel des als »sozialer Fortschritt« postulierten Gesetzes, das die Arbeit umverteilen und Arbeitsplätze schaffen sollte, war es, die Arbeitsverhältnisse stärker zu flexibilisieren. In bestimmten Sektoren wie der Großindustrie und dem öffentlichen Dienst ermöglichte das Gesetz eine größere Intensivierung/Verdichtung der Arbeit, ohne dass die Arbeitslosigkeit verringert und die Tendenz zur zunehmenden Verarmung der Beschäftigten umgekehrt wurde. Die zahlreichen Konflikte, die die Einführung des Gesetzes begleiteteten, zeigen, dass ein Teil der ArbeiterInnen darin einen Angriff auf ihre Lohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen gesehen hat. Während die Linke glaubte, sie könne die Glaubwürdigkeitskrise der Gewerkschaften eindämmen, indem sie diese an der Umsetzung des Gesetzes beteiligte, passierte in Wirklichkeit genau das Gegenteil. Ihr Ruf ist dadurch eher schlechter geworden. Zwischen 1970 und 1990 haben die Gewerkschaften in Frankreich die Hälfte ihrer Mitgliederschaft verloren, der durchschnittliche gewerkschaftliche Organisierungsgrad ist von 10 auf 5 Prozent gesunken. Zum ersten Mal in der französischen Gesellschaft fiel der Regierungsantritt der Linken mit dem Rückgang gewerkschaftlicher Macht zusammen. Die in Gang befindliche Rationalisierung schwächt die gewerkschaftlichen Apparate, die eng mit der alten Arbeitsorganisation verknüpft waren, und die wirtschaftliche Krise verringert die Verhandlungsmöglichkeiten. Der Verhandlungsrahmen zwischen Gewerkschaften und Chefs in den Großbetrieben, der einer der Stützpfeiler der industriellen Beziehungen in der Nachkriegszeit war, existiert nicht mehr. Den Gewerkschaften gelingt es nur noch im öffentlichen Dienst, ihre Rolle zu wahren. Die frühere nationale Aufteilung der kapitalistischen Produktion hatte zur "Nationalisierung" des Klassenkampfs geführt. Die aktuell stattfindende Restrukturierung befreit den Kapitalismus zunehmend von seinen nationalen Rahmen und befördert die Organisationen der früheren Arbeiterbewegung, die weiterhin das »nationale Interesse« verteidigen, zusehends ins Abseits. [...] Die durch die Auswirkungen der kapitalistischen Restrukturierung geschwächten Gewerkschaften befinden sich in der Falle: Ihre Apparate sind gezwungen, sich auf die neue Situation einzustellen und neue Interventionsfelder zu finden. Die herrschende Klasse ist in dieser Frage auch gespalten zwischen denen, die es als notwendig erachten, den Verhandlungsrahmen zu erhalten und denen, die die Gewerkschaften in der aktuellen Phase als überflüssig betrachten und mehr auf autoritäre Formen der sozialen Kontrolle setzen. Eine in der Geschichte immer wieder auftretende Haltung in Zeiten, in denen das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen deutlich zu Gunsten der Kapitalisten ist. [...] [zurück...] [weiter...]
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