Editorial
Schwerpunkt des letzten Zirkulars war die »humanitäre« Intervention in Ost-Timor. Wie schon beim Nato-Krieg gegen Ex-Jugoslawien sprachen sich Linke und Soli-Leute - heute zu NGOs mutiert - für Intervention und Krieg aus. Der Teil zu Seattle knüpft daran an und betont die Notwendigkeit eines radikalen Bruchs innerhalb der Linken an Punkten wie Kosovo, Ost-Timor, WTO - oder dem anstehenden Gerangel um eine Reform des Sozialstaats. Das Konzept der »Zivilgesellschaft«, das in den 80er und 90er Jahren die Abkehr von revolutionären Vorstellungen begleitete und der Rückkehr in den Schoß der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer demokratischen Institutionen die nötige theoretische Würze verleihen sollte, wird heute immer deutlicher als reformistische Beteiligung am Machtapparat erkennbar. Von dieser »Zivilgesellschaft« lebt auch das breite Bündnis der Demokraten - sei es gegen Parteispenden, sei es gegen Haider -, das dem Staat Legitimation von linker Seite verschafft.
Statt ihn als gewaltsamen Unterdrückungsapparat des Kapitals zu denunzieren, wird gegen die Spenden-CDU oder die österreichische Regierung der »saubere« demokratische Staat beschworen. Dabei wird völlig übersehen, um was es geht. Eine Figur wie Haider wird gebraucht, um die Abschiebepraxis von Schily, die von der Regierung Aznar politisch gewollten Ausschreitungen gegen nordafrikanische ArbeiterInnen oder die Repressionen der dänischen Regierung gegen Einwanderer aus der Schußlinie zu nehmen. Der CDU-Spendenskandal war kein Betriebsunfall, sondern gezielte Einflußnahme zugunsten der rot-grünen Regierung, von der sich das Kapital eine bessere Absicherung seiner Verwertungsinteressen verspricht (siehe Zirkular 52/53). Wir haben zu diesen Fragen (noch) keine Beiträge, aber diese Auseinandersetzung steht angesichts der linken Einheitskampagnen zur Rettung des Kapitalismus dringend an. Seattle ist ein Ansatz, um genauer zu fragen, wo heute die Bruchlinien innerhalb der Linken verlaufen.
Am Ende dieses Hefts findet ihr zwei Papiere des Berliner Bündnisses für Freilassung zu der Erstürmung des Mehringhofs in Berlin am 19. Dezember und der Verhaftung von drei Leuten unter dem Vorwurf der RZ-Mitgliedschaft, sowie die Ankündigung der Broschüre »Kosovo - der Krieg gegen die Flüchtlinge« des FFM. Hier wird deutlich, daß gerade die Flüchtlingspolitik ein Musterbeispiel für die Wende von einer radikalen Kritik am Staat zur Mitwirkung an der Verwaltung von Menschen ist. Solidarität mit den Verhafteten ist heute ungleich schwieriger, weil sich viele ins Flüchtlingsmanagement zurückgezogen haben und nur ungern daran erinnert werden wollen, daß mal eine radikalere Kritik auf der Tagesordnung stand. Anhand des Kosovo-Kriegs hat die FFM die Mitwirkung von NGOs an Krieg und Flüchtlingsverwaltung genauer unter die Lupe genommen.
Das Gegenstück und/oder Bestandteil der Kampagnen gegen den Neoliberalismus ist in den Betrieben die gewerkschaftliche Strategie der »Arbeitszeitverkürzung« - der Mythos der 35-Stunden-Woche zur Humanisierung des Kapitalismus. Besondere Aufmerksamkeit erregte die französische Variante einer staatlichen Arbeitszeitverkürzung, da angesichts der eigenen Schwäche der Ruf nach dem Staat sehr verbreitet ist. Selbst ehemals operaistisch orientierte Linke wie Harry Cleaver ließen sich dazu hinreißen, im Gesetz der Ministerin Aubry etwas Gutes zu sehen. Mittlerweile hat sich allerdings herumgesprochen, daß dieses Projekt vor allem der Flexibilisierung und Lohnsenkung dient. Trotzdem und trotz der hiesigen Erfahrungen (siehe Zirkular 48/49) hält die Linke an der Zauberformel der tariflichen Arbeitszeitverkürzung fest. In Frankreich entwickelt sich seit einigen Monaten eine zersplitterte Streikbewegung gegen die mit den »35 Stunden« verbundenen Angriffe der Unternehmer. Das Eintreten der Gewerkschaften für die Arbeitszeitverkürzung - schon aus ganz eigennützigen Erwägungen - trägt dazu bei, daß diese Bewegungen bisher isoliert bleiben. Der Text »Die '35 Stunden' gegen das Proletariat« wurde im Mai letzten Jahres geschrieben, aber er erläutert die Hintergründe der aktuellen Situation und rückt sie ins rechte Licht.
Auslöser für den Streik in der SMART-Fabrik im letzten November war auch der Übergang zur 35-Stunden-Woche, da sie mit dem Einfrieren der extrem niedrigen Löhne verbunden wurde. Die Bedeutung des Streiks geht aber über diesen Anlaß hinaus. Er zeigte die Verwundbarkeit dieser ultramodernen Produktionsform in der Automobilindustrie, auf die das Kapital seine Hoffnungen setzt. Wir haben uns die SMART-Fabrik und den Streik daher genauer angesehen.