Editorial
Die Bewegungen in Europa gegen die hohen Spritpreise, die im September Schlagzeilen machten, sind schon fast vergessen. Die Regierungen gaben an einigen Punkten relativ schnell nach - ohne daß sich an den Auswirkungen der hohen Ölpreise als einem allgemeinen Angriff auf die Einkommensverhältnisse der Proletarier etwas geändert hätte. In den meisten Ländern - dies gilt in besonderem Maße für Deutschland - waren die Hauptprotagonisten dieser Bewegungen der Mittelstand und Unternehmerverbände, denen selbst bei dem Gedanken mulmig wurde, die zaghaften Blockaden könnten ihnen aus dem Ruder laufen. In diesem Zirkular bringen wir einige exemplarische Untersuchungen und Einschätzungen zu diesen Bewegungen: in den USA, wo sie sich schon seit Anfang des Jahres stärker als von den ArbeiterInnen selbst getragene Aktionen entwickelten, in Frankreich und auf der britischen Insel. Für Frankreich betont Henri Simon, daß es sich im Unterschied zu früheren Blockadeaktionen von LKW-Fahrern diesmal eindeutig um die Mobilisierung einer Kapitalfraktion handelte. In dem Phänomen der schnellen europaweiten Ausbreitung dieser Aktionen sieht er aber auch einen Vorboten für neue Perspektiven von zukünftigen Arbeiterkämpfen. Die beiden Beiträge zu England betonen die starke Beteiligung der Arbeiter an den Aktionen und die erfrischende Unruhe, die angesichts der allgemeinen Lähmung des Klassenkampfs von diesen Aktionen ausging.
Daran wird klar, daß der bloße Hinweis auf die Rolle der Unternehmer in diesen Aktionen nicht ausreicht, um die Bedeutung dieser Aktionen einzuschätzen. Das Beängstigende für die Regierungen war die schnelle Ausweitung und die drohende Möglichkeit selbständiger Aktionen von Arbeiterseite. Denn auch wenn die Zugeständnisse (und in England die massive Drohung der Staatsmacht) zunächst zu einem raschen Abbruch der Mobilisierungen führten, so bleibt das Problem der hohen Ölpreise, mit denen aktuelle eine gigantische Umschichtung von proletarischem Einkommen zum Kapitalprofit stattfindet. Im September blitzte kurz auf, wie es europaweit (und darüberhinaus - gerade in Asien aber auch in Lateinamerika entzünden sich immer wieder Auseinandersetzungen an den hohen Energiekosten) zu einer Bewegung kommen könnte, die eine ernsthafte Bedrohung für das Kapital darstellt.
Neben diesem globalen, indirekten Angriff auf das Arbeitereinkommen entwickelt sich in diesen Tagen eine ganze Reihe von Konflikten, in denen es ganz offen um Lohnsenkungen und Vorbereitungen auf den heraufziehenden Kriseneinbruch geht:
- die dreiste, gewerkschaftlich abgesegnete Lohnkürzung um 20 Prozent für die Aushilfen bei der gelben Post, um ihr einen besseren Börsenstart zu verschaffen;
- die Aufkündigung der Weihnachtsgeldregelung für das Gebäudereinigungsgewerbe, von der zigtausend Putzfrauen und -männer betroffen sind;
- der Konflikt bei der Großwäscherei Zeba in Basel, der kurzfristig durch den mit Polizeigewalt durchgesetzten Einsatz von Streikbrechern eskalierte;
- Streikankündigungen und erste Warnstreiks aufgrund der Privatisierungen im städtischen Busverkehr (z.B. in Darmstadt und Köln);
- die Revolte der Taxifahrer in Dublin, die sich gegen die Deregulierung des Gewerbes richtet;
- Streikankündigungen der italienischen Gewerkschaften mit Hinweis auf die hohen Ölpreise, die höhere Lohnsteigerungen nötig machten;
- ein Streiktag der Lehrer an den allgemeinbildenden höheren Schulen in Österreich und Demonstration gegen das allgemeine Sparpaket der Regierung.
All diese Konflikte verlaufen im Unterschied zu den kurzen Mobilisierungen gegen die Spritpreise sehr isoliert. Sie nehmen sich gegenseitig kaum zur Kenntnis und meistens handelt es sich um kontrollierte Aktionen der Gewerkschaften. Aber angesichts der aktuellen Krisenentwicklung enthalten sie ein sehr viel größeres Potential, da sie auch Auskunft darüber geben, welche Perspektiven einer revolutionären Entwicklung sich mit dem kommenden Einbruch des kapitalistischen »Booms« verbinden. In diesem Zusammenhang erscheinen uns auch die »neuartigen« Streiks in Frankreich vom Sommer diesen Jahres bemerkenswert, auch wenn deren Einschätzung in den beiden Beiträgen in diesem Zirkular auseinandergehen. Das Auffällige an diesen Streiks, die ihren Ausgang mit dem Konflikt bei Cellatex nahmen, war die Radikalität, mit der die ArbeiterInnen die kapitalistischen Produktionsmittel zur Waffe und zum Druckmittel machten. Unklar bleibt, wie sehr auch diese Aktionen unter gewerkschaftlicher Kontrolle blieben und ob sie den »proletarischen Gebrauch« des fixen Kapitals nur medial inszenierten oder ernstmeinten. Aber selbst wenn die pessimistischere der beiden Einschätzungen zutrifft, so haben diese Aktionen offensichtlich ein weitverbreitetes Bedürfnis nach radikalem Handeln gegen die Zumutungen und die Ausbeutung des Kapitals angesprochen, was sich an dem schnellen Aufgreifen in anderen Fabriken ablesen läßt.
Gerade heute, wo diese vielen kleinen Konflikte in der Öffentlichkeit hinter dem medialen Geschrei um Internet-Boom, Börsenkurse, Kampfhunde oder BSE verloren gehen, ist es wichtig Verbindungen zwischen ihnen herzustellen und sie zu verbreiten. Auf der globalen Ebene hat sich seit den Straßenschlachten von Seattle - und nun Prag oder Nizza - eine radikalere Mobilisierung gegen die Diktate des »Freihandels« und »Neoliberalismus« entwickelt. Aber solange es keine Verbindungen zwischen diesen neuen Mobilisierungen zu den täglichen proletarischen Kämpfen gibt, werden sie bloßes Fußvolk der neuen Retter des Kapitalismus bleiben, die mit Tobin-Tax und nationalstaatlicher Regulierung den offenen Ausbruch von Klassenkämpfen verhindern wollen.