Wildcat Nr. 67 - Oktober 2003 - S. 48-51 [w67gcamp.htm]


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Die bedrohlichen Kehrseiten des Antirassismus

Ein bissiger Nachtrag zu den unbeendeten Debatten auf dem Kölner Grenzcamp

Anfang August fand in Köln das sechste, »antirassistisch« genannte Grenzcamp statt. Dieses wurde einen Tag vor dem geplanten Ende von 2 500 Bullen das erste Mal in seiner Geschichte vorzeitig abgebrochen. Mit hanebüchenen Begründungen zogen die Bullen mit Hilfe eines 17stündigen Kessels in brütender Hitze eine Totalerfassung durch ED-Behandlung von rund 500 Leuten durch. Den Festgenommenen sollen nun Strafverfahren angehängt werden. Allerdings taugt die durch die Repression vorläufig hergestellte Homogenisierung der Campistas für die inhaltliche Bestimmung und Durchführung weiterer Grenzcamps absolut nicht. Die in der Vorbereitung und im Verlauf des Kölner Camps aufgetretenen gravierenden politischen Widersprüche stellen den Charakter der Grenzcamps selber zur Diskussion. Einige der zentralen Debatten auf dem Kölner Camp können so nicht noch einmal wiederholt werden. Der nachfolgende Beitrag wird einen Teil der Debatte zwischen Antirassisten und Autonomen im Zusammenhang mit den Grenzcamps nachzeichnen - der Verfasser rechnet sich dem autonomen Lager zu.

Bereits in der Vergangenheit wurden mit den Grenzcamps sehr unterschiedliche Perspektiven verbunden: der eine Flügel betrachtete die alljährliche Versammlung von ein paar hundert Leuten als Optimierungsreservoir für seine ansonsten eher kümmerliche Praxis von Antirassismus. Ein Missverständnis dabei ist der Glaube, Antirassismus sei umstandslos Teil einer gegen die Verhältnisse gerichteten antagonistischen Bewegung. Antirassismus besitzt in Begriff wie politischer Praxis seine ganz eigenen produktiven Seiten zur Macht. Hier spielen in den Abwehrkämpfen der 90er Jahre erlittene Ohnmachterfahrungen zusammen mit einer lobbyistisch interessierten und zuweilen auch staatlich protegierten Verkürzung von Konflikten gegen Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Diskriminierung und Unfreiheit. Die in diesem Land politisch handlungsrelevante Spielart von Antirassismus versucht sich in letzter Instanz die Welt aus dem Rassismus selbst zu erklären. Dabei besorgt dieser einfältige dichotomische Zugriff eine gesellschaftstheoretische Selbstentwaffnung, die der Errichtung eines autoritären Moralregimes voran geht: wer es überhaupt wagt, den Antirassisten zu widersprechen, besitzt nicht die geringste Legitimität für einen anderen Blick auf die Welt, sondern kann nur ein Rassist sein. Der Anspruch auf fundamentale Gesellschaftskritik bleibt ein Lippenbekenntnis, Antirassismus wird so zu einer Kümmerform der Gesellschaftskritik. Für diese ist es nur ein kleiner Schritt, jegliche gesellschaftskritischen Ansprüche zugunsten der in der bürgerlichen Gesellschaft auf ihre Art immer wirksamen Ideale von Gleichheit aufzugeben. Spätestens hier wird aus einem begrifflichen Problem eine handfeste, zum Teil verstaatlichte oder finanziell alimentierte Praxis von Antirassismus. Solange es noch Abschiebeknäste gibt, wird dazu immer eine - ruhig auch mal »antirassistisch« genannte - sozialfürsorgerische Betreuung und Verwaltung gehören. Der in diesem Land existierende Modus von Facharbeit umgreift dann auch den Antirassismus zum Kleinarbeiten politischer Konflikte. In der Geschichte der Grenzcamps ist klar geworden, dass nicht nur mit dem Rassismus, sondern auch mit bestimmten Spielarten des Antirassismus politische Geschäfte gemacht werden können. Exemplarisch hierfür war die zum Frankfurter Grenzcamp 2001 lancierte Kampagne unter dem zwielichtigen Motto »Jeder Mensch ist ein Experte«. Hiermit glaubten Antirassismusexperten, an die von der Bundesregierung betriebene Green-Card-Debatte anschliessen zu können. Diese Praxis hat sich zwischenzeitlich auch in die (berufliche) Biographie einzelner Antira-AktivistInnen eingeschrieben, für die »gute« Sache stehen sie heute im Sold einiger Antifa- und Antiraprogramme der Bundesregierung.

Der bewegungsautonome Flügel verband mit den Grenzcamps die Idee direkter kollektiv-politischer Vergesellschaftung der unterschiedlichsten Leute. Der Schwerpunkt war nicht »Antirassismus«, sondern die Reflexion und die Zirkulation um den vielschichtigen Begriff »Grenze«. In dieser Konzeption werden die auch gegen Rassismus mobilisierten Leute nicht als tote Gefäße zur Auffüllung längst beschlossener Kampagnen betrachtet, sondern mit ihnen selbst ist im Verlaufe des Camps in die Kommunikation, in die Aktion und in den Streit mit der Perspektive des Kampfs für eine bessere Welt zu treten. Diese Konzeption eröffnet auch die Perspektive auf eine Kritik von Antirassismus. Hinzu kam die attraktive Möglichkeit, mit ein paar hundert Leuten einmal im Jahr aus dem eigenen, zwischenzeitlich ziemlich privat gewordenen Alltag herauszutreten und einen aktivistisch-experimentellen Ferienkommunismus zu probieren.

Für das Durchführen der Grenzcamps nicht zu unterschätzen ist eine nicht von vornherein falsche politische Praxis des Verwaltens und Moderierens einer spannenden Form der Assoziation vieler Leute. Jede politische Praxis, die den Bereich der Kleingruppe oder des Zirkels verlässt, muss neu Hinzukommende in die Sozialität einer Assoziation aufnehmen können. Man braucht dafür einen organisatorischen Konsens, in den Leute einbezogen werden müssen, die sich nicht umstandslos den politischen Positionen der AktivistInnen zuordnen lassen. Andererseits macht die Herstellung und Praktizierung einer Organisierungsmacht manchmal denen, die sie in mühevoller Kleinarbeit herstellen, jenseits aller Inhalte auch Spass. Wenn aber die Macht der Form und ihrer Verwalter zum alleinigen Inhalt wird, ist das nicht nur Ausdruck konservativer Politik, sondern auch das Ende der Bewegung.

In dieser Konstellation, die zumindest in organisatorischer Hinsicht auch ein Bündnis zwischen Antirassisten, Autonomen und ModeratorInnen war, konnte das Projekt Grenzcamp von 1998 bis 2001 eine Aufwärtsbewegung, zumindest hinsichtlich der Beteiligung, realisieren. In den Grenzcamps traf sich ein sonst nicht übliches Gemisch, das nicht in geschlossenen Räumen, sondern auf der Feld- und Campingplatzwiese für eine lange Woche alle Fachöffentlichkeiten der Politik-Zirkel, der Kampagnenunternehmer und der Sub-Sub-Identitätskulturen sprengte. Es reichte von Kein Mensch ist illegal-Aktivisten, Antifas, Antirassisten, Autonomen, Bauwagen-Leuten und Hippies bis zu Flüchtlingen, Frauen/Lesben, MusikerInnen, linken Intellektuellen, Menschenrechtlern, Migranten, No globals, Punks und Volksküchenaktivisten. Mit einem nicht geringen Quentchen an Unvorhersehbarkeit konnten in dieser Zusammensetzung immer mal wieder spannende Debatten und zum Teil pfiffig-militante Aktionen gegen das Abschiebungsregime, gegen Nazis und Rassisten durchgeführt werden.

Dieses prekäre Bündnis wurde nach dem Grenzcamp in Frankfurt von Vertretern des antirassistischen Flügels liquidiert. In einem Modus bürgerlicher Politik, die allen alles verspricht, wurde mit erklärtem Kurs auf »Erfolg« die Durchführung des nächsten Grenzcamps in Jena ausschließlich auf der Basis von Antirassismus organisiert. Die Alternative, mit einem Grenzcamp in Hamburg gegen Rechtspopulismus und autoritäre Formierung zu mobilisieren, wurde in Form einer Abstimmung auf einem Treffen in Göttingen abgeschmettert. Natürlich ist das Wagnis, etwas Unvorhersehbares zu organisieren, machtpolitisch leicht auszuhebeln. Aber der Grenzcampvorbereitungskreis hatte sich mit der trickreichen Durchsetzung eines formalen Abstimmungsverfahrens von der Bewegungs- in die Machtfrage manövriert. Wo vielen Leuten in diesen bedrückenden Verhältnissen fast nichts mehr, geschweige denn noch irgendetwas anderes vorstellbar ist, bleibt ihnen immer noch der Antirassismus.

Danach kam es aus der Perspektive des autonomen Bewegungsflügels zu einer Trennung, aus der Perspektive des Antirassismus-Flügels zu einer Spaltung des Projekts Grenzcamp. Im Sommer 2002 fand das offizielle fünfte antirassistische Grenzcamp in Jena statt. In Hamburg veranstaltete der autonome Bewegungsflügel ein »ordnungswidrig« genanntes »Land-in-Sicht-Camp« (LiS) gegen Rechtspopulismus und autoritäre Formierung. Für beide Camps war von vornherein klar, dass der unter den günstigen lokalen wie globalen Bedingungen mit dem Grenzcamp in Frankfurt erreichte Erfolg nicht wiederholbar war.

Überraschenderweise wurde das Camp in Hamburg vom Schill-Senat komplett ignoriert. Darüber hinaus hatte es in der Vorbereitung mit der Obstruktionspolitik orthodox-autonom-antiimperialistischer Gruppen zu kämpfen. Diese spürten, dass eine zentrale Idee des Camps auch gegen die von ihnen gehütete übersichtlich starr-autoritäre Anti-Ra-Sex-Kap-Imp-Ordnung gerichtet war. Mit »Argumenten« aus dem Arsenal des rechten politischen Zeitstroms wurde Front gemacht gegen öffentliche Veranstaltungen zu Fragen der Sexualität und zum Bezug von Linken in diesem Land zu Antisemitismus, Israel und Palästina. Zudem war das LiS-Camp mit einer alternativ-autonomen Beliebigkeit vieler TeilnehmerInnen konfrontiert, von denen die wenigsten über politische Organisierungserfahrungen verfügten. In einer zunächst antiautoritär-konsumistisch erscheinenden Haltung nahmen sie die mühsam erarbeiteten Camp-Strukturen in Beschlag, um sich ausgerechnet darin zu überlegen, was man als »dominant« empfinden könnte. Diese »Erwartung« erfüllte sich natürlich sofort, sind doch auf einem Camp leicht Leute auszumachen, die frecherweise politisch unbequeme Positionen vertreten und das mit Leidenschaft, d.h. mit »unerträglicher Dominanz«. Beide Probleme sind tückische Varianten des herrschenden gesellschaftlichen Autoritarismus, und es war eine Schwäche der LiS-Initiatoren, auf dem Camp dagegen nur sehr mühsam den Streit organisiert zu haben.

Auch wenn mit dem LiS-Camp enorme Geldgewinne gemacht werden konnten, war es aus der Sicht der InitiatorInnen »kein Erfolg«. Jena schien unter den ungleich schwereren Voraussetzungen des polizeidiktatorischen Regimes in Thüringen mit ähnlichen Problemen konfrontiert zu sein. Überraschenderweise wurde es aber von seinen OrganisatorInnen kurzerhand zum »Erfolg« erklärt. In dieser überraschenden Konstellation erstarb auf einem gemeinsamen Nachbereitungstreffen im Herbst letzten Jahres in Meuchefitz/Wendland ein Wiederannäherungsversuch beider Lager in dröhnender Sprachlosigkeit. Hier hatten die OrganisatorInnen des Hamburg-Camps etwas ungläubig den Anwurf der Jena-Camp-OrganisatorInnen zu schlucken, ihre Trennung vom Grenzcamp sei eine »rassistische Spaltung von den Flüchtlingen« gewesen. In sträflicher Weise wurde es versäumt, diesen Anwurf entweder bedingungslos aus der Welt zu schaffen oder restlos aufzuklären.

Mit diesem nach Nirgendwo verschleppten Konflikt war schon alles wieder zuende, gäbe es hier nicht die ungeheure Macht der Form und die filigrane Praxis der Moderatoren und Verwalter. Auf einem weiteren Vorbereitungstreffen zeichnete sich ab, dass der Antirassismusflügel mit einer wesentlich von Flüchtlingsorganisationen geführten Anti-Ausreisezentren-Kampagne in Nürnberg auf eine schlichte Wiederholung von Jena setzte. Die für den Ort Nürnberg auf einem Grenzcampvorbereitungstreffen in Berlin im Februar vorgetragenen Antirassismus-Begründungen, die implizit auf eine völkisch-nationale Grundlage reflektierten (»In der Stadt Nürnberg gibt es auch Türken, Kurden und Afrikaner ...«) lösten bei den wenigen nach dem Meuchefitz-Treffen noch verbliebenen Hamburg-Camp-Aktivisten sprachloses Staunen aus. In dieser trostlosen Konstellation »dachte« sich die ModeratorInnenströmung mit dem Argument »zusammen bleiben« zu wollen, einfach den Ort Köln aus. So wurde es dann beschlossen ... und nahm seinen Lauf. Für die Leute, die das Hamburg-Camp auf die Beine gestellt hatten, verband sich mit Köln kein Traum mehr. Damit verschwand auch die organisatorische Präsenz einer wesentlichen Frage, die auf das in den vorangegangenen Camps aufgetauchte Problem der Autonomie vieler TeilnehmerInnen reagierte. Dieses Problem bestand schlicht darin, dass vielen unorganisierten CampteilnehmerInnen die Voraussetzungenen fehlen, gegenüber den herrschenden Verhältnissen eine eigenständige politische Position und oppositionelle Praxis zu entwickeln. Der Jena-Flügel überklebte dieses gravierende Autonomie-Problem mit dem leeren Slogan einer »Autonomie der Migration«. Fast ist es überflüssig zu erwähnen, dass in den Köln-Vorbereitungen weder der Gedanke der Ordnungswidrigkeit geschweige denn die Problematik der autoritären Formierung eine Rolle gespielt haben.

In Köln versuchten dann die Leute, die das Camp in Jena organisiert hatten, das zu wiederholen, was bereits während des Frankfurter Camps auf einer Großveranstaltung exemplarisch gescheitert war. Auf einem dreitägigen Auftaktforum unmittelbar vor dem Camp sollte doch tatsächlich der »Antirassismus ausbuchstabiert« werden. Dieser Zugriff wirkte nicht nur in der Form kleinbürgerlich und beflissen. Die aus vielen guten wie schlechten Gründen kümmerliche Praxis unterschiedlicher Antira-Initiativen wurde einfach zu »Ansätzen« aufgeblasen und in universitären Räumlichkeiten mit gewohnt elendiger Atmosphäre repräsentativ im Saal verteilt. Ich bin bereits nach dem ersten Vortrag gegangen, als ein Vertreter der Gruppe Elexir-A statt der vorgesehenen 10 für 40 bitter lange Minuten eine Aneinanderreihung von Merksätzen wie: »Es ist wichtig, gleichberechtigt mit Flüchtlingen zusammenzuarbeiten« zum Besten geben konnte, ohne dass die Moderation eingriff. Es war absurd, wie sich 200 antirassistisch gesonnene Leute stundenlang solche Aussagen anhörten, die meilenweit an ihren politischen Erfahrungen vorbeigehen. Der weitgehend gedankenlose Vortrag wie auch die apathische Reaktion des Publikums weisen auf den beunruhigenden Sachverhalt hin, dass im Antirassismus zwar viel beflissene Verwaltung, Beratung und leerer Anspruch, aber weder Leidenschaft noch eine eigene Frage stecken. Ein Genosse schrieb, dass auf diesem Forum »Spezialisten (...) auf Podien in einer Hochschule (sassen) und (...) mäßige Vorträge zum Besten (gaben). Aber vor allem schafften es die beteiligten Gruppen wie Kein Mensch ist illegal, Elexir-A, Kanak Attak, Karawane, The Voice, die Flüchtlingsinitiative Brandenburg und auch das Campvorbereitungsteam nicht, die grundlegenden Widersprüche ihrer Analysen und ihrer politischen Arbeit zur Sprache zu bringen. Die Angst davor, die Einheit der Bewegung zu gefährden, spielte dabei wohl eine große Rolle. So blieb es (...) bei der Fixierung auf die rassistischen Verhältnisse.«

Diese Sprachlosigkeit setzte sich in das »inhaltliche Eröffnungsplenum« am Montag hinein fort. Dort suchte eine geringe TeilnehmerInnenzahl für drei lange Stunden ziellos nach einem »Inhalt« für das Grenzcamp. Kurz bevor schon fast alle gegangen waren, attackierte ein Autonomer (der Verfasser dieser Zeilen) doch noch die Plattitüden des Antirassismus und spitzte seine Erfahrungen der »gleichberechtigten« Zusammenarbeit am Beispiel der Organisation The Voice dahingehend zu, dass diese zumindest mit ihm nie »gleichberechtigt« zusammengearbeitet hätte. Man habe ihn ständig als eine Art »Kampagnensoldat« zum Zwecke der bloßen Auffüllung eben dieser angesprochen. Dieser Anwurf war zwischen den Kontrahenten lange bekannt und provozierte erregte Gegenreaktionen der Angesprochenen. Er reflektiert auf die politische Praxis der Gruppe The Voice, das latent schlechte Gewissen und das individualpsychologische Rassismus-Trauma deutscher Antirassisten für die ausschließlich von ihnen bestimmte Kampagnenpolitik gegen die Residenzpflicht zu funktionalisieren. Diese von The Voice in der Struktur zynisch exekutierte Politik, die selbstredend anti-autonom ist, wird nicht akzeptabler dadurch, dass sie in zynischen Verhältnissen stattfindet.

The Voice-Aktivisten nutzten dann mit einer von »allen Flüchtlingen auf dem Camp« unterstützten Erklärung, mit der der abstruse Vorwurf eines »racist attack«, der »Konsequenzen« haben müsse, erhoben wurde, die Gelegenheit, sich in die zentrale Sprechposition in der Moralordnung des Antirassismus zu bugsieren. So wurde eine politische Kritik schlicht durch das Stellen der Machtfrage beantwortet. In der autoritären Ordnung des Antirassismus kann politischer Widerspruch nicht als konstitutiv aufgefasst werden, sondern muss in einer Art Gehäuse der Hörigkeit als bedrohliche Abweichung ausgeschlossen werden. Die besagte Erklärung wurde dann auf dem Dienstags-Plenum vorgetragen und vom Publikum engagiert beklatscht. Die Brandmarkung einer Person als »rassistisch« plus Ausschlussforderung, die von profilierten Antira-Aktivisten eingebracht wurde, die sich mit dem Begriff »Flüchtlinge« verkleideten, schien bei dem Publikum den Reflex auszulösen, sich für Momente in eine Art von Meute zu verwandeln, die Witterung aufgenommen hat.

So wurde dann für Mittwoch-Abend das erste und einzige substanzielle Plenum des Camps angesetzt, zu dem sich für weit über vier Stunden über zweihundert Leute konzentriert versammelten. Die Diskussion verlief zwischen der impliziten Ausschlussforderung auf der einen Seite und der expliziten Forderung, den Anwurf »racist attack« umstandslos zurück zu nehmen, auf der anderen Seite. In der Debatte waren zwei wesentliche politische Fiktionen präsent: erstens, dass es auf dem Camp Leute geben könnte, die es von vornherein »falsch finden«, überhaupt mit Flüchtlingen zusammenzuarbeiten; zweitens, dass jeder, der nicht bereit ist mit Flüchtlingen zusammenarbeiten, selbst »rassistisch« sei. Wer sich auch nur einen halben Meter außerhalb des angemieteten Grenzcampgeländes bewegt hätte, würde diese Fiktionen sofort als absurd erkannt haben. In der Phantasielosigkeit der Diskussion machte sich aber hinterrücks die autoritäre Formierung geltend. Und somit waren solche Fiktionen leider handlungs- und denkrelevant für dieses Plenum. Während die Seite des Antirassismus in der Art einer Gerichtsverhandlung ihr Moralregime durch Ausschluss zu objektivieren versuchte, tastete die andere Seite nach einer politischen Argumentation, die sowohl auf der Höhe der Zeit als auch der tatsächlichen materiellen Interessen war. Die Worte einer furchtlosen Sans-Papiers-Aktivistin aus Frankreich waren besonders erfrischend: sie sprach von einer sie beunruhigenden »Terrorisierung der Bewegung durch moralische Erpressung« und machte geltend, dass »alle Menschen unabhängig denken und handeln« sollten; sie sehe sich mitnichten als Antirassistin, »da es ausreichend andere Analysestränge« gäbe. Und sie hoffe nicht, »dass The Voice nach Frankreich« fahre, um die »Sans-Papiers-Kollektive, die sich nicht als Antirassisten sehen, des Rassismus (zu) bezichtigen.«

Produktiv war an diesem Plenum im Unterschied zum Forum, dass sich die Protagonisten in sehr direkter Weise sagten, was sie voneinander halten und damit, was sie über die Gesellschaft denken. Und das war alles andere als schön. Es steckt wohl eine tiefere Wahrheit dahinter, dass einem Flüchtling als Reaktion auf den politischen Widerspruch vom Montag nur noch die eigenen traumatischen folterähnlichen Erfahrungen im Abschiebeknast einfielen, die er in sadistischer Weise dem Widersprechenden an den Hals wünschte. Ergänzt wurde eine derartig beunruhigende Aussage unter anderem dadurch, dass ein anderer Flüchtling sagte, er sei »gerne ein Soldat des Grenzcamps«, ein anderer Flüchtling zeigte sich »froh« darüber, hier auf dem Camp bereits »eine Mehrheit hinter sich« zu wissen. Schliesst man für einen kurzen experimentellen Moment die erste und die dritte - von völlig verschiedenen Leuten gemachten - Aussagen in polemisch-unsachlicher Weise zusammen, dann wird eine makabre Wahrheit daraus: es scheint derzeit in diesem Land in der Tat eine Mehrheit dafür zu geben, Leute, die massiv nerven, zu foltern. Hierzu passte dann die Aussage eines deutschen Flüchtlingsunterstützers: an die Adresse des Delinquenten liess dieser unter Hinweis auf ein wesentlich aus »Frauen bestehendes Schutzkommando« für den Bösewicht seinem Sexualneid freien Lauf. Es waren Beiträge wie diese, die einen Genossen von Kanak Attak zu der Aussage provozierten, es sei bitter, einer Situation beizuwohnen, in der »sadistische Phantasien in den Raum kriechen«. Er erlebe hier eine »autoritäre Formierung, wie sie unsere Eltern nicht besser hinbekommen hätten«.

Weder gingen die Autonomen kollektiv vom Camp, noch wurde der Anwurf des »racist attack» zurückgenommen. Zur nicht unwichtigen Form ist noch zu sagen, dass die in aller Regel cool vorgetragenen Argumente auch durch die Moderation, die Übersetzung und ein zentrales Mikro in fast halb-parlamentarischer Weise ausgetauscht wurden. Diese Form der in weiten Phasen ohne Irritationen, Erschütterungen und letztlich vor allem auch ohne weitere Neugier von etwa 30 Personen vorgetragenen Verlautbarungen verweist darauf, dass zwischen den Grenzcamp-ProtagonistInnen etwas unwiderruflich zuende gegangen ist. Verliert man dabei den Inhalt des aus der Ordnung des Antirassismus Ausgesprochenen (siehe oben) nicht aus dem Auge, dann ist das aber - und wenigstens am Schluss soll doch noch etwas Positives gesagt werden - gut so.

Kurt Rotholz

Weitere Informationen zum Kölner Grenzcamp im Internet unter:
http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/camp03/index2.html


Zur Debatte um Rassismus und Antirassimus finden sich weitere Texte auf unserer Webseite im Dossier »Migration, Arbeiterkämpfe und Rassismusdebatte«, u.a.:

In »RAT - und wie der schwarze Kampf auf den Hund gekommen ist« analysiert A. Sivanandan, wie der antirassistische Klassenkampf in Großbritannien durch die Ethnisierung und das Projekt der »multikulturellen« Gesellschaft zersetzt wurde. Zugleich handelt es sich um einen historisch fundierten Beitrag zur Kritik von »Identitätspolitik«.

Der Text »Die Rassismusfalle« im Wildcat-Zirkular Nr. 14, April 1995, wies darauf hin, wie im Antirassismus die Gefahr angelegt ist, die von der Gegenseite aufgezwungenen Grenzziehungen zu übernehmen, statt sie zu überwinden - angesichts der Debatten auf dem Grenzcamp ein immer noch sehr aktueller Text.

Aus ganz praktischen, eigenen Erfahrungen heraus geschrieben ist der Beitrag »Antirassistische Politik zwischen »sozialarbeiterischer« Betreuungspolitik und militantem Widerstand«, den wir 1992 in der Wildcat abdruckten.

Darüberhinaus finden sich in dem Dossier viele weitere Berichte über Kämpfe von Migranten, die Auseinandersetzung mit der Razzienpolitik und Erfahrungen von Flüchtlingsgruppen.


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