Wildcat Nr. 88, Winter 2010 [commons_allmende]



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Was war die Allmende?

Gab es historisch ein »Gemeinschaftseigentum« als moralische und antagonistische Konstante gegen Privateigentum und Herrschaft?
War die »Allmende« eine kollektive oder zumindest kooperative Produktionsform?

In der Diskussion um die »Commons« suchen viele nach Analogien für eine andere Wirtschaftsweise in der Vergangenheit, um dem anonymen und zerstörerischen Markt eine geschichtliche Konstante der Menschlichkeit und Kooperation entgegenzusetzen. Dabei taucht immer wieder der Begriff »Allmende« auf.

Auch Karl Marx und Friedrich Engels haben sich in der Deutschen Ideologie auf Forschungen konservativer Rechtshistoriker bezogen, die in der Diskussion um die endgültige Privatisierung der Landwirtschaft Ende des 18. Jahrhunderts schriftliche Quellen des Mittelalters über die Allmendverfassung in die Vergangenheit verlängerten und dem »römischen« Liberalismus ein »germanisches Gemeineigentum« gegenüberstellten. E.P. Thompson beschäftigt sich in The Making of the English Working Class auch mit den Landarbeitern und dem Entzug der Allmendrechte durch die Einhegungen, die die »Zusammenkratz-Subsistenzwirtschaft der Armen« zerstörten: er stellt dar, wie sich die Dorf-Armen noch lange auf diese »alten Rechte« berufen haben, als sie in der Wirklichkeit der kapitalistischen Landwirtschaft schon keinen Platz mehr hatten. Er beschäftigt sich dagegen nicht mit der tatsächlichen Funktionsweise der mittelalterlichen Allmendwirtschaft.

Die heute übliche Verwendung des Begriffs »Allmende« ist insofern irreführend, als sie ein Element (nämlich das genossenschaftliche) der hochmittelalterlichen Agrarverfassung herausgreift und zum »gemeinsamen Acker« oder »öffentlichen Wald« verdinglicht. Die »Genossenschaft« wird als konstitutiv für die »Dorfgemeinschaft« gesetzt und damit eine dem Markt oder den feudalen Grundherren entgegengesetzte Gemeinschaft suggeriert. Das ist so ähnlich, als würden wir den heutigen Sozialstaat, öffentliche Spielplätze oder kommunale Verwaltung als dem Markt und dem Staat entgegengesetzte Sphären betrachten. Aber so, wie es heute Mechanismen gibt, um für einen Teil der Arbeitskräfte eine auf den Arbeitsmarkt bezogene Reproduktion sicherzustellen, kannte die mittelalterliche Wirtschaftsverfassung vergleichbare Mechanismen. In diesem Zusammenhang ist die Allmendwirtschaft zu betrachten.

Im allgemeinen Sprachgebrauch beinhaltet der Begriff der Allmende sowohl das »Allmendland« als auch die »Allmendrechte«. Die Nutzung des Allmendlandes war durch die Dorfgemeinschaft geregelt. Die Allmendrechte gestanden einzelnen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft die Nutzung der Ressourcen des Dorfes zu – Weide-, Holz-, Jagd- und Fischereirechte usw. Daneben gab es aber auch die Pflichten gegenüber der Dorfgemeinschaft, so etwa den Zwang zur Koordinierung der ackerbaulichen Tätigkeiten, die an sich individuell betrieben wurden (Flurzwang auf der einen und z.B. die Akzeptanz des Rechts zur Ährennachlese auf den Äckern für die Armen des Dorfes auf der anderen Seite).

Die Allmendwirtschaft war kein Rest einer tradierten gemeinschaftlichen Produktionsform, wie die Mythen des 19. Jahrhunderts besagten; der »eigentliche« Feudalismus des Frühmittelalters beruhte einerseits auf der Anmaßung der sich etablierenden Herrschaft, sich einen Teil des Produktes der vereinzelten, auf die eigene Subsistenz hin arbeitenden Hofstellen anzueignen – im Idealfall als Gegenleistung für die Bereitstellung von Saatgut, Zuchttieren und militärischem Schutz. Andererseits betrieben Grundherren und Klöster Gutswirtschaften mit persönlich unfreien und fronpflichtigen »Hörigen«, die die produktiven Kerne der Feudalwirtschaft darstellten. Diese sogenannten Villikationsverbände oder die Grangien (räumlich zersplitterte, jeweils spezialisierte Wirtschaftseinheiten der Zisterzienserklöster) produzierten von vornherein nicht nur für ihren eigenen Lebensunterhalt, sondern erwirtschafteten ein Mehrprodukt zum Unterhalt der Zentren.
Ab dem 9. Jahrhundert geriet dieses Wirtschaftssystem in eine Krise, und die Eigenwirtschaften der Grundherren lösten sich langsam auf, das Land wurde zunehmend von Bauernwirtschaften übernommen und die Feudalrente von persönlichen Sach- und Arbeitsleistungen auf eine landbezogene Geldrente umgestellt (auch da, wo es noch Arbeitsverpflichtungen gab, konnten diese durch Geldzahlungen zur Bezahlung von Lohnarbeitern oder durch Bereitstellung der Arbeitskraft von Hintersassen der Bauern abgegolten werden). Mit einer Mischung aus Zwang und Angebot wurde die soziale Differenzierung vorangetrieben; den Chancen, selbstständig und erfolgreich wirtschaften zu können, stand die drückende Last gegenüber, sein Getreide nicht mehr selber, sondern nur gegen horrende Gebühren in der Wassermühle mahlen zu dürfen. »Eigentum« war noch stärker als heute über Nutzungsrechte definiert: Dem Bauern wurde vom Grundherrn Land zu einer bestimmten Nutzung überlassen – wenn er die nicht einhielt, fiel sein Recht auf das Land an den Grundherrn zurück.

Der sozialen Differenzierung stand eine Homogenisierung eines Teils der Bauernschaft gegenüber; neben einem »breiten bäuerlichen Mittelstand« entstand eine breite Schicht landarmer und -loser Landbevölkerung, die in rechtlich unterschiedlicher Position als Klein(st)bauern nicht mehr von ihrer Landwirtschaft leben konnten und auf zusätzliche Lohnarbeit angewiesen waren.

Die Geldwirtschaft ging mit einer Umstellung der Produktionsweise einher: Hatten die selbstständigen Bauern des Frühmittelalters noch überwiegend von extensiver Viehwirtschaft und Feldgraswirtschaft gelebt, so wurde die Viehhaltung zur Lebensmittelproduktion, soweit es ging, eingestellt und der Getreideanbau intensiviert; Eisenpflüge und andere neue Gerätschaften konnten nicht mehr selber hergestellt und mussten gekauft werden – Kapital war erforderlich, das wieder eingespielt werden musste. Aus diesem Grund waren die Bauern gezwungen in Dörfern statt wie bisher in Einzelhöfen zu leben und miteinander zu kooperieren, um die für die Düngung erforderliche Viehweidung auf den Brachen der neuen Dreifelderwirtschaft zu ermöglichen, sowie die Verluste an nutzbarer Ackerfläche gering zu halten.
Der Grund für die genossenschaftliche Verfassung im Ackerbau und der Viehhaltung war keine gemeinschaftliche Moral, sondern die Erfordernisse der intensivierten Getreidewirtschaft. Sie erforderte neben der Kooperation der Landbesitzer zu bestimmten Zeiten (vor allem Ernte und Drusch) den Einsatz vieler Arbeitskräfte – Menschen, die der einzelne Bauer nicht das ganze Jahr über beschäftigen konnte. In diesem Zusammenhang bildete sich auf dem Land Lohnarbeit heraus – reine Lohnarbeit, meist aber Mischformen: Hintersassen der Bauern, die zu Tagelohn in den landwirtschaftlichen Saisons verpflichtet waren, oder bezahlte Fronarbeit. Das Überleben dieser Leute konnte nicht der einzelne Bauer sichern, dazu gab es neben der Armenfürsorge der Kirche, saisonaler Migration usw. eine kommunale Organisation, die Allmendrechte des Dorfes für die Armen: das Recht auf die Ährenlese nach der Ernte, das Recht, ein kleines Vieh auf der Dorfwiese zu weiden usw.
Die politische Institution, die die verschiedenen Einzelinteressen der bäuerlichen Produzenten vermitteln musste, war das Dorf mit seiner Dorfversammlung. Geschaffen wurde es im Hochmittelalter als Gegenpol zur Stadt. Die Dorfversammlung als »politisches Organ« der Allmendverfassung koordinierte die Produktion und hatte in einem gewissen Rahmen auch Gerichtskompetenzen. Wer dort wieviel Stimmrecht hatte, war immer wieder umstritten; grundsätzlich war Landbesitz eine Voraussetzung, aber der dicke Bauer hatte ein stärkeres Stimmgewicht als der dünne. Wie sollte es sich aber mit Landbesitzern verhalten, die ihren Wirtschaftsmittelpunkt als Gewerbetreibende in der Stadt oder als Adelige auf ihrem weit entferntem Gut hatten? Sollten Kleinstbauern Stimmrecht haben, die nur eine schiefe Hütte auf dem Land eines größeren Bauern hatten? Soweit sich über Gerichtsakten Konflikte in und um die Allmende nachvollziehen lassen, ging es in den meisten Fällen um die geschäftlichen Interessen der Beteiligten; Grundherren, die zunehmend vor allem Waldrechte ausschließlich für sich beanspruchten, um das Holz für industrielle Unternehmungen wie Bergbau und Salzgewinnung zu verkaufen; Bauern, die Holz in die Städte verkauften oder nur als Strohmänner für Bürger fungierten, die auf diesem Weg Schlachtvieh auf den Allmendflächen weiden konnten u.a.
Das Dorf verwaltete die Arbeitskraft: Positiv durch das Angebot bestimmter Rechte, um das Überleben zu sichern; negativ durch Niederlassungsverbote, Pflicht zur Saisonlohnarbeit im Gegenzug für Wohnrecht, Durchsetzung der Begrenzung von Löhnen usw.
Im Gegensatz zu den gängigen Vorstellungen einer »organischen« Entwicklung war die Herausbildung der Allmendwirtschaft von Brüchen und Diskontinuitäten gekennzeichnet. Es gibt nicht einmal eine Siedlungskontinuität, sondern große Wellen der Besiedelung: die Ausbauperiode des Deutschen Reichsgebiets (Rodung und Besiedlung z.B. der Mittelgebirgs- und Küstengebiete), die »Ostsiedlung« des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts, die Neubesiedelung nach den großflächigen Wüstungen des Spätmittelalters. Der Siedlungsprozess war nicht spontan und selbst organisiert – die Grundherren organisierten ihn und legten die Siedlungsstruktur und die rechtliche Verfassung fest: »Ein Beispiel geplanter Stadt-Land-Verbindung bietet die Gründung von Leipzig. Es bekam Stadtrecht, gerade als die Dörfer, die im Bannforst aus wilder Wurzel gegründet waren, ihre ersten Ernten von den Äckern einbrachten. »Zwischen Stadtgründung und Dorfrodung besteht ein ursächlicher Zusammenhang, (…) Stadt und Land scheinen aufeinander abgestimmt, als natürliche Einheit geplant««, zitiert der Wirtschaftshistoriker Wilhelm Abel den Kollegen H. Quirin.

Die große Agrardepression, d.h. die Krise der spätmittelalterlichen Gesellschaft, war bereits keine Krise des Feudalismus mehr, sondern eine der Marktwirtschaft; sie lässt sich allein weder durch kurzfristige Klimaänderungen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, noch durch eine Geldkrise durch den Zufluss von Silber und darauf folgende Inflation erklären, wie es einige Historiker versuchten.
Dass Klimaschwankungen kurzfristig ganze Ernten vernichten und Hungersnöte mit verheerenden Epidemien hervorrufen konnten, lag an der fast ausschließlichen Ausrichtung der Ernährung auf den wetteranfälligen Getreideanbau. Dass die Hungersnöte zu Arbeitskräfteknappheit und Lohnsteigerungen zu einer Krise der gesellschaftlichen Verfassung führen konnten, lag an der spezifischen Produktionsweise der Getreidewirtschaft. Dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung und der Ressourcenbedarf für die nichtlandwirtschaftliche Produktion zu Verteilungskämpfen um die Ressourcen (z.B. Holz) führte, deren unmittelbarer Verlierer die besitzlose Landbevölkerung war, hatte nichts mit der Unfähigkeit dieser Menschen zu tun, gemeinschaftlich zu wirtschaften, wie es die These von der »Tragik der Allmende« behauptet, sondern damit, dass eine Produktionsweise an äußere und innere Grenzen stieß.

Die Agrardepression führte in einigen Regionen zur teilweisen Aufgabe des Getreideanbaus und Rückkehr zur Viehwirtschaft; die marktwirtschaftlichen Beziehungen zu den Städten wurden dadurch aber nicht gekappt. Auch die Viehwirtschaft war zum großen Teil kommerziell bestimmt und beruhte auf veränderten Ernährungsgewohnheiten und Wohlstand in den Städten. Ein Viertel der Dörfer und des Landes fiel wüst.

Ab etwa 1450 zogen die Getreidepreise wieder an, es gab eine neue Welle von Siedlungsgründungen und -vergrößerungen, bei geänderter Siedlungsstruktur. Die Siedlungen verdichteten und der Landbesitz konzentrierte sich. In dieser Zeit entstanden viele »alte deutscher Haufendörfer mit Gewannverfassung und Allmende«. Dabei änderte sich auch die Nutzungsweise der Allmende. Die Herauslösung und Aufteilung von Land aus der Allmendverfassung, das für den Ackerbau genutzt wurde, durch die Mitglieder der Dorfversammlung und eine Ausweitung der Allmendflächen für eine extensive Viehweidung konnten gleichzeitig stattfinden.

Am Ende der Depression waren viele Bauern und auch die Grundherren hoffnungslos verschuldet – einer der Gründe der Bauernerhebungen von 1525 war diese hohe Verschuldung der an sich relativ wohlhabenden Bauern Süddeutschlands. Trotz der militärischen Niederlage konnten die dortigen ländlichen und städtischen Eliten eine relative Verbesserung ihrer Lage erreichen. In Ostelbien und Schleswig-Holstein ermöglichte erst die Einrichtung und Durchsetzung der Leibeigenschaft die Lösung der Krise auf Kosten der dortigen Bauern. In der neuen europäischen Arbeitsteilung wurde der Osten zur Kornkammer, deren Produkte zu den kontinentalen Hafenstädten verschifft wurde, im »Altsiedelland« Süddeutschland und Rheinland wurden zunehmend kommerzielle Dauerkulturen wie Wein angebaut oder z.B. Färbepflanzen für die Textilindustrie.
Die endgültige Krise der Allmende kam mit der Umstellung auf Fruchtwechselwirtschaft, neuen Kulturpflanzen (Kartoffel), Stallfütterung des Viehs und einer weiteren Kapitalisierung der landwirtschaftlichen Produktion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Man kann das Auftreten der bäuerlichen Raiffeisen-Genossenschaften um 1850 als Weiterentwicklung der Allmendwirtschaft im Zeitalter der Industrialisierung der Landwirtschaft betrachten. Denn sie war in all ihren unterschiedlichen Ausprägungen eben nie kommunistisch, sondern eine genossenschaftliche Kooperation für den Markt wirtschaftender Landbesitzer, sowie rudimentäre Subsistenzquelle der für die Getreidewirtschaft erforderlichen halb- oder vollproletarisierten Landarbeiter. Deren Überlebensmöglichkeiten waren nicht moralisch begründet, sondern eine Notwendigkeit, um in der agrarischen Hauptsaison Arbeitskräfte zur Verfügung zu haben.

Angesichts der weit vorangeschrittenen globalen Arbeitsteilung stellt sich heute nicht die Frage nach Kooperation von »Marktsubjekten«, sondern die nach gesellschaftlichem Eigentum!





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