Editorial
Von Genua über den 11.9 / 7.10. nach Buenos Aires ...
Die USA haben den Vietnamkrieg im wesentlichen nicht im Dschungel, sondern in den Hörsälen und auf den Straßen der USA verloren. Die Anti-Kriegs-Bewegung konnte aber nur deshalb so stark und breit werden, weil 50 000 tote GIs im Dschungel eine direkte Bedrohung für hunderttausende von amerikanischen Familien von Wehrpflichtigen darstellten.
Die zunächst massenhafte Mobilisierung gegen den Golfkrieg 1991 speiste sich aus der Angst, daß brennende Ölquellen einen globalen Ökokollaps verursachen und irakische SCUD-Raketen Europa erreichen könnten. Als klar wurde, daß der Krieg nicht direkt das eigene Leben bedroht, flaute die Bewegung sehr schnell ab. Im Fall von Afghanistan ist es den USA und allen NATO-Ländern gelungen, eine Anti-Kriegs-Bewegung weitgehend zu verhindern.
Mit jedem neuen Krieg der letzten zehn Jahre wechseln Leute aus der radikalen Linken in das Lager der Kriegsbefürworter und tragen ihren Teil zur innenpolitischen Führbarkeit von Kriegen bei. Die »Verbliebenen« stellen sich immer ohnmächtiger einem Krieg entgegen, den sie alleine nicht stoppen können. Aufgrund ihrer technologischen Überlegenheit können die USA ganze Weltregionen bombardieren und eigene Verluste bis auf wenige Ausnahmen vermeiden. Die Anti-Kriegs-Bewegung bleibt dabei auf Teile der Linken beschränkt. Doch nur breite Massenbewegungen werden erreichen, daß ein Krieg nicht weiter geführt werden kann - siehe Vietnam.
Daß die Anti-Kriegs-Bewegung klein geblieben ist, liegt nicht daran, daß die AktivistInnen die falschen Theorien haben, sondern daran, daß es keinen direkten Zusammenhang gibt, d.h. die Kriegsführung nicht direkt das Leben hier bedroht. Aber der Zusammenhang zwischen der Kriegsführung gegen die »Schurkenstaaten« einerseits und der inneren Aufrüstung (Repressionspakete, Steuererhöhungen) andererseits, ist diesmal viel deutlicher als im Kosovo-Krieg und im zweiten Golfkrieg. Die politischen Folgen sind noch schwer abzuschätzen:
Auf der einen Seite hat der 11. September zu einer ungeheuren Politisierung des Alltagslebens geführt, das Gesellschaftssystem wird wieder sehr grundsätzlich hinterfragt.
Auf der anderen Seite benutzten die Herrschenden den Legitimationsschub aus Terrorangriff und humaner Kriegsführung, um schon länger geplante Massenentlassungen mit dem 11. September zu begründen.
Alle hier versammelten Texte zum Krieg versuchen, den identischen sozialen Kern zwischen Krieg nach außen und Verschärfung nach innen herauszuschälen.
»In den Bergen Afghanistans liegt weder die Geburtsstätte der gegenwärtigen Widersprüche, noch die von möglichen Lösungen. Ihr Ursprung liegt im Innern und ist zunächst sozial und erst dann 'geopolitisch': sie liegt in der Unfähigkeit dieser Produktionsweise, sich zu verallgemeinern und dabei überall positiv zu wirken«, schreiben Carasso/Dauvé/Nesic in ihrem Text Grauer September (Beilage Seite 1 ff.).
Sie sehen »Kapitalismus und Barbarei« für die nahe Zukunft, allerdings nicht als Folge des Durchmarschs des Kapitals, sondern aufgrund der »seit 20 Jahren« ungelösten Krise des Kapitalismus. Wichtigstes Moment darin sind die Proletarisierungsprozesse, die sie als »Lumpenproletarisierung« beschreiben. Heute werden weltweit soviele Menschen wie noch nie ausgebeutet, gleichzeitig steigt die Zahl derjenigen, denen nicht mal mehr die zweifelhafte Aussicht auf Lohnarbeit »angeboten« werden kann.
In der radikalen Linken gibt es zwei Verschiebungen: zum einen die stärkere Aufspaltung zwischen Kriegsgegnern und ausdrücklichen Kriegsbefürwortern, zum andern machen sich im Lager der Kriegskritiker die Postmodernen immer mehr breit. Positionen, die in der Bedeutung der zentralasiatischen Region für die Weltenergieproduktion einen wichtigen Kriegsgrund ausmachen, werden lächerlich gemacht.
Die zentrale Bedeutung des Erdöls für die kapitalistische Verwertung wird im Artikel Globaler Krieg um die Ordnung der Welt entwickelt. Es geht nicht um diese oder jene Pipeline, sondern um Öl als Stoff, an dem sich Wert kristallisiert, der die weltweite Maschinerie und den Transport am Laufen hält und dabei zugleich Wert zirkulieren läßt, und schließlich um seine Bedeutung für die Reproduktion der Arbeiterklasse.
Krieg und Öl beschäftigt sich im Detail mit den sozialen, politischen und technologischen Voraussetzungen, um kontinuierlich die riesigen Ölvorkommen Zentralasiens zu einem erträglichen Preis auf den Weltmarkt zu bringen.
Spätestens seit dem Sturz des Schahs im Iran 1979 wurde deutlich, wie zerbrechlich die Klassenverhältnisse in den erdölproduzierenden Ländern sind. Die Kriegführung im Golfkrieg 1991 zielte auf die Eindämmung der Revolte in der Region. In seinem Gefolge kam es zu einer Vertreibung des Erdölproletariats und einer Neuzusammensetzung der Migration. Seitdem bauen die USA ihre Präsenz in der Region aus, und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion rangeln europäische und amerikanische Ölfirmen um die Vorräte rund um das Kaspische Meer.
George Caffentzis zeigt in Warum diese Verzweiflung? [1], daß die auf der Kippe stehende soziale Stabilität des wichtigsten Öl-Produzenten Saudiarabien für den Anschlag am 11.9. zentral ist.
Der Text richtet sich ausdrücklich an die Adresse der Anti-Globaliesierungs-Bewegung und diskutiert eine uns alle umtreibende Frage: wie wird die Bewegung mit »Genua«, das in doppelter Hinsicht ein Wendepunkt war, umgehen? Und er stellt die Frage, was »der 11.9« für die Bewegung bedeutet.
Zum G8-Gipfel fand eine soziale Mobilisierung statt, die über die Eventhopper hinaus ging. Ausdruck davon war eine der großen Demos, auf der MigrantInnen, SchülerInnen und ArbeiterInnen aus ganz Europa, Südamerika und Teilen Afrikas Ausbeutung, Migration und die Frage des Status thematisierten. In Genua wurde spürbar, was möglich ist, wie viele wir sein können - und es wurde spürbar, was dagegen von Staatsseite aufgefahren (werden) wird.
Dieses Gefühl war zwei Monate später einem Gefühl der Ohnmacht gewichen. Eine beginnende Debatte blieb in ihren Anfängen stecken. Eine absurde Situation, hat die Entwicklung nach dem 11.9. die von Teilen der »Anti-Globalisierungs-Bewegung« thematisierten Zusammenhänge und Ursachen doch bestätigt.
»Momentan wäre nur die Antiglobalisierungsbewegung in der Lage, einen Ausweg aus dieser höllischen Dialektik von Mord und Selbstmord zu finden. Jene ist gerade von den Streitkräften des Weltkapitals und den Verursachern des Massakers vom 11. September in die Vergessenheit katapultiert worden«, schreibt Caffentzis.
In der Tat haben Seattle, Prag und Genua der Angstpropaganda von oben eine Globalisierung von unten entgegengesetzt. Eine Möglichkeit, sich gegenseitig nicht als Konkurrenz oder Bedrohung wahrzunehmen, sondern als Kraft, die in der Lage ist, selber Geschichte zu machen. Eine Möglichkeit, nicht mehr.
Hinter diese Dimension fällt Caffentzis zurück, wenn er sich ernsthaft die Frage stellt, was passiert wäre, wenn der G8-Gipfel »den Forderungen der DemonstrantInnen entsprochen« und alle Schulden der Drittweltländer gestrichen hätte. Hier verwechselt er die Bewegung mit ihren Lautsprechern (Attac). Er setzt gerade an ihren Schwächen an: Von ihrem politischen Ausdruck kleidet sich die Antiglobalisierungsbewegung in ein »reformistisches« Gewand, mit Forderungen nach Schuldenerlaß, Reform des IWF, etc. Es scheint, als müßten sich alle, die aus einer eher defensiven Klassensituation heraus agieren wollen, traditionelle politische Formen der Vermittlung wählen. Vor dem Hintergrund der Krisenerscheinungen des Kapitals, mit seinen Kriegen und Gemetzeln, den harten staatlichen Reaktionen, hat dieser Reformismus jedoch keinen Bestand mehr. Wer außer Kofi Annan würde sein Leben dafür geben, den IWF zu reformieren? Alle, die sich nach dem 11. September, dem 7.10., und mehr noch, nach Genua bewegen wollen, kommen nicht darum herum, die Frage nach der Produziertheit der Welt, die Frage nach dem Ganzen zu stellen.
Im Eisenbahn-Tunnel unter dem Ärmelkanal wurden vor einigen Wochen mehrere hundert Menschen aus Afghanistan, dem Irak und Kurdistan auf dem Weg von Frankreich nach England von einem massiven Bullenaufgebot zurückgeschlagen. Sie waren ohne Einreisepapiere unterwegs. Hier zeigt sich in einer Momentaufnahme, daß die Proletarisierten sich weltweit nicht davon abhalten lassen, bis in die kapitalistischen Kernländer vorzudringen. Diese brauchen eine kontrollierte Balance zwischen hoher Arbeitslosigkeit und ausgesuchter frischer Arbeitskraft. Um die Art und Weise von Regulierung und Kontrolle dreht sich die gesamte Diskussion um das Zuwanderungsgesetz in der BRD. Gleichzeitig wird die »häusliche Pflege« durch eine einfache Verordnung nun auch offiziell in die Hände zehntausender Frauen aus Polen, Slowenien, Tschechien und Ungarn gelegt. Noch vor der EU-Osterweiterung hat eine einfache Verordnung Riesters den Einwanderungsstopp für 10 000 Frauen aufgehoben, die nun auch offiziell die »häusliche Pflege« zu Niedrigstlöhnen verrichten dürfen. Aber auch für diesen Teilprozeß der weltweiten Migration gilt: diese Pflegearbeiterinnen werden viele kleine, vermutlich oft nicht einmal sichtbare zähe Kämpfe führen. (Zu den vielfältigen Umbrüchen in der deutschen Klassenlandschaft siehe Sklerose - noch immer krank in diesem Heft.)
Gleichzeitig können wir an allen möglichen Ecken und Enden fühlen, in welcher Sackgasse der Kapitalismus inzwischen gelandet ist: Während die AKW-Industrie in den letzten Monaten von einer ganzen Serie von Pannen gebeutelt wurde, rollte der Castor-Transport so ungestört wie schon lange nicht mehr nach Gorleben (siehe dazu den Artikel Nach dem Castor ist nicht nur vor dem Castor, der einige Hoffnungen in eine Radikalisierung der kleiner werdenden Anti-Atom-Bewegung setzt).
Seit Beginn des Jahres 2001 ist die Weltwirtschaft in einer Rezession. In Argentinien ist es in diesen Wochen am heftigsten umkämpft, ob das Kapital, die Krise auf die Arbeiterklasse abzuwälzen kann. Argentinien war ein Musterland neoliberaler Wirtschaftspolitik: Es hat alles »richtig« gemacht: privatisiert, bis es nichts mehr zu verkaufen gab, Sozialleistungen und Löhne runtergefahren. Der jetzige Staatsbankrott wird deswegen Auswirkungen auf drei Ebenen haben: erstens, weil der Neoliberalismus als kapitalistische Ideologie abgewirtschaftet hat. Zweitens, weil dieser Staatsbankrott viele ausländische Anleger mit in den Strudel reißen wird. Und drittens, weil die Hunderttausenden auf den Straßen vielleicht eine Antwort auf die Krise des Kapitalismus finden, die weltweit ausstrahlt.
Freiburg, 6.1.2001
Fußnoten:
[1] Der Text ist ab dem 27.11.01 in drei Teilen leicht gekürzt in der Jungen Welt veröffentlicht worden. Originalfassung: A Essay on the Events of September 11, 2001 - Addressed to the Antiglobalization Movement