10.05.2004 Brüchige Festungen – Teil 4

 

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4) Nationalismus und Kriminalisierung der Armen

Die eingewanderten ArbeiterInnen haben die ökonomische Rationalisierung teuer bezahlt. Nachdem sie während der Nachkriegszeit stark zur kapitalistischen Akkumulation beigetragen hatten, waren sie die ersten Opfer der Entlassungswellen. In Frankreich hat seit Mitte der 70er Jahre ein Drittel der in der Produktion beschäftigten eingewanderten ArbeiterInnen den Arbeitsplatz verloren. In den großen Unternehmen betrachtete man diese Entlassungen als Wundermittel zur Gesundung der Lage; ein vermeintliches Sicherungsnetz für die einheimischen Arbeiterklasse. Die Idee der »nationalen Präferenz« (»Frankreich zuerst«) - die die extreme Rechte erst viel später zu ihrer Forderung gemacht hat - wurde seit den 70er Jahren mit der Unterstützung von Parteien und Gewerkschaften der alten Arbeiterbewegung angewandt. Logischerweise, denn die korporatistischen Werte der gewerkschaftlichen »Solidarität« sind auf die Verteidigung der nationalen Wirtschaft ausgerichtet.

Seit 1990 sind Arbeitslosigkeit und Prekarisierung am stärksten bei den eingewanderten ArbeiterInnen angestiegen. Sie werden immer mehr marginalisiert, und deshalb auch immer stärker gesellschaftlich sichtbar. Allerdings nicht länger als eingewanderte ArbeiterInnen, sondern als arbeitslose ImmigrantInnen. Diese Sichtbarkeit wird als Aggression wahrgenommen; sie ist aber in erster Linie Ausdruck von Schwäche. Hinter der medialen Bedeutung der reaktiven Gewalt (Kriminalität) verschwindet die erlittene Gewalt (Rassismus, Armut).

Im Gebrauch der »Einwanderungsfrage« nähern sich die Linke und die Linksradikalen der extremen Rechten. Sie ist eine »Simplifizierung«, die gelegen kommt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichneten die amerikanischen revolutionären Syndikalisten (der IWW) jedes Gesetz zur Regulierung der Einwanderung als Gesetz gegen die Arbeiterklasse, als Legalisierung einer Spaltung der Ausgebeuteten. [...]

Die Arbeiterviertel sind nach und nach erst zu Armenvierteln und dann zu »Immigrantenvierteln« geworden. So wurde die Figur des eingewanderten Arbeiters durch jene des Immigranten ersetzt, die von nun an verbunden war mit der des »lebenslang Arbeitslosen«, des Ausgeschlossenen. Eine Zeit lang blieb so die Frage der Krise hinter der Frage der Einwanderung verborgen. Auf dem Umweg über Diskriminierung und Rassismus wurde sie dann zur Frage der immigrierten Jugendlichen, der »Ausländer«. Das alte Bild von der »gefährlichen Klasse« nimmt im Lumpengewand des Rassismus wieder Gestalt an.

Ausgehend von dieser Reihe von Gleichsetzungen und Reduzierungen (vom eingewanderten Arbeiter zum Immigranten, vom Immigranten zum Ausländer, vom Ausländer zum Kriminellen) manipuliert die Propaganda die »Sicherheitsfrage« und füttert sie mit »diversen Fakten«. Das reale Problem der durch die ökonomische Krise erzeugten sozialen Gewalt wird verformt und in einen politischen Sicherheitsdiskurs verwandelt, einer dem rassistischen Diskurs gleichgesinnten Form. Von »Sicherheit« zu sprechen bedeutet gleichermaßen, von »zugewanderter Gefahr« und von »Ausländergefahr« zu sprechen. Für die Masse der durch die neuen Ausbeutungsbedingungen atomisierten Arbeiter, die den Gewalttätigkeiten der Krise unterworfen sind, ist der Migrant kein konkurrierender Arbeiter mehr, sondern ein »gefährlicher Ausländer«. [...] Der Kampf gegen Ungerechtigkeit und soziale Ungleichheit wendet sich von ihren Ursachen ab und richtet sich am anderen aus: ausländisch oder einheimisch.

Die Reduzierung der Frage der gesellschaftlichen Krise auf die Sicherheitsfrage rechtfertigt den Transfer eines umfangreichen Teils der Arbeitskraft weg von sozialer hin zu repressiver Tätigkeit; die Polizei übernimmt dabei wieder einen Teil der Aufgaben des Arbeitsministeriums. Diese Entwicklung entspricht den veränderten Aufgaben des Staates in der aktuellen Phase des Kapitalismus: der Sozialstaat wird zum Bestrafungsstaat.

Die Kriminalisierung der Armen verdeckt die Herausbildung einer neuen Arbeiterimmigration, die im Innern der Gesellschaft in einer Situation der sozialen Apartheid außerhalb des bürgerlichen Rechts lebt. Eine billige Arbeitskraftreserve, weit unterhalb der von den »Sozialpartnern« ausgehandelten Normen. Der heimlich eingewanderte Arbeiter kann, gemäß den Bedürfnissen der Produktion, ersetzt, beschäftigt, jederzeit hinausgeworfen werden. Er wird nicht ausgebildet, nicht medizinisch behandelt, untergebracht, er ist auf seine einzige Qualität als Ware Arbeitskraft reduziert. Der ständige polizeiliche Druck wechselt sich ab mit einer Reihe von Regulierungsmaßnahmen und einer selektiven Behandlung dieser Billigarbeitskraft. Anfänglich wurde sie nur in marginalen Dienstleistungsbereichen gebraucht, heute aber ist sie in großen Bereichen kapitalistischer Produktion - Nahrungsmittelproduktion, Baugewerbe - allgegenwärtig.

Die »Sicherheitspolitik« setzt die Kriminalisierung der sozialen Frage um und verkündet das Ende der »Einwanderungsfrage«. [...]

 

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