Antwort auf Kritik an »Jenseits der Sturmhauben«
Charles Reeve
Bevor ich auf die Beiträge von Chrisje (C) und Montyneill (M) eingehe, ein paar Worte zur Entstehung unseres Textes »Jenseits der Sturmhauben« [1]. Selbstverständlich ist das folgende nur meine eigene Meinung, aber ich glaube, es gibt in den ganzen Fragen keine grundlegenden Meinungsverschiedenheiten mit meinen Mitautoren Deneuve und Geoffrey.
Wir haben diesen Text über die Chiapas-Frage geschrieben, um Position innerhalb der europäischen antiautoritären, libertär-sozialistischen Szene zu beziehen, in der wir seit vielen Jahren aktiv sind. Wir konnten nicht akzeptieren, daß emotionale Unterstützung für die EZLN Menschen davon abhielt, Fragen nach der politischen Bedeutung dessen zu stellen, was in Chiapas los war, und diese Vorgänge vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit ähnlichen Bewegungen und Unterstützungskampagnen in der Vergangenheit zu kritisieren. Als wir »Jenseits der Sturmhauben« schrieben, gab es in Europa nur einen Text, der eine schlüssige politische Analyse lieferte (von einer Athener Genossin, Katerina) [2].
Schwächen der politischen Diskussion und linker Gedächtnisschwund
Am Anfang und mit Ausnahme einiger französischer anarchistischer Zeitschriften wurde unser Text nur mit Stillschweigen beantwortet. Trotzdem wurde er breit verteilt und ist inzwischen in fünf Sprachen übersetzt. Viele AktivistInnen aus den Zapatista-Unterstützungskomitees haben ihn gelesen. Zunächst wurde der Text höflich übergangen, aber allmählich kam doch so etwas wie eine Diskussion über ihn in Gang. Wir hatten nie geglaubt, in allen Fragen richtig zu liegen, und wußten, daß der Text seine Grenzen hat; aber von den Reaktionen auf ihn waren wir enttäuscht, weil sie die Schwäche der aktuellen politischen Debatte zeigten. Selbst wenn wir Marcos' literarische Ergüsse miteinbeziehen, wissen wir heute immer noch wenig darüber, wie die Menschen in Chiapas leben, arbeiten, denken und handeln.
Ein Beispiel dafür: Kürzlich hat die mexikanische Regierung auf der Ricardo Flores Magon-Kooperative und im gleichnamigen Dorf interveniert (New York Times, 12.4.98). Die zur Verfügung stehenden Informationen beziehen sich auf die politische Ebene, aber über die Aktivitäten der Kooperative ist wenig bekannt: ihre Organisation, die interne Hierarchie, Produktionsformen und Arbeit, Löhne. Auch bleibt die Frage offen, was in diesem Fall der Bezug auf Flores Magon - der 1910 die autoritären Aspekte des Zapatismus offen kritisierte - für die Bauern bedeutet. Vielleicht könnte C Aut-op-sy mit ein paar Informationen versorgen ... Aber wenigstens gibt es jetzt überhaupt eine Diskussion, und inzwischen sind viel mehr kritische Informationen zugänglich. Von unserem Standpunkt aus ist das ein Fortschritt.
Dieses neue Verhalten ist kein Ergebnis unseres Textes, es wäre lächerlich, das zu behaupten. Es ist ein Ergebnis der neuen Entwicklungen in Mexiko und auch der politischen Position der EZLN. Zumindest in Europa hat sich die EZLN disqualifiziert, indem sie vielen aufrichtigen AktivistInnen gezeigt hat, daß sie wie jede traditionelle linke Organisation funktioniert: sie manipuliert Unterstützungsnetzwerke und benutzt sie gemäß ihren politischen Erfordernissen. In Frankreich z.B., wo viele Trotzkisten, Anarchisten und andere Libertäre eine Menge an Großzügigkeit und Energie in die Unterstützungsarbeit gesteckt haben, hat sich die EZLN den alten Linksparteien (Sozialisten und Kommunisten) zugewendet - eben den Parteien, die jetzt die Staatsgeschäfte betreiben, die wütenden Arbeitslosen nach Aktionen mit Repressionen überziehen und »illegale« EinwandererInnen deportieren. Zwischen diesem Opportunismus der EZLN und ihren politischen Avantgarde-Prinzipien besteht für uns ohne Zweifel ein enger Zusammenhang. Taktische Erklärungen überlassen wir anderen. Denn Schizophrenie scheint ein Bestandteil von bürgerlicher Politik und Avantgardismus zu sein.
Da wir uns sehr auf unsere Polemik gegen ein naives Linkssein konzentriert haben, sind wir möglicherweise in einer Frage nicht eindeutig genug gewesen. Wir respektieren die Revolte der Proletarier, der armen Bauern, der Frauen und Jugendlichen in Chiapas. Wir weisen die Anschuldigung zurück, wir »hätten Geringschätzung« für das, was die Menschen in Chiapas tun. Wir wissen, daß ihre einzige Möglichkeit, die Würde zu gewinnen, in ihrer Revolte liegt. In diesem Zusammenhang fand ich alle Hinweise auf die Aufständischen in Chiapas als »indigenes Volk« sehr merkwürdig. Für einen libertären Sozialisten ist jede, die gegen das System kämpft, eine Genossin, ungeachtet der unterschiedlichen sozialen Bedingungen, unter denen wir leben. Schließlich sind wir alle »Eingeborene des kapitalistischen Territoriums«. Ich kann nicht erkennen, wie ein Verhältnis der Selbstemanzipation untereinander entwickelt werden kann, wenn dieses Prinzip nicht respektiert wird und wenn man Widersprüche und Übereinstimmungen nicht gleichberechtigt ausdrücken kann.
Mit diesem Aufstand solidarisch zu sein, bedeutet nicht, die politische Organisation unkritisch zu unterstützen, die im Namen dieses Aufstands spricht. Meinungsverschiedenheiten drücken keine Verachtung aus! Vielleicht liegt die Verachtung nicht da, wo nach ihr gesucht wird, sondern in einer paternalistischen, schuldbeladenen Position gegenüber dem »indigenen«. Ganz zu schweigen von der Kritiklosigkeit, der Billigung und sogar der praktischen Unterstützung, die Linke der reaktionären Kraft katholische Kirche im Namen »indigener Werte« entgegenbringen. Ich meine damit selbstverständlich nicht ein Verhältnis revolutionärer Solidarität, das sich zu jemandem entwickeln läßt, der an Gott glaubt (manche von uns glauben möglicherweise an Lenin, Che und Marx ...); ich meine hier die Kirche als politische Kraft.
Möglicherweise sind in solchen Situationen nur Organisationen wie die EZLN in der Lage, dieser Art von Revolte eine Stimme zu geben. Das ist eine eigenständige politische Frage, die diskutiert und analysiert werden muß. Da wir aber meinen, daß nicht jede Art von politischer Aktivität zur sozialen Emanzipation führt und daß zwischen beiden ein Zusammenhang besteht, denken wir, daß wir die politischen Prinzipien solcher Organisationen auch kritisieren können. Denn wir gehen davon aus, daß diese Prinzipien den Aufstand in eine Sackgasse führen werden und daß die Aufständischen in Chiapas dafür schwer bezahlen werden. Indem wir unsere Vorstellungen zum Ausdruck bringen, tun wir das einzige, was man tun kann, um mit den Aufständischen in Chiapas solidarisch zu sein. Das machen wir in Paris und Berlin, wo wir leben, und wir würden dasselbe versuchen, wenn wir in San Cristóbal lebten. Können wir ihnen »eine schlüssige Alternative anbieten« (C), außer dabei mitzuhelfen, über die Widersprüche und die Konsequenzen dessen nachzudenken, was die Menschen selber tun, und darüber, was wir selbst tun, wenn wir sie unterstützen? Die Frage nach den »schlüssigen Alternativen« kommt mir ziemlich anmaßend vor. Und was bieten diejenigen an, die die Zapatisten unterstützen, außer daß sie die politische Linie und Praxis der EZLN stärken?
Wie ich schon sagte, dieser Text richtete sich nicht an die Aufständischen in Chiapas, sondern an diejenigen, die die EZLN von außen unterstützen. In diesem Sinn hat unser Text seine Grenzen. Ich würde sagen, er versäumt es, einen wichtigen Aspekt dieser Bewegung herauszustreichen. Die zapatistische Führung war in der Lage, eine globale Analyse der aktuellen Situation des Kapitalismus zu präsentieren, indem sie sie als neoliberale Herrschaft kennzeichnete. Man kann - wie wir - diese Interpretation für falsch halten (siehe auch den Text von Richard Greeman [3]), aber Tatsache ist, daß sie über den in Mode gekommenen postmodernen Lokalismus hinausgegangen ist. Es ist traurig, aber Marcos und Co. sind den meisten ihrer UnterstützerInnen weit voraus, indem sie nicht für zeitweilig autonome Gebiete (wie sie z.B. von vielen nordamerikanischen Anarchisten gerühmt werden) eintreten, sondern für eine globale Sichtweise ... Auch daran zeigt sich die politische Oberflächlichkeit dieser Unterstützungsbewegung.
Unser Text wird als »kindisch« (C) bezichtigt, unsere Position als »puristisch« (M). Das läßt sich auch andersherum sehen: »Puristen« sind diejenigen, die jede Kritik der gegenwärtigen Situation ablehnen. Und was bedeutet »konstruktive Kritik« (C)? »Konstruktiv« für wen? würde Malcolm X fragen ... Und handelt es sich bei Kritik um eine einseitige Angelegenheit (»von ihnen lernen«)? »Mängel zu finden, ist bestimmt nicht schwer, aber nicht sehr hilfreich, wenn dies nicht mit einer wirklichen Diskussion über Verbesserungen einhergeht« (M). Es könnte auch eine andere Definition von konstruktiver Kritik geben: Eine Kritik, die dabei hilft, den Prozeß zu verbessern. Und was passiert, wenn man überzeugt ist, daß der Prozeß im besten Fall zu neuen Formen von Ausbeutung und im schlimmsten Fall zu einem großen Massaker führt? Ich schätze, ihr solltet einfach das Maul halten. Genau das »erklärten« einige EZLN-Anführer (mitten in der Nacht und schwerbewaffnet) bei der internationalen Konferenz in Chiapas im letzten Jahr einigen armen französischen UnterstützerInnen, die es wagten, ihre Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck zu bringen, daß sie unter den eingeladenen »VIPs« einige heftige Gegner der Generalstreikbewegung vom Dezember 1995 entdeckten (z.B. den Soziologen Alain Touraine, für den die zapatistische Bewegung zeigt, daß die Sozialdemokratie sogar in Chiapas die Zukunft bedeutet und daß der alte Guerilla-Krieg vorbei ist). Chiapas ist das eine, eure französischen internen Angelegenheiten das andere, bekamen die überraschten französischen Linken zu hören. Wer hatte gerade noch vom Internationalismus gegen den Neoliberalismus geredet? Diese unkritische Art zu denken kann zu merkwürdigen persönlichen Beschuldigungen führen, die nach alten Avantgarde-Praktiken riechen. Da gibt es z.B. uns, »Leute, die in der relativen Bequemlichkeit der Pariser Autonomenszene leben« (C), Leute, die »ihre Kleidung nicht mit ihren Nachbarn teilen« (M) [4], und es wagen, über die »indigenen Menschen« zu sprechen. Ist das eine neue Definition von Radikalität, ein T-Shirt mit mehreren zu teilen, während der Weltkapitalismus heute eine Million T-Shirts pro Person produziert? Wären unsere Argumente akzeptabler, wenn wir lediglich ein arbeitsloser Elektriker oder eine Sekretärin wären? Wie steht es mit den Ideen von Professor Touraine und Madame Mitterand, den Freunden von Marcos? Muß man inzwischen erst seinen Personalausweis vorzeigen, bevor man eine politische Meinung gegen die EZLN vertritt?
Ein letzter Punkt. Gedächtnisschwund und Unkenntnis der Geschichte scheinen für alle diese Kommentare charakteristisch zu sein. Vor einigen Jahren bekamen wir alle zu hören, das Ende der Geschichte sei gekommen; jetzt scheint die Vergangenheit einfach verschwunden zu sein... Chiapas ist »eine der bedeutendsten Revolten gegen die kapitalistische Herrschaft in der Menschheitsgeschichte«, sagt M [5]; »es waren Leninisten und nicht Libertäre, die es geschafft haben, das ernstzunehmendste Autonomie-Projekt in der westlichen Erdhälfte zu schaffen«, meint C. Wer so etwas sagt, sollte sich vielleicht mal über die Pariser Kommune informieren oder über Bewegungen in jüngerer Zeit: die russische und deutsche Revolution, die spanische Revolution von 1936, die ungarische Revolution von 1956, die chilenische Bewegung, die portugiesische Revolution 1974, die polnische Solidarnosc-Bewegung usw.. Das könnte hilfreich sein.
Wie kann man dauernd über die Vorgänge in Chiapas reden, ohne die kürzlichen Katastrophen des leninistischen Avantgardekonzepts in Lateinamerika zu erwähnen, wie z.B. die nicaraguanische Revolution und die Sackgasse der salvadorenischen Guerillabewegung? Ist Chiapas ein vollkommen anderer Fall? Dann muß erklärt werden warum. Vielleicht bedeutet »konstruktive Kritik« auch die Fähigkeit zu historischem Gedächtnisschwund. Wo sind unter den tausenden UnterstützerInnen der salvadorenischen Guerilla und der Sandinisten diejenigen, die bis zum Schluß solidarisch waren und erklären können, wie und warum aus diesen Träumen Alpträume wurden? Vor kurzem erschien ein Bericht von einer Genossin aus Montreal, der eine seltene Ausnahme darstellt: Anite schreibt über den Prozeß nach dem Friedensabkommen in El Salvador und über die Integration der Guerilla in den Staat. [6] Neben dem großen Informationsgehalt zeigt dieser Text, wie jemand mit antiautoritären politischen Prinzipien einen Kampf unterstützen und in ihn eingreifen kann, ohne sich zwangsläufig dem Avantgarde-Realismus der militaristischen Organisationen zu unterwerfen. Und dabei entdeckt, daß andere Menschen innerhalb dieser bürokratischen Organisationen einige unserer Ideen teilen ... welch eine Überraschung!
Im folgenden will ich mich mit zwei Fragen beschäftigen, die M und C in ihren Beiträgen aufgeworfen haben: die Frage nach den »indigenen Communities« und die nach dem Einfluß der Zapatisten auf die aktuellen mexikanischen Arbeiter- und Stadtteilbewegungen.
Die Strategie der indigenen Communities
Heute ist klar, daß die EZLN ein neues Stadium des Kampfes beginnt, indem sie politische Kontrolle über Gebiete außerhalb ihrer militärischen Zonen durch den Aufbau »unabhängiger Communities« in Dörfern und kleinen Städten anstrebt. Das nennt M das »Recht indigener Communities, ihr Territorium zu kontrollieren und sich selbst zu regieren«, und für C ist es der »Raum für indigene Autonomie«. Dieser notwendige Versuch der EZLN zur Wiedergewinnung der Initiative in einem Land, das aktuell stark von der Armee kontrolliert wird, ist nichts Neues in einer Guerilla-Strategie. Dasselbe passierte vorher z.B. in El Salvador, das Ergebnis ist bekannt. Es handelt sich um einen Schritt innerhalb einer Situation, die von politischen Machtverhältnissen charakterisiert ist und perspektivisch auf einen Bürgerkrieg hinausläuft: Krieg, Barbarei und Repression werden sich so immer mehr innerhalb der Communities abspielen, und nicht nur in der militärischen Konfrontation zwischen der mexikanischen Armee und der EZLN. Uns geht es hier um die Bedeutung dieser »Räume«? Was bedeutet »ihre Ausweitung« (M)? Was ist der Inhalt dieser Autonomie? Wie schon erwähnt, es wird wenig darüber gesagt, wie die Menschen innerhalb dieser sogenannten befreiten Gebiete leben. Und befreit von wem (dem mexikanischen Staat)? Befreit von was (von alten Produktionsformen und von Löhnen)? C wirft eine wichtige Frage auf, wenn er das Verhältnis zwischen sozialem Kampf und der Reproduktion kapitalistischer Beziehungen erwähnt. Natürlich geht es nicht um ein »Genie« (merkwürdiger Ausdruck für Leute, die sich von Marcos' Führungspersönlichkeit so angezogen fühlten), das den richtigen Weg herausfindet. Reden wir von gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen? Um diese in irgendeiner isolierten Kooperative in Chiapas zu verändern (auch wenn sie Flores Magon heißt), bedarf es mehr als eines »Genies«. Kämpfe, die neue Formen gesellschaftlicher Verhältnisse auf der Grundlage von Räten, Versammlungen, Komitees hervorbringen, stellen einen politischen Bruch mit der bestehenden Gesellschaft dar. Nur das scheint in Chiapas nicht der Fall zu sein, wo all diese sogenannten neuen unabhängigen Gebiete lediglich einen politischen Bruch mit den offiziellen Behörden darstellen. Übernehmen die Menschen, die an diesen Orten arbeiten, die lokalen Verwaltungen und richten eine Art Rätemacht ein, oder geht es dabei nur um die Ersetzung der alten PRI-Bonzen durch die EZLN-Kader? Bitte sagt uns, wenn es um das erste geht. Wenn es um das zweite geht, was ändert sich praktisch in diesen Dörfern, wenn ein PRI-Bonze durch einen EZLN-Kader ersetzt wird? Die EZLN repräsentiert möglicherweise eine modernere Art der Verwaltung als die alten Bonzen, indem sie mit den totalitären Aspekten der traditionellen Gesellschaft bricht.
Übrigens haben wir nie gedacht, daß diese Aspekte über Jahrhunderte gleichförmig und unverändert waren, wir haben nur die Tatsache betont, daß sie noch existieren. Wir haben außerdem gesagt, daß die EZLN diese Aspekte gleichzeitig benutzt und bekämpft. Eine moderne Guerilla braucht Menschen mit Entschlußkraft und mit mehr Unabhängigkeit als eine Maya-Armee, das ist offensichtlich. Das ist es, was C eine »echte Volksarmee« nennt, wobei er fast den Vorsitzenden Mao und den Genossen Enver Hoxa zitiert. (Auch C erklärt, daß ihn weder der mexikanische Patriotismus innerhalb der EZLN stört, noch ihr Versuch, »eine nationale Identität als multiethnische« neu zu definieren, und ebensowenig die hierarchischen Strukturen der EZLN - all das sind Werte, die eine klare politische Distanz zwischen ihm und uns herstellen). Dieser moderne Aspekt der Guerilla erklärt auch, warum sich so viele Frauen der EZLN angeschlossen haben. Sie fliehen vor ihrem schrecklichen Schicksal in diesen Communities und hoffen außerdem, sie verändern zu können.
Das soll heißen: die Frauen sind nicht der EZLN beigetreten, weil sich ihre Situation verändert hat, sondern weil sie sich gerade nicht verändert hat. Sollte die EZLN einen kleinen Anteil an der Macht bekommen, so werden die Frauen wieder um die Rechte kämpfen müssen, die sie während des Krieges gewonnen haben - so wie es bei allen lateinamerikanischen Guerillabewegungen der Fall gewesen ist. Was das angeht, da können wir dann auf die Kirche zählen ...
Wie schon gesagt, die EZLN wirft ihre Kräfte auf die traditionelle Ebene von Politik. Das ist ihre Richtung, und diese Richtung sollten wir analysieren. Alles andere ist Gefühlsduselei. Aussagen wie, »der Kampf dieser Communities um Autonomie ist möglicherweise ein mächtiger Hebel zum Angriff auf das Kapital« (M), sind schlechte Poesie. Aber zu behaupten, Chiapas sei »eine der wichtigsten Revolten in der Menschheitsgeschichte gegen die kapitalistische Herrschaft«, das ist wirklich ein Knüller! Das erinnert mich an den Aufkleber, den Clinton in seinem Büro hatte, als er zum Präsidenten kandidierte: »Es geht um die Wirtschaft, Blödmann!« »Angriff auf das Kapital«, in diesen armen Communities von Chiapas? Das ist ein bißchen zu dick aufgetragen! Wie soll das gehen, wenn die Mehrheit der Menschen dort gerade einmal an den Rändern kapitalistischer Produktions- und Konsumbeziehungen überlebt? Diese Lebensweise erklärt übrigens auch den »starken Zusammenhalt der indigenen Communities« (C).
Trotzdem, so M, »praktizieren diese Menschen Aspekte nachkapitalistischer Gesellschaften«. Man hätte gerne einige konkrete Beispiele; denn ich kann nicht glauben, daß M damit nur meint, seine Klamotten mit seinen Nachbarn zu teilen ... Aber ernsthaft: Die meisten dieser Leute »entwickeln keinen nachhaltigen Antikapitalismus«, sie werden immer mehr in einer Bürgerkriegssituation gefangen und haben keine Kontrolle über ihr Leben und ihre Lebensweise, sie unterstützen die EZLN, um vor bewaffneten Banden und der mexikanischen Armee sicher zu sein, und stehen kurz vorm Verhungern. Und das alles unter dem heiligen Schutz einer der reaktionärsten Kräfte der Welt, der katholischen Kirche. Das ist die wirkliche Situation. Sie hat nichts mit der lateinamerikanischen Version des Langen Marsches der Maoisten zu tun, von der einige träumen.
C bringt ein starkes Argument, wenn er sagt, die EZLN halte die »subproletarischen Jugendlichen« nicht davon ab, ihre eigenen Kämpfe zu führen. Das Gegenteil zu behaupten, wäre sicherlich viel zu einfach und auch bestimmt falsch. Vielleicht ist unser Text an dieser Stelle nicht eindeutig genug ... C hat auch Recht, wenn er voraussagt, daß diese Jugend vermutlich dasselbe »Schicksal erfahren wird wie viele ihrer ZeitgenossInnen«: soziale Implosion. Wir haben tatsächlich gesagt, daß die EZLN den Aufstand nicht auf die Proletarisierung bezieht, sondern den Kampf stattdessen mit indigener Perspektive führt, denn das verschafft der EZLN (wenn auch nicht mit Sicherheit) einen lokalen Platz innerhalb der nationalen modernisierten politischen Institutionen. Das stört uns nicht (wie C denkt), wir halten es nur für wichtig, diesen Schritt als eine politische Entscheidung herauszustreichen. Für uns wird die Revolte durch diese politische Strategie an alte Werte gekettet und ihre Perspektive eingeengt. Sie ist damit langfristig nicht in der Lage, modernere politische Inhalte auszudrücken. Inhalte, die aus dieser Proletarisierung entstehen können (oder auch nicht, wie C betont), die aber allein Verbindungen zwischen der Revolte in Chiapas und den übrigen sozialen Bewegungen in Mexiko herstellen könnten. Die Revolte in Chiapas wird eine »indigene« bleiben, weil es die Revolte der EZLN ist. Und die EZLN kann nichts anderes als der Ausdruck einer »indigenen« Revolte sein. Aber in Mexiko passiert etwas anderes, etwas größeres, etwas davon unterschiedenes ...
Chiapas und Klassenkämpfe in Mexiko
Welches Verhältnis existiert (oder existiert nicht) zwischen der EZLN und den sozialen Bewegungen? M, der diese Frage aufwirft, räumt ein, daß die Unterstützung für die EZLN meistens aus den Mittelklassen kommt, und daß sie »in den Fabriken gar nicht und in den barrios [Stadtteilen] nur wenig organisiert ist.« Aber was bedeutet dann »Einfluß« (M)? Die soziale Situation Mexikos steht kurz vor einer Explosion. Kämpfe wie der Eisenbahnarbeiterstreik im Norden drücken ein hohes Niveau an Klassengewalt und auch an Repression von Staat und Gewerkschaftsbürokratie aus (wie der Bericht von Dan La Botz zeigt [7]). Wir müßten mehr über die Praxis der MULP [Movimiento de Unidad y Lucha Popular] und deren Erfahrungen in den barrios wissen. Wenn M etwas mehr darüber und etwas weniger über die Autonomie der »indigenen Communities« schreiben würde, wüßten wir vielleicht besser darüber Bescheid, was dort wirklich passsiert ...
Die Frage, die C fälschlicherweise an uns richtet, bekommt eine wirklich politische Dimension, wenn sie der EZLN gestellt wird. Welche »schlüssige Alternative« bietet sie den sozialen Bewegungen in Mexiko an? Es scheint klar zu sein, daß die EZLN keine anbietet. Außerhalb von Chiapas hat die EZLN keine eigenständigen Wurzeln. Weil sie auf bürgerlichen Organisationsprinzipien begründet ist, hat sie nichts Neues zur Gewerkschaftsfrage, zur Organisation in den barrios und zu aufständischen Streiks zu sagen. Ihre Abwesenheit bei diesen Kämpfen zeigt ihre politischen Grenzen. Was auch immer M und C über ihre »planetarische antikapitalistische« Rolle denken mögen, die EZLN hat Probleme, eine Rolle außerhalb von Chiapas zu spielen. M ist auf einmal besorgt und greift zur alten Lösung: »Etwas mehr Führung könnte hilfreich sein.« Ist das eine Kritik an Marcos? Das ist nicht nett, jetzt denkt ihr wie Puristen! Auf eine symbolische Weise hatte der durch den Aufstand in Chiapas neuentflammte Geist der Revolte und der Kampf um die Würde sicherlich einen Einfluß auf »die Zunahme von Kämpfen in Mexiko« (M). Aber wenn man davon ausgeht, daß Selbstorganisation die zentrale Frage einer breiten Selbstemanzipationsalternative ist, dann bedeutet es eine Menge, daß die EZLN dazu nichts zu sagen hat!
In der ersten Zeit nach dem Aufstand wurde darüber spekuliert, daß die zapatistische Bewegung auf die Hauptstadt marschieren könnte; heute versucht die EZLN, die korrupten Bürgermeister in Bergdörfern zu ersetzen. Was ist geschehen? Inzwischen ist Mexiko weiter in den nordamerikanischen Kapitalismus integriert, Millionen MexikanerInnen gehören jetzt zur internationalen Arbeiterklasse, das Land wurde militarisiert, Chiapas wird von nicht weniger als 100 000 staatlichen Söldnern kontrolliert (übrigens, fast vergißt man, daß Marcos letztes Jahr von den patriotischen Sektoren innerhalb der mexikanischen Armee sprach ... man vergißt neuerdings so viel), die soziale Situation ist schlimmer als je zuvor, überall gibt es Revolten und aufständische Streiks. Und nach wie vor spielt die EZLN keinerlei Rolle dabei. Sie kann einfach nicht, aus den Gründen, die ich vorher genannt habe.
Aber das Gegenteil ist nicht wahr. Heute können nur diese Revolten in den großen Städten und die Entwicklung radikaler Streikbewegungen die Menschen in Chiapas davor bewahren, Opfer des fürchterlichen Massakers zu werden, das der Staat vorbereitet (und das in gewissem Maße bereits im Gange ist). Die Schaffung autonomer Gemeinden in den Bergen durch einige EZLN-Kader wird dagegen nichts nützen. Möglicherweise passen diese sogar in die offizielle Strategie des Bürgerkriegs (wie in El Salvador), wo jeder auf die eine oder die andere Seite gezwungen wird. Die ausschließliche Konzentration der Solidaritätsarbeit auf die Aktivitäten der EZLN ist verschwendete Energie, denn sie hilft nicht, die Isolation der Revolte von Proletariern, Bauern, Frauen und Jugendlichen in Chiapas aufzubrechen. Venceremos, aber nicht auf diese Weise...
Fußnoten:
[1] Siehe Wildcat-Zirkular Nr. 22, S. 21ff.
[2] Siehe Wildcat-Zirkular Nr. 22, S. 35ff.
[3] Richard Greeman, Brief an alle Freunde der Zapatistas - oder »Gefährliche Abkürzungen«, in: Wildcat-Zirkular Nr. 40/41, S. 94ff.
[4] Hier ist Reeve eine Verwechslung unterlaufen. Das Zitat stammt nicht von M, sondern von C, der in seiner Kritik fragt: »Teilen D und R ihre Kleidung mit ihren Nachbarn?« Anm.d.Ü.
[5] Auch diese Zuordnung ist falsch, das Zitat stammt von C, wie M klargestellt hat. Anm.d.Ü.
[6] Le Monde Libertaire, Paris, Dezember 1997; englische Version: La Sociale (C.D.L., C.P.266, Succ »C«, Montreal, QC, Canada, H2L4K1).
[7] Siehe die Übersetzung des Artikels von Dan La Botz in diesem Zirkular: »Der Kampf gegen die Privatisierung der Bahn. Hintergründe des Wildcat-Streiks der mexikanischen Eisenbahner«.