Es ist der Kapitalismus, der kriminell ist!
Ein Arbeitsloser erschlägt Arbeitsamtsdirektor - der Kapitalismus steht auf der Anklagebank
Der Fall »Werner Bräuner« ist bei den hiesigen Erwerbslosengruppen
bisher nahezu totgeschwiegen worden - zu groß war ihre Angst, er könne zu
ihrer politischen Diffamierung beitragen, wo sie durch die vom Bundeskanzler losgetretene
»Faulenzerdebatte« und die im Sommertheater niederprasselnden Vorschläge
zum härteren Vorgehen gegen »Arbeitsunwillige« ohnehin schon unter Druck
stehen - ohne dies zum Anlaß zu nehmen, den Kapitalismus und seinen allgemeinen
Arbeitszwang offensiv in Frage zu stellen. Erst nachdem Gruppen aus Frankreich, die in
Kontakt mit Werner Braeuner standen, zur Solidarität aufgerufen hatten (siehe unten),
wurde der Fall auch hier politisch diskutiert.
Es geht nicht darum, die Tat zu einem »politischen Fanal« hochzustilisieren,
wie es die Anklagevertretung will. »Warum tötet ein Arbeitsloser einen
Arbeitsamtsdirektor? Der Staatsanwalt sagte am Freitag, als der Prozeß vor dem
Verdener Landgericht begann, die Tat sei aus Haß und Wut erfolgt und weil der
Angeklagte den Entschluß gefaßt habe, den Direktor als Symbol des
Arbeitsamtes und der ganzen Gesellschaft zu töten. Deshalb plädiert
er auf Mord. Der Angeklagte sagt, der Direktor sei seine letzte Hoffnung in einer
Situation gewesen, die ihn bis ins Herz geängstigt habe. Als er seine Hoffnung
enttäuscht sah, habe er nicht mehr gewußt, was er tat. Das hieße Totschlag,
unter Umständen gar Schuldunfähigkeit.« (FAZ, 6.8.01) Es geht aber darum,
auf die Hintergründe hinzuweisen und sie in den
Mittelpunkt zu stellen, die mit zu der Verzweifelung beigetragen haben. Das große
Interesse in den Medien (am ersten Prozeßtag waren z.B. Korrespondenten von
»Liberation« und der zitierten »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«
anwesend) zeigt, daß dieser Zusammenhang deutlich gesehen wird. Während alle
Anzeichen darauf hindeuten, dass mit dem Kriseneinbruch die Zahl der Arbeitslosen
drastisch ansteigen wird, während aus den verschiedensten Branchen
Entlassungsmeldungen kommen, wird politisch ein immer stärkerer Druck auf
Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen aufgebaut, jede Arbeit anzunehmen
und sich zu den miesesten Bedingungen ausbeuten zu lassen. Das ganze
Maßnahmenbündel der sogenannten »aktiven Arbeitsmarktpolitik« -
Feststellungsmaßnahmen, Qualifizierungen, Weiterbildung usw. - dient nur
noch dazu, die Statistik zu schönen und vor allem, um Druck zu machen und die
Gründe für eine Sperrzeit (bei der zweiten folgt dann der gänzliche
Rausschmiß aus dem Unterstützungsbezug!) zu provozieren.
Auch wenn viele der Vorschläge gegen Arbeitslose nur der politischen
Profilierung dienen und nicht sofort ernstgenommen werden müssen (sei
es Stoibers Androhung, die Arbeitslosenhilfe durch Armenspeisung zu ersetzen oder Kochs
Entdeckerreisen in die USA), so hat die Bundesanstalt für Arbeit auch ganz materiell
die Schraube angezogen. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ist die Zahl der verhängten
Sperrzeiten im ersten Halbjahr 2001 in den alten Bundesländern um über
15 Prozent auf 20 411 angestiegen. Davon waren etwa die Hälfte Sperrzeiten
wegen abgelehnter oder abgebrochener »Bildungsmaßnahmen« (siehe
Bericht in der
Berliner Zeitung vom 7.8.01) - also genau der Vorgang, der
Werner Braeuner in die Verzweiflung stieß. In seiner langen Erklärung
hat Werner ausdrücklich betont, dass seine Erfahrungen und sein Ärger
mit dem Arbeitsamt keine individuelle Besonderheit sind, sondern die Erfahrungen
von zigtausenden widergeben (was übrigens auch von Zuschauern und Zeugen
im Prozeß bestätigt wurde). Es geht ihm daher auch nicht darum,
allein aus diesen Umständen seine Tat zu erklären - schließlich
hat gerade er sich viel damit beschäftigt, wie wir uns kollektiv und wirksam
statt (selbst-) zerstörerisch gegen die Verschärfung des Drucks
wehren können.
Aber genauso klar ist, daß er ohne diesen kafkaesken Druck der Ämter
und die erlebte bürokratische Willkür nicht so gehandelt hätte.
Als Werner Braeuner den Arbeitsamtsdirektor Herzberg einige Tage vorher im
Arbeitsamt auf die Sperrzeit angesprochen hatte, habe dieser nur lapidar gesagt:
»Jeder, der eine Maßnahme abbricht, bekommt eine Sperre«.
Auf den Versuch hin, seine individuellen Gründe zu erläutern (die
auch juristisch sehr wohl den Abbruch einer Maßnahme rechtfertigen können),
habe er nur diesen Satz wiederholt. Wir machen ständig die Erfahrung solcher
Willkür und Arroganz auf den Ämtern, erleben Schreiereien und Wutausbrüche,
die sich daraus ergeben - nur dass sie selten so an die Öffentlichkeit kommen wie
jetzt. In diesem Sinne hat die FAZ nicht ganz unrecht, wenn sie abschließend in
ihrem Artikel vom 6.8. kommentiert: »Die Klärung dieser Frage [woher die
Tatwaffe kam] wird entscheidend dafür sein, ob über Mord oder Totschlag
geurteilt werden muß. Die Bedingungen, die zu dem Verbrechen geführt haben,
die einen gut ausgebildeten, intelligenten Mann zur Verzweiflung getrieben und einen
Unschuldigen das Leben gekostet haben, werden keine große Rolle spielen. Sie
sind auch keine Entschuldigung, aber als Fanal taugt der Fall selbst dann, wenn es
ein Affekt gewesen sein sollte.«
Am Montag, den 13.8., hat das Gericht Werner Braeuner wegen Totschlags zu
12 Jahren Haft verurteilt - die Staatsanwaltschaft hatte 13 Jahre wegen Mordes beantragt
(zum Verlauf des Prozesses siehe z.B. die Berichterstattung in der taz, Artikel am
4.8.,
10.8. und
14.8.).
Die politische Bedeutung des Prozesses hat sich damit nicht erledigt - und ebensowenig
die Frage
der Solidarität.
Postanschrift: | Werner Braeuner
JVA Verden
Stifthofstraße 10
27283 Verden |
Spendenkonto: | Konto M.Brennecke
Kreissparkasse Achim
BLZ 291 526 70
Konto-Nr.: 100680
Stichwort: Werner Braeuner |
Links und Material
Solidaritätsaufruf
mit Unterschriften in mehreren Sprachen. Diese Seite wird von einem Komitee zur Unterstüzung von Werner Braeuner
gemacht, das von AC! (französische Erwerbslosengruppe) ins Leben gerufen wurde.
U.a. findet sich dort ein Link auf den Artikel in der französischen Tageszeitung
"Liberation", der nach dem ersten Prozeßtag erschien.
Eine weitere Solidaritätsseite mit Werner Braeuner aus Frankreich:
werner.braeuner.freeservers.com
Flugblatt zu Werner Braeuner, das in Freiburg vor dem Arbeitsamt verteilt wurde.
Flugblatt aus dem Berliner Raum zu Werner Braeuner
Besetzungsaktion in Paris: Presse-Erklärung,
aus: Wildcat-Zirkular Nr. 59/60
Es geschah in ihrer Nähe, Text zu Werner Braeuner von Guillaume Paoli,
aus Nr. 4 von "Müssiggangter", dem Kontemplationsblatt der
Glücklichen Arbeitslosen (Juni 2001)
Werner hatte Kontakt zur französischen Arbeitslosenbewegung, da er sich stark
für sie interessierte und Texte von ihnen ins Deutsche übersetzte.
Letztes Jahr übersetzte er einen längeren Text -
Zwischen Forderung und Subversion - Die Bewegung der Erwerbslosen in Frankreich -,
der die Entwicklung und Probleme der Bewegung in Frankreich analysiert.
Offener Brief von Werner Bräuner vom 17. März 2002
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