Wildcat-Zirkular Nr. 45 - Juni 1998 - S. 45-53 [z45chiap.htm]


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Chiapas und die globale Proletarisierung

Bereits in Nr. 1 des Wildcat-Zirkulars vom Frühjahr 1994 wurden Texte der EZLN zum Aufstand in Chiapas veröffentlicht. Wie viele andere hatte es uns vom Hocker gerissen, daß 1994 dort eine Revolte losbrach und damit weltweit das Märchen vom Sieg des Kapitalismus Lügen strafte. Eine Revolte, die aktiv und militant den neuesten Zumutungen des Kapitals in Mexiko gegenübertrat (z.B. NAFTA) und die gleichzeitig auch international Position bezog: es geht nicht nur um Chiapas, sondern um eine Konfrontation mit dem weltweiten Neoliberalismus. Die beste Solidarität ist selber kämpfen, so die Botschaft der EZLN, der auch die direkte Aufforderung zur Organisierung folgte.

Leider schien sich dann die schon sehr früh von Beobachtern geäußerte Befürchtung zu bestätigen, daß dieser Aufruf zwar gehört wurde, daß sich auch überregionale Diskussionszusammenhänge herausgebildetet haben, der Aufruf zum Selberkämpfen aber meist in die bekannten Bahnen der Solidaritätsarbeit mündete. Hierzu gehört die kritiklose Akzeptanz des zentralen Arguments der EZLN vom Aufstand der »indigenen Völker« in Chiapas. Innerhalb der Soli-Bewegung führte das fast zu einem Kritikverbot an der EZLN, das gerade deswegen so rigide funktionierte, weil Kritikpunkte als bekannt und berechtigt aufgenommen wurden, aber - meist mit Bezug auf die besondere Situation der »indigenen Völker« - relativiert und wegdiskutiert wurden. Auf Vorbereitungstreffen für das 1. Intergalaktische Treffen in Berlin im Juni 1996 kam die Erfahrung hinzu, daß die Mainstream-Diskurse über Neoliberalismus und Globalisierung übernommen wurden, statt die dringend notwendige eigene Kritik der hiesigen Verhältnisse in Angriff zu nehmen.

Es gab aber auch schon früh Texte, die sich kritisch mit den politischen Proklamationen der EZLN und der Realität in Chiapas auseinandersetzten. Im Zirkular Nr. 22 (Dezember 1995) sind zwei dieser Beiträge abgedruckt: von der griechischen Genossin Katerina, die Chiapas bereist hatte, und von Charles Reeve und Silvie Deneuve, die in der EZLN eine Avantgarde-Organisation sehen, die sich wenig von den ML-Organisationen der 70er Jahre unterscheidet und die damals auch unkritisch unterstützt wurden. [1] Der Abdruck des letzten Textes war in der Zirkular-Redaktion damals nicht unumstritten, wie das Vorwort zeigt, das zwar in zentralen Punkte der Kritik zustimmt (zur Schau getragener Nationalismus, ein schwammiger Begriff von Zivilgesellschaft, mangelnder Klassenbezug), aber sie dann doch mit dem Hinweis abbügelt, die Autoren wünschten die ideologisch reine Klasse herbei, während die soziale Realität leider sehr widersprüchlich sei. Ein Artikel in Zirkular Nr. 24 [2] setzte sich kritisch mit dieser »Methode der Relativierung« aus Angst vor theoretischer Verunsicherung auseinander - ein Verfahren, das im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb sehr verbreitet ist, aber den Verzicht auf revolutionäre Theorie bedeutet. Während Reeve/Deneuve versuchen, präzise Kriterien für revolutionäre Brüche zu bestimmen, ruft das Vorwort in Nr. 22 zwar zur Diskussion auf, aber auch dazu, es lieber nicht allzu genau zu nehmen, weil man sonst ja mit niemandem solidarisch sein könne. Da es um Zuspitzung, nicht um das Zudecken von Widersprüchen geht, dokumentieren wir hier den Fortgang der Debatte um Chiapas.

I.

Seit ein paar Monaten wird in der Solidaritätsbewegung die immer enger werdende militärische Umklammerung und die zunehmende Isolierung der Aufständischen in Chiapas diskutiert. Hierbei tauchen genau die politischen Knackpunkte auf, die Reeve/Deneuve angesprochen haben. Zum einen wird über Aufbau und Gründung der FZLN diskutiert; man hofft auf den endlich erfolgreichen Versuch des Aufbaus der »widerständigen Zivilgesellschaft«. Gleichzeitig wird festgestellt, daß diese »Zivilgesellschaft« vor allem das Erbe des unwiderruflich im Umbau befindlichen PRI-Systems antreten will. [3] Es kursieren Spekulationen, daß in der EZLN über ein Abgehen von der »Marcos-Linie« diskutiert wird, d.h. von der in den letzten vier Jahren praktizierten Strategie, Verhandlungen zu führen und nicht zu führen bzw. das Warten auf den Aufstand der »Zivilgesellschaft«. Ein Festhalten an dieser Strategie könnte möglicherweise dazu führen, daß die EZLN beim Umbau des mexikanischen Staates außen vor bliebe. Mitte 1998 sind die Aufständischen in Chiapas in einer schwierigen Situation: die Region ist in hohem Maße militarisiert, es gibt immer wieder Massaker. Gleichzeitig wußte die EZLN von Beginn an, daß das Fortbestehen der Revolte nicht der militärischen Stärke der zapatistischen Communities zu verdanken sein würde, sondern einer breiten aufständischen Bewegung - »mindestens« in Mexiko.

Aber die Konzentration auf die sogenannte »Zivilgesellschaft« hat den Blick auf die Möglichkeiten einer sozialen Bewegung in Mexiko vernebelt. Auf den Treffen der bundesweiten Soligruppen werden Unmengen von Informationen über Widersprüche und Streitigkeiten von NGO-Projekten oder den Formierungsprozeß der FZLN ausgetauscht, aber auch vier Jahre nach Beginn des Aufstands sind kaum Informationen darüber zu bekommen, was diese Organisierung der »Zivilgesellschaft« mit realen Prozessen einer Selbstorganisierung von unten zu tun hat.

II.

Der Text von Charles Reeve und Silvie Deneuve »Jenseits der Sturmhauben des mexikanischen Südostens« wurde erst Anfang 1998 auf dem Diskussionsbrett Aut-op-sy [4] veröffentlicht und löste dort sofort eine heftige und teilweise sehr polemisch geführte Debatte aus. Die Gründe hierfür liegen in der von Beginn an kontrovers geführten Auseinandersetzung über die Ursachen und die gesellschaftlichen Zusammenhänge des Aufstands im Süden Mexikos. Charles Reeve hat im Mai '98 eine Antwort auf diese Kritiken auf Aut-op-sy veröffentlicht, die wir im folgenden vollständig (mit von uns hinzugefügten Zwischenüberschriften) abdrucken. Um die Diskussion nachvollziehen zu können, ist es ratsam, nochmal den Artikel in Zirkular Nr. 22 zu lesen.

Reeve bezieht sich in seiner Antwort auf die beiden ausführlichsten Kritiken von Cristopher Day und Monty Neill (von Reeve und im folgenden mit C und M abgekürzt). Da es praktisch unmöglich ist, die Diskussion um den Text vollständig wiederzugeben, beschränken wir uns auf die zentralen Argumente. Im Kern dreht sich die Auseinandersetzung um die Aufforderung von Reeve/Deneuve, den Aufstand in Chiapas aus der Perspektive der stattfindenden Proletarisierungsprozesse zu diskutieren. Alle anderen angeführten Unterschiede in den Positionen - zur Rolle der EZLN und der indigenen Communities, zu den demokratischen Prozessen innerhalb der Communities oder deren »nachkapitalistischen Aspekte« - ergeben sich aus der Kontroverse selbst.

M und C bestreiten die Existenz der von Reeve angeführten Proletarisierungsprozesse nicht - was auch schlecht möglich ist, da dazu jede Menge Veröffentlichungen vorliegen. Da sie in der Diskussion aber bestimmte Behauptungen ständig wiederholen, hier ein paar Ergänzungen zur sozialen Situation in Chiapas, die im Text von Reeve/Deneuve nur angerissen wird.

Auslöser der Revolte war die Situation der jugendlichen BewohnerInnen des lakandonischen Urwaldes, der seit den 70er Jahren eine Art »Überdruckventil«-Region [5] war für Flüchtlinge aus den umliegenden Regionen. In diesem »sich permanent in Bewegung befindlichen Kessel besteht die immense Mehrheit der Bevölkerung aus jungen Leuten. Es sind die Kinder der früher mit Land ausgestatteten Ejidobesitzer, die aber heute weder Zugang zu Land haben, noch Hoffnung (...)«. »Heute besteht die zapatistische Armee vornehmlich aus dieser Masse von Leuten: jung und marginalisiert, modern, vielsprachig und mit Lohnarbeitserfahrungen (...)«. [6]

Das Ergebnis der seit Beginn des Jahrhunderts sich vollziehenden Auflösung der traditionellen Landwirtschaft war eine soziale Differenzierung, in die sich viele nicht einfügen wollten. Bereits seit den 50er/60er Jahren sind viele, vor allem junge Menschen, aus den umliegenden Hochlandgemeinden im lakandonischen Urwald eingetroffen. Die Situation in diesen Hochlandgemeinden, die schon in den 50er/60er Jahren »Schlafsaalgemeinden« für die Saisonarbeiter auf den Plantagen waren, als auch die sich entwickelnde neue Zusammensetzung im »Kessel« des Lakondonenurwaldes haben wenig zu tun mit traditionellen indigenen Gemeinden. [7] C und M kritisieren den Verweis von Reeve/Deneuve auf die totalitären Strukturen der traditionellen Maya-Kulturen, da dies allein nicht als Argument gegen ihre Betonung der fortschrittlichen, »nachkapitalistischen Aspekte« (C) der indigenen Gemeinden gelten könne. C argumentiert mit den Veränderungen der indigenen Gemeinschaften in den letzten Jahrzehnten und führt als Argument die »weitgehende Überwindung des alten Cargo-System« [8] an. Dies sind formal und logisch korrekte Einwände, da Reeve tatsächlich nichts zu einer aktuellen Einschätzung der Prozesse in den dortigen Communities beigetragen hat. Aber es gab durchaus auch aktuelle Informationen und Kritik an den Einschätzungen von C und M. Eine Mitdiskutantin auf Aut-op-sy schrieb z.B. nach einer Reise durch Chiapas 1997:

»Die Mängel der repräsentativen Demokratie sind für mich ziemlich offensichtlich, und jede Suche nach einer direkten, partizipatorischen Demokratie findet meinen Beifall. Ich sehe aber nicht, inwiefern die Entscheidungsfindung in den Gemeinschaften ein gutes Beispiel für partizipatorische Demokratie sein soll. Ja, es gibt interessante Aspekte daran, die zum Verständnis nützlich sein können und vielleicht in der ein oder anderen Art übernommen werden sollten. Aber all das hat nichts mit Emanzipation und Machtgewinn zu tun. Es hat was damit zu tun, vom Tag deiner Geburt bis zum Tag deines Todes von früh bis spät im gleichen Dorf zu arbeiten und dabei jeden Tag dieselben Leute zu sehen und zu versuchen, unter reichlich harten Bedingungen zu überleben. Diese kleinen Gemeinschaften treffen ihre Entscheidungen normalerweise, aber nicht immer, über Diskussionen, an denen normalerweise nur die Männer aktiv teilnehmen und in denen die Alten immer das letzte Wort haben. Es gibt fast keine Bildung und sehr wenig Informationen über den Rest der Welt. Es gibt keinen Platz für individuelle Unterschiede oder Abweichungen. Frauen werden verheiratet, lange bevor sie 18 sind (außer, sie sind in der Armee), und passen den Rest ihres Lebens auf Kinder auf.

Ich verurteile nichts. Diese Gemeinschaften versuchen, unter sehr schwierigen Bedingungen zu überleben, und das versuchen sie durch ihren eigenen Kampf, statt um Almosen zu bitten. Das ist alles sehr lobenswert, und man kann nur die Unverwüstlichkeit des menschlichen Muts bewundern. Was ich aber nicht verstehen kann, ist, wie, warum und in welchem Grade diese Gemeinschaften ein Beispiel für irgendwo anders darstellen, vor allem in einer städtischen und größeren Umgebung. Was ist für uns die Moral von der Geschichte?«

Es bestehen auch Zweifel, ob das Cargo-System wirklich demnächst überwunden ist, wie C es andeutet. Richtig ist, daß es im lakandonischen Urwald, der geographischen Basis der EZLN, bereits seit den 70er Jahren zu Neuansiedlungen gekommen ist, in denen kein Cargo-System, zumindest nicht in dieser traditionellen Form, mehr aufgebaut wurde. Aber die Ursache scheint hier nicht in einer kontinuierlichen Veränderung traditioneller Strukturen zu liegen, sondern vielmehr im Bruch mit den bisherigen materiellen Lebensbedingungen: »(...) Die Siedlerbevölkerung war zudem sehr heterogen, es gab Migranten aus dem Hochland von Chiapas, Zuwanderer aus anderen Teilen Mexikos und Flüchtlinge aus Guatemala. In dieser Situation und meist ohne Unterstützung durch die Regierung mußten die Siedler ihr soziales Zusammenleben neu organisieren, wobei eine Übertragung der Gemeindeorganisation des Hochlandes aufgrund der gänzlich anderen Lebensbedingungen meist ausgeschlossen war. Deshalb bildete sich in der Regel kein Cargo-System aus, vielmehr wurden die wichtigen Funktionen gewählten Kommissionen übertragen. Eine wichtige Rolle in der Organisierung der Gemeinden spielte angesichts der weitgehenden Abwesenheit des Staates die katholische Kirche, insbesondere die von der 'Theologie der Befreiung' inspirierte Katechetenbewegung.« [9] Fehlender Landbesitz, (Semi-)Proletarisierung und die Aktivitäten der Kirche bestimmen somit das Bild und die materiellen Hintergründe des Aufstands in dieser Region.

Auch in anderen Regionen Mexikos ist dieser Zusammenhang zentral. Die 1994 vorgenommene Änderung des Gesetzes über das ejidale Land ermöglicht es, für eine privat genutzte Parzelle Besitzrechte zu erhalten und den Boden zu verkaufen. Das war ein von oben verordneter Schritt in Richtung weiterer Privatisierung des Landes. Allerdings wird das Ejido-Land teilweise schon seit Jahrzehnten verkauft und veräußert, und das Gesetz von 1994 legalisiert und institutionalisiert diese Praxis nur im nachhinein. Meist war das kommunale Land (Ejido) in individuelle Parzellen aufgeteilt und bewirtschaftet worden. Momentan hat in den Ejidos noch die ältere Generation das Sagen, die einem Landverkauf skeptisch gegenübersteht. Viele der jüngeren Ejidatarios, die sowieso schon in Lohnarbeitsverhältnisse eingebunden sind, sehen im Landverkauf die Möglichkeit, dem »niedrigen Status als Landarbeiter oder Bauer entfliehen zu können«. [10] Der Kampf um das Land könnte vor diesem Hintergrund auch anders gefaßt werden: nicht als Kampf, Bauer/Bäuerin zu bleiben oder wieder zu werden, auch nicht als Kampf gegen die Proletarisierung, sondern als Kampf um die Bedingungen dieser Proletarisierung.

III.

Die beiden Kritiker C und M sehen diese Prozesse durchaus. M spricht von den »Aspekten der Proletarisierung« und stellt Ihnen die »verbliebenen, machtvollen Aspekte der Community« gegenüber. C betont die negativen Momente der Proletarisierung auf die Jugendlichen (z.B. Alkohol und Videospiele) und wirft Reeve vor, er würde nicht sehen, welche Bedeutung das kulturelle Überleben der Indígenas in der Form des Selbstbestimmungsrecht und als Quelle für den Zusammenhalt des Kampfes hat. In der Folge wird für C die indigene Community und die EZLN zur »wichtigsten Verteidigungslinie«.

M stimmt Reeves These zu, daß nur landesweite Revolten und breite Streikbewegungen das geplante oder teilweise schon begonnene Massaker in Chiapas verhindern können. Aber er betont die Kontinuität traditioneller indigener Gemeinschaften, weil er sie heute für einen der wichtigsten Ausgangspunkte zur Überwindung des Kapitalismus hält. Er bezieht sich dabei auf die Argumentation eines mexikanischen Genossen: In den indigenen Gemeinschaften sei »die Ökonomie« an den Rand des sozialen Lebens der Leute verbannt worden, während sie z.B. in den USA das Leben dominieren würde. Hierin sieht M »lebendige Aspekte nachkapitalistischer Gesellschaften« und im Kampf um die Autonomie dieser Gemeinschaften einen »potentiell mächtigen Hebel für den Angriff auf das Kapital«. Somit sei »der Kampf der Indígenas der Vorschlag, einen Sprung in den Postkapitalismus zu machen, ohne vom Kapitalismus vollständig vergesellschaftet worden zu sein«. Er will nicht sagen, »die indianischen Gemeinden befänden sich 'außerhalb' des Kapitalismus«. Er behauptet aber, daß es »in ihrem Inneren nicht-kapitalistische Verhältnisse« gebe, und fragt sich, »ob solche Verhältnisse überleben und sich ausweiten können«. Die Frage sei, ob »alle zu ProletarierInnen werden und der kapitalistischen Warenlogik unterworfen werden müssen, bevor (irgendwie) der Kommunismus geschaffen werden kann«. M hat diese Frage schon mit Nein beantwortet. Er stellt der Proletarisierung die »sozialen Strukturen des Urkommunismus« gegenüber, als deren »lebendige Fortsetzung« er die EZLN versteht [11]. Man hat den Eindruck, daß er sich bei seinen Ausführungen zu den basisdemokratischen Versammlungen in den Communities und »nachkapitalistischen Aspekten« (die er der Bedeutung der Proletarisierung entgegenstellt) von Wunschdenken leiten läßt, vielleicht auch, weil dies ermöglicht, der schwierigen Einschätzung der weltweiten Proletarisierungsprozesse aus dem Weg zu gehen.

IV.

Worum geht es in der Debatte um die Proletarisierung überhaupt? Seit dem kommunistischen Manifest ging der Marxismus davon aus, daß der Kapitalismus alle zu Proletariern machen wird, die nur noch ihre Arbeitskraft besitzen, nichts zu verlieren haben als ihre Fesseln. Proletarisierung wurde also als eine recht gradlinige Entwicklung hin zur »Lohnarbeit für alle« begriffen. Rosa Luxemburg betonte die Bedeutung »nichtkapitalistischer Milieus« für das Fortbestehen des Kapitalismus, bzw. die Reproduktion (billiger) Arbeitskräfte. Und tatsächlich vollzogen sich diese Proletarisierungsprozesse weitaus langsamer, als es der traditionelle Marxismus prognostiziert hatte. Auch in den sogenannten entwickelten Ländern hat es, so z.B. auch in der BRD bis weit in die 50er Jahre, noch breite halb-proletarisierte Bereiche gegeben, in denen Lohnarbeit und z.B. die Arbeit auf einem eigenen Stück Land noch nebeneinander existierten. Theoretiker wie Wallerstein haben an der traditionellen Definition von Proletariat kritisiert, daß sie sich zu stark an der Arbeiterklasse der Industrieländer orientiere. Er sieht die Semiproletarisierung einerseits (Selbständige, Kleinbauern) und halbfreie Arbeitsverhältnisse (Halbpächter, Hausmädchen, Schuldknechtschaft, verschuldete MigrantInnen) andererseits als von Anfang an typisch für den Kapitalismus an. Die vollständige Proletarisierung hätten gerade die Kapitalisten immer zu verhindern, die Proletarier jedoch durchzusetzen versucht, weil die Lebensbedingungen für sie dann besser seien. Einige behaupten sogar, daß es eine Tendenz in umgekehrter Richtung gebe, eine »Entproletarisierung«. Als Beweis wird die Zunahme von Arbeitslagern, Knastarbeit und Schuldknechtsschaftsverhältnissen angeführt.

K.H. Roth spricht davon, daß sich heute zum ersten Mal in der Geschichte ein Weltproletariat herausgebildet habe. [12] Er kann aber den Widerspruch zwischen der »objektiven« Konstitution als Weltproletariat und der gleichzeitigen Umwandlung in neue Arbeitsverhältnisse mit gesteigerten Ausbeutungsraten nicht lösen. Es gehe darum, die aktuellen Entwicklungstendenzen des neoliberalen Akkumulationsregimes aus der Perspektive des neuen Weltproletariats zu analysieren: die Massenkämpfe in Südostasien und ihre Auswirkungen auf die Krisenentwicklung, das ständige Aus-dem-Kapitalverhältnis-Herausstreben usw.. Gleichzeitig propagiert er auf sehr traditionelle Weise den »Kampf um die kulturelle Hegemonie« in der Frage, »wie es dem an sich neu konstituierten Proletariat gelingen kann, zu sich selbst zu finden.«

Es stellen sich auf mindestens zwei Ebenen Probleme. Zum einen muß grundsätzlich geklärt werden, wie diese Herausbildung eines Weltproletariats aussieht. Fassen wir diesen Prozeß in einem ersten Schritt als Herausbildung einer subsistenzlosen Klasse, dem dann einer zweiter in Form der Verwandlung von landlosen Proletariern in Lohnarbeiter folgt, oder entsteht ein wahrer Kosmos von unterschiedlichen Ausbeutungsverhältnissen? Was bedeutet dies für die Herausbildung von Kämpfen?

Die Vertreterinnen der Subsistenzperspektive haben die Lohnarbeit bereits zu einer Fußnote der Geschichte erklärt. Sie setzen politisch auf die Stärkung einer neuen Subsistenzökonomie, die als einzige den Kapitalismus überwinden könne. Andere untersuchen den Kosmos der neuen Ausbeutungsverhältnisse und bestehen politisch auf dem gleichberechtigten Nebeneinander der verschiedenen Sektoren des neuen Proletariats, um jeden neuen Determinismus zu vermeiden, der nur wieder zu neuen Hierarchien führe. Wie diese unterschiedlichen Sektoren zusammenkommen können, bleibt allerdings unklar oder bloße Hoffnung.

Die Hauptfrage ist also zweitens, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen der Proletarisierung und der Entwicklung von neuen Bedürfnissen, die in den Kämpfen ihren Ausdruck finden. Und entwickelt sich dabei dann auch das Bedürfnis nach dem Kommunismus? Entstehen so weltweit »subjektive und »objektive« Gemeinsamkeiten?

Genau darum geht es Charles Reeve, wenn er betont: »Wir haben tatsächlich gesagt, daß die EZLN den Aufstand nicht auf die Proletarisierung bezieht (...). Für uns wird die Revolte durch diese politische Strategie an alte Werte gekettet und ihre Perspektive eingeengt. Sie ist damit langfristig nicht in der Lage, modernere politische Inhalte auszudrücken. Inhalte, die aus dieser Proletarisierung entstehen können (oder auch nicht, wie C betont), die aber allein Verbindungen zwischen der Revolte in Chiapas und den übrigen sozialen Bewegungen in Mexiko herstellen könnten.«


Fußnoten:

[1] Siehe auch den kritischen Rückblick auf die Solidaritätsarbeit zu Nicaragua in diesem Zirkular.

[2] Vorschläge zur Wiederbelebung der theoretischen Diskussion, in Wildcat-Zirkular Nr. 24, Februar/März 1996.

[3] Diese Sicht der Dinge illustriert der in der Arranca! 14 abgedruckte Artikel der PRD nahen Gruppe Guillotina, die letzten Herbst in in der BRD war.

[4] Aut-op-sy ist ein Wortspiel, in das die Abkürzung Aut.op. von Autonomia operaia (Arbeiterautonomie) eingeflossen ist. Aut-op-sy ist eine Mailing-Liste im Internet, die vor ein paar Jahren von Leuten in den USA und in Australien ins Leben gerufen wurde, die dem autonomen, linksradikalen und operaistischen Spektrum angehören. Harry Cleaver verbreitete hier von Anfang an massiv Informationen über den Aufstand in Chiapas.

[5] A.G. de Leon, Die Motive für Chiapas, 1994. Hier zitiert nach der Übersetzung in: Der Wind der Veränderung. Die Zapatisten und die soziale Bewegung in den Metropolen, Edition Nautilus 1997.

[6] ebenda.

[7] nach: Lateinamerika, Analysen und Berichte 21, 1997.

[8] Ein System hierarchisch angeordneter religiöser und politischer Ämter, die jedes Jahr neu besetzt werden, und die mit einem erheblichen Zeitaufwand, aber auch finanziellen Ausgaben, verbunden sind. Lange Zeit wurde von Ethnologen die These vertreten, daß dieses System eine Art Umverteilung angesammlter Reichtümer bedeutet hätte, was heute als überholt gilt: wer zu Vermögen gekommen war, der behielt dieses auch, und wer arm war, blieb arm.

[9] nach: Lateinamerika: Analysen und Berichte 21, 1997.

[10] ebenda.

[11] in: Monty Neill: Towards a New Commons, in: Midnight Notes, Nr. 12, 1997

[12] Siehe die Thesen von K.H. Roth in Zirkular Nr. 42/43.


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