Wildcat Nr. 87, Sommer 2010 [editorial]



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Topkill, Core-Exit

»Auch in Deutschland ist Griechenland«

Die griechischen Reeder hatten schon wieder zugekauft, Containerschiffe. »Schnäppchen« seien das gewesen. Kein Wunder! Als »antizyklische Investoren« hatten die doch schon immer den besten Riecher! Und beinahe wäre die Krise so wie die letzten Male ausgegangen: Kurzarbeit, extreme Arbeitsverdichtung und sozialverträglicher Arbeitsplatzabbau auf der einen – massive Kürzungen und Verbrauchssteuererhöhungen auf der anderen Seite. Und bevor sich noch was auf breiter Front dagegen tut, basteln sie mit Vervielfachung der Kredite einen neuen kleinen Aufschwung hin. Dann kämpfen die einen gegen Arbeitsplatzabbau und Kürzungen, während andere bereits wieder im »Aufschwung« stecken, oder zumindest daran glauben, dass ein solcher ihre eigene Situation erleichtern wird. (siehe Seite 21)

Beinahe, denn dann kam »Griechenland« (Seite 42) dazwischen. Der dritte Kriseneinbruch führte in den letzten Wochen zu Panik und Hektik; die Rede war von »Notstand«, verabschiedet wurde ein »Kredit-Ermächtigungsgesetz« (ohne Rücksicht auf historische Anklänge). In der Bundesregierung, in der eu und im deutsch-amerikanischen Verhältnis wurde auf offener Bühne gestritten und gekeift.

Woher die Aufregung? An den Summen kann es nicht liegen. Die brd bürgt bei der sogenannten Griechenlandrettung lediglich für soviel, wie sie zuvor bereits real in der hre-Bank versenkt hatte. Griechenland hält weniger als ein Prozent der weltweiten Staatsschulden, produziert gerade mal 2,5 Prozent vom bip der Eurozone, und nur 0,8 Prozent der deutschen Exporte gehen dorthin…

Aber »Griechenland« ist nicht Ursache, sondern Symptom der Staatschuldenkrise. Die Einschläge kommen nicht nur näher, sie sind ganz deutlich ein globales Problem. Und zum ersten Mal in dieser Weltwirtschaftskrise steht ganz offen der Klassenkampf im Zentrum der Auseinandersetzung – und könnte ansteckend wirken. Deshalb »erschrecken die Märkte« manchmal vor dem Problem, manchmal vor seiner vermeintlichen Lösung. Zuviel »Blase« in Asien oder zu starkes Abbremsen? Zuviel Verschwendung in Spanien oder drohende Deflation? Und deshalb sind die Herrschenden seit Wochen so hypernervös. Diese Krise ist nicht politisch regulierbar.

Bubble in Asien, marode Banken in Europa, Berge an »toxischen« Hypotheken in den usa, titanische Staatsverschuldung. Zusammen mit dem Wissen über ihre Unlösbarkeit ist auch das Bewusstsein über den globalen Charakter der Krise zurückgekehrt. Und Fragen wie die »auf die Renten- und Krankenkassen der alternden Industrienationen zurollende Anspruchslawine« verbinden tendenziell den griechischen Rentner mit der amerikanischen Autoarbeiterin.

(Zur Krise weiter lesen auf Seite 70)

updates

Zu Zeiten des letzten Irakkriegs hatten viele Experten den peak oil für 2010 vorausgesagt – die Ölmultis stemmten sich dagegen u.a. mit Tiefseebohrungen und der Förderung von Ölsanden in Kanada. Am 2. September 2009 stellte BP der Presse einen »gigantischen Fund« vor, im Tiber-Feld im Golf von Mexiko sollen 4 bis 6 Milliarden Barrel Erdöl unter der Meeresoberfläche lagern. Die bp-Aktie stieg an einem Tag um 3,7 Prozent.

Um das Feld für die Ölförderung zu erschließen, wurde ein über 10 000 Meter tiefes Bohrloch in einer Meerestiefe von 1260 m angelegt, die weltweit tiefste Bohrung ihrer Art.

Am 20. April kam es auf der Ölbohrplattform Deepwater Horizon zu einer Explosion. Elf Arbeiter starben, 115 konnten sich retten. Zwei Tage später versank die Plattform. Seither laufen täglich nach Angaben von bp etwa 5000 Barrel (ca. 800 000 Liter), nach Berechnungen unabhängiger Forscher knapp acht Millionen Liter Erdöl ins Meer. BP versprühte nach eigenen Angaben in einem Monat über zwei Millionen Liter des Lösungsmittels Corexit.

Der Aktienkurs von bp ist seither nur um 23,6 Prozent gefallen. Der Konzern gibt seine bisherigen Kosten der Katastrophe mit »lediglich eine Mrd. us-Dollar« an. Nicht viel vor dem Hintergrund von 6,2 Mrd. Dollar Gewinn allein im ersten Quartal 2010. Gerade bp hatte propagandistisch das Zeitalter »Jenseits des Öls« ausgerufen und sein Kürzel als »Beyond Petrol« vermarktet.

Nun wurde öffentlich diskutiert, was sowieso schon alle wussten: die us-Behörden sind engstens mit »Big Oil« verklebt und hatten auf Auflagen und Überprüfungen – nicht nur in diesem Fall – verzichtet. Bis Ende Mai konnte der Konzern sogar Vor-Ort-Untersuchungen durch unabhängige Experten über die auslaufenden Ölmengen verhindern! Am 26. Mai versuchte er mit »Top Kill« das Loch zu verschließen – vergeblich.

Die Pleite eines Öl-Multis? Das Tschernobyl der Öl-Industrie? Oder nur Obamas Katrina?

In den sechs Wochen seit dem 20. April sind weitere, weltbewegende Dinge passiert – nein, wir meinen nicht Lena und gogoKöhler. Zum Beispiel sehen viele den 27. April 2010 als Anfang vom Ende des Euro in die Geschichtsbücher eingehen. Denn an dem Tag griff die »Griechenlandkrise« auf Portugal und Spanien über.

Am selben Tag veröffentlichte die Deutsche Bank erneute Supergewinne. Ihre Gewinne sind die Verluste Griechenlands und mussten am 9. Mai mit einem gewaltigen, ebenfalls geschichtsträchtigen Euro-Bailout von insgesamt 860 Mrd. Euro abgefangen werden. Goldman Sachs und die Deutsche Bank hatten sowohl Griechenland wie der brd geholfen beim Schummeln mit den Maastricht-Kriterien und waren dort dementsprechend stark »engagiert«.

Ebenfalls am 27. April sahen die Topmanager von Goldman Sachs gar nicht gut aus. Sie mussten sich vor dem Untersuchungsausschuss des us-Senats dafür rechtfertigen, wie sie die Krise verschärft und damit viele Milliarden verdient hatten. Sie hatten ein »strukturiertes Produkt« nur zu dem Zweck aufgelegt, es pleite gehen zu lassen, und waren dann eine Wette gegen ihre eigenen Kunden eingegangen, u.a. die ikb-Bank in Düsseldorf und Bear Stearns, die beide später bankrott gingen.

Logisch, in dermaßen rasanten Zeiten mussten wir so ziemlich alles umschreiben und bringen zum wiederholten Mal Aktualisierungen zu Artikeln aus den letzten Heften. Das hat den Vorteil, dass wir Euch sehr aktuell auf dem Laufenden halten können mit Analysen und Einschätzungen, vor allem aber mit Material. Es hat aber den Nachteil, dass man die vorhergehenden Artikel gelesen haben sollte, bzw. zur Hand nehmen muss. Das gilt vor allem für die folgenden Artikel:

– Zu China haben wir die neuesten Zahlen verarbeitet. Im wesentlichen bleibt es bei der Einschätzung aus der Wildcat 85: Ein gewaltiges Konjunkturprogramm soll das Wirtschaftswachstum hoch genug halten, führt aber zu Blasen, hauptsächlich auf dem Immobilienmarkt. Die können aber nicht wirksam bekämpft werden, weil sonst das Wirtschaftswachstum einbricht – inzwischen fürchten viele eine »harte Landung« Chinas. Für eine Einschätzung, ob die Kämpfe bei Honda und die Entwicklungen bei Foxconn den Beginn einer neuen Phase markieren, ist es uns noch zu früh (Seite 79).

– Indien: Inflation, operation greenhunt, neue Streiks und Arbeiteruntersuchung. Auch das im wesentlichen ein update zur Indienbeilage in der Wildcat 82, Herbst 2008 (Seite 39).

– Auto: Ende Mai sagte der Renault-Chef, die »Griechenland-Krise« würde den Automarkt für den Rest des Jahres belasten. Bereits Mitte Mai hatte der bmw-Chef erklärt: »Die Krise ist noch nicht vorbei. Die Staatsschulden in Europa drohen uns zu erdrücken. In Europa brennt es schon wieder.« Derweil fahren die Autokonzerne überall die Produktion hoch… (siehe Seite 21).

– Auch beim Bericht zum Februar-Aufstand (Seite 36) solltet ihr das letzte Heft zur Hand nehmen; er ist ein Nachtrag zum Artikel »Die iranische Revolution 1979« in der Wildcat 86.

Buchbesprechungen

Wir weisen auf einen Text von Robert Brenner zur aktuellen Krise hin, den er vor einem Jahr geschrieben hat, und der ganz gut eine Meldung aus der ftd von heute erklärt: Firmenkredite sind in der brd im April auf das niedrigste Niveau seit fast zwei Jahren gefallen. »Geringer war die ausgereichte Kreditsumme zuletzt im Juni 2008 – also wenige Monate vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise.« (Seite 56)

Des weiteren besprechen wir zwei Bücher über Lateinamerika: Uruguay. Ein Land in Bewegung (Seite 65) und ein eher theoretisches Buch zu den Bewegungen in Bolivien von Raul Zibechi (Seite 62). Und wir setzen die Diskussion zum Buch von Roth/van der Linden Über Marx hinaus fort. Darin hatte George Caffentzis den Beitrag »Der Marxismus nach dem Untergang des Goldes«. In den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts war eine Rückkehr zum Goldstandard nicht möglich, weil den Arbeitern die Folgen der Krise nicht länger aufgebürdet werden konnten. Die Auseinandersetzungen um die aktuellen Staatsschuldenkrisen drehen sich um die gleichen weitreichenden Fragen nach der Werthaltigkeit der großen Währungen. Gold erlebt ein Comeback als internationale Reservewährung.

Caffentzis versucht die theoretischen Konsequenzen der Aufkündigung der Goldbindung des Dollars durch Nixon 1971 zu erkunden, kommt dabei aber unseres Erachtens auf »naturwissenschaftliche« Abwege. Aus der operaistischen Diskussion von Anfang der 70er Jahre haben wir im Text von Carlo Jäger: Arbeiterstandpunkt und politische Ökonomie eine Stelle zur Differenz zwischen Marxscher Kritik und Naturwissenschaften gefunden: »das Spezifische am Klassenstandpunkt des Proletariats ist, dass er sich selber negiert. Das Proletariat setzt sein Klasseninteresse durch, indem es die Klassengesellschaft zerstört, und es zerstört die Klassengesellschaft, indem es sich selbst als Proletariat, als Kapital produzierende Klasse, negiert. Das Interesse des Arbeiters ist, es nicht mehr zu sein. Deshalb ist die proletarische Theorie wesentlich Theorie der Zusammenbruchstendenz des Kapitals. Die Kehrseite davon ist, dass sie die Konstitution des Wertgesetzes, der Herrschaft des Tauschwerts, entwickelt – der proletarische Standpunkt weiß sich als historisch. Das Bürgertum fasste Natur wie Gesellschaft ahistorisch: Wissenschaft bestand in der Konstruktion eines deduktiven Gebäudes auf axiomatisch gegebener Grundlage. Marx entwickelt die Konstitution dieser Grundlage, weil ihn ihre Auflösung interessiert – eine Problematik, die in der Physik keine Parallele zu finden scheint.« (nachgedruckt in TheKla 5; dort S. 209) Witzigerweise beschäftigt sich der Autor heute mit den ökologischen Konsequenzen des Kapitalismus – womit wir wieder bei Deepwater Horizon wären.

Ganz deepe horizons machte Anfang Mai folgender »Investor« auf: »Die Eröffnung der Expo in Schanghai in der letzten Woche ist kein besonders gutes Omen, denn auf die Weltausstellung 1873 in Wien folgte der Gründerkrach in Österreich und die weltweite long depression.« (zitiert in der Business Week vom 4. Mai 2010). Zu diesem Thema kündigen wir schon mal ein update im nächsten Heft an. Auch zu unserem Block zu Leiharbeit in der brd auf den Seiten 9-20 können wir angesichts der Bedeutung des Themas wohl schon vorhersagen, dass im nächsten Heft ein update kommt.

Aber wieso ist »auch in Deutschland Griechenland«? Das werdet Ihr nicht in unserem Schwerpunkt zu Griechenland (Seite 42-55) erfahren. Das war ein Spruch vor wenigen Tagen im Streit um den Länderfinanzausgleich, den Baden-Württemberg und Roland gogoKoch aus Hessen angestrengt haben. Ein Schwabe wollte damit sagen, dass die Brandenburger und Bremerinnen über ihre Verhältnisse leben, so wie die Griechen, und zwar mit schwäbischem Geld! Es wird Zeit, dass solche Politikersprüche mit einem glasklaren »dann wollen wir das auch!« gekontert werden. Dann wäre auch in Deutschland endlich wenigstens ein bisschen Griechenland angekommen.

In diesem Sinne rock’n roll! read on!

Europa, 31. Mai 2010



aus: Wildcat 87, Sommer 2010



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