Offene Antwort auf einen offenen Brief
von John Holloway (April 1998)[1]
Liebe Wildcats,
vielen Dank für Euren Brief. Es tut mir leid, daß ich nicht schon früher geantwortet habe, aber ... und dann kommen die ganzen Entschuldigungen. Ich weiß nicht mehr, wie viele Briefe ich schon so begonnen habe.
Dabei ist Euer Brief etwas Besonderes. Ihr schreibt, es sei ein »besonderer Glücksfall« gewesen, auf unsere Texte zu stoßen, aber das gilt auch umgekehrt. Für jemanden, der den größten Teil seiner Zeit dieser merkwürdigen Form von Klassenkampf (oder vielleicht diesem merkwürdigen Laster) widmet, die die marxistische Theorie darstellt, ist es sehr erfreulich zu hören, daß es Leute gibt, die seine Texte nicht nur lesen, sondern auch diskutieren und hilfreich finden. Zuerst war ich natürlich enttäuscht, daß Ihr das Papier über die Revolte der Würde nicht veröffentlicht habt. Aber eigentlich ist es viel erfreulicher, daß Ihr das Papier sorgfältig gelesen, diskutiert und eine detaillierte Kritik geschrieben habt. Vielen Dank dafür.
Ich werde auf die einzelnen Punkte in der von Euch vorgeschlagenen Reihenfolge eingehen: nicht im Sinne einer Antwort auf Eure Kritik, sondern als eine Vorwärtsbewegung im Prozeß des Fragens und Untersuchens. Ich werde mich auf drei Punkte konzentrieren, die in Eurer Argumentation im Mittelpunkt zu stehen scheinen: die Bedeutung der EZLN, die Frage von Klasse und Humanismus und die Frage der Arbeit.
1. Die EZLN
Ihr schreibt in Eurem Brief, das Ziel meines Papiers sei es gewesen, die EZLN gegen Kritik von der Linken zu verteidigen. Ich denke aber, es ging mir mehr um eine Verteidigung der EZLN gegenüber ihren Unterstützern als gegenüber ihren Kritikern. Ihr betont, daß die Bewegung, die um den zapatistischen Aufstand herum entstanden ist, sehr bunt zusammengewürfelt ist und eine ganze Bandbreite von unterschiedlichen Positionen enthält. Ich halte es für äußerst wichtig, sich innerhalb dieser Bewegung zu engagieren und politische und theoretische Argumente über den Charakter der Bewegung in sie einzubringen. Ich habe dies getan, indem ich mich auf die Kategorie der »Würde« konzentriert habe, die meiner Ansicht nach eine sehr mächtige Kategorie sein könnte.
Natürlich gehe ich davon aus, daß die zapatistische Bewegung eine äußerst wichtige und einmalige revolutionäre Bewegung darstellt. Ich habe gesagt, daß die Bewegung in vieler Hinsicht verworren und ambivalent ist, und sie steht nicht außerhalb der Kritik. Aber aus Gründen der theoretischen Reinheit oder Korrektheit eine Beteiligung an der Bewegung abzulehnen, wäre meines Erachtens ein großer Fehler. Außerdem denke ich, daß jedes Engagement mit den Zapatisten die Offenheit voraussetzt, von ihnen zu lernen und zuzuhören. Es kann nicht darin bestehen, vorgefertigte Ideen über das, was korrekt ist, anzuwenden. Was sie getan haben und was sie tun, die revolutionäre Art, mit der sie revolutionäre Ideen in Frage stellen, macht sie für mich zur aufregendsten revolutionären Bewegung seit langer Zeit. Auch der »Mai '68« war eine verworrene Bewegung, reich an Fehlern und kritikablen Aktionen: auch damals hielten sich die vielen Gruppen, die sich im Besitz der »richtigen Linie« wähnten, abseits. Genauso erscheint mir heute die Position von linken Kritikern der Zapatisten wie Deneuve/Reeve.[2]
2. Klasse und Humanismus
An diesem Punkt konzentriert Ihr Euch auf den Abschnitt des Papiers, der mit dem Satz anfängt: »Die Würde ist das revolutionäre Subjekt. Würde ist ein Klassenbegriff und kein humanistischer Begriff.« Dieser Abschnitt war natürlich dazu gedacht, eine Diskussion zu provozieren. Ihr beschuldigt mich, in den Humanismus zurückzufallen, den ich zu kritisieren behaupte, und völlig richtig seht Ihr einen Zusammenhang zwischen diesem Problem und der »reinen Unruhe des Lebens«, die ich in anderen Texten zitiere.
Ich habe diesen Abschnitt mittlerweile gründlich überarbeitet, zum Teil aufgrund Eurer Kritik. Aber diese Änderungen betreffen nicht die Kernpunkte unserer Diskussion.
Ihr kritisiert, ich würde bei dem Versuch, einen definitorischen oder objektivistischen Klassenbegriff zu vermeiden, das Kind mit dem Bad ausschütten, indem ich den Klassenbegriff auf den Widerspruch zwischen Entfremdung und Nicht-Entfremdung reduziere, der in jeder Person vorhanden ist.
Ich halte Eure Charakterisierung für zutreffend. Für mich ist die Arbeiterklasse, das revolutionäre Subjekt, die entmenschlichte Menschlichkeit, die unterworfene Nichtunterwerfung, die Freiheit in Ketten, die reine Unruhe des Lebens im Käfig, die definierte Undefinierbarkeit, die negierte Kreativität usw.. Aber diese Widersprüche hängen nicht einfach in der Luft: sie sind Voraussetzung und Konsequenz des täglichen, stündlichen Auspumpens von Mehrwert aus den ArbeiterInnen, sie existieren in und durch diese Ausbeutung. Wenn die Ausbeutung aufhört, dann gibt es keine Entmenschlichung der Menschlichkeit usw. mehr. Aber ebenso gilt: wenn es keine Entmenschlichung der Menschlichkeit usw. mehr gibt, dann existiert die Ausbeutung nicht mehr. Die Ausbeutung ist der Kern der Entmenschlichung, der Kern des Klassenkampfs. Aber ich denke nicht, daß sich die Ausbeutung der mehrwertproduzierenden ArbeiterInnen von der damit verbunden Entmenschlichung der Menschlichkeit abtrennen läßt. Und diese Entmenschlichung ist nicht einfach ein äußerer Widerspruch zwischen uns und dem Kapital, sondern dieser Widerspruch läuft durch uns alle hindurch. Wenn Ihr schreibt, das »Subjekt der revolutionären Veränderung ist damit die Klasse der Produzenten, die von der herrschenden Klasse ausgebeutet wird«, scheint mir darin die Gefahr zu liegen, den Klassenkonflikt zu »reduzieren«, einen Aspekt des Klassenkonflikts abzutrennen, der Revolution ihren Reichtum zu nehmen.
Wenn ich sage, daß die Ausbeutung der Kern der Entmenschlichung ist, meine ich damit nicht, daß es eine Hierarchie zwischen den unmittelbaren Mehrwertproduzenten und dem Rest von uns gibt, sondern lediglich, daß die Negation der Kreativität (usw.) ein materieller, handgreiflicher, historischer Prozeß ist. Möglicherweise ließe sich solch eine Hierarchie entwickeln, wenn gezeigt werden könnte, daß die unmittelbaren Mehrwertproduzenten eine besondere Rolle beim Angriff auf das Kapital spielen. Das ist oft angenommen worden und dies war einer der Punkte, über die wir bei unserem Treffen gesprochen haben: die Vorstellung, daß es Schlüsselsektoren der Arbeiterklasse gibt, die dem Kapital in besonderer Weise Schaden zufügen können (wie die ArbeiterInnen in den großen Fabriken oder die TransportarbeiterInnen). Diese ArbeiterInnen können in einer besonderen Direktheit die Abhängigkeit des Kapitals von der Arbeit ausspielen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es sich bei diesen Gruppen von ArbeiterInnen notwendigerweise um die unmittelbaren Produzenten von Mehrwert handeln muß (denkt z.B. an die BankarbeiterInnen). Der Schock, den die Zapatisten dem Kapital versetzt haben (z.B. als Entwertung und Umbruch der globalen Finanzen 1994-95), zeigt, daß die Fähigkeit zur Blockierung der Kapitalakkumulation nicht (oder nicht mehr?) notwendigerweise von der jeweiligen Stellung im Produktionsprozeß abhängt. Wie dem auch sei, was »schadet« dem Kapital mehr - ein langer Streik von IndustriearbeiterInnen oder eine Rebellion im Dschungel von Mexiko, die die Idee der Revolution und den Traum von einer anderen Gesellschaft wieder in Umlauf bringt?
In Eurem Brief sagt Ihr, ich würde in den Humanismus zurückfallen, den ich kritisieren wollte. Ihr schreibt: »Es gibt eine unüberwindbare Trennung zwischen humanistischen und revolutionären Konzepten. Während sich humanistische Ansätze auf ein ideales, philosophisches Menschsein und eine abstrakte, unhistorische »Menschlichkeit« beziehen, geht die revolutionäre Theorie von den historisch wirklichen Menschen aus« (S. 37). Mit den »historisch wirklichen Menschen« habe ich ein Problem. Wenn dies positivistisch verstanden wird, als die Menschen, wie sie heute sind, dann gibt es keine Revolution: es kann Proteste oder Kämpfe geben, aber das ist alles. Nur wenn es negativ verstanden wird, als die »historisch wirklichen Menschen, wie sie in ihrer Negation und Entfremdung existieren, in Formen, in denen sie verleugnet werden«, nur dann enthält der Begriff »historisch wirkliche Menschen« irgendeine revolutionäre Kraft. Aber was ist das, was negiert, entfremdet und verleugnet wird? Es ist die Möglichkeit, als Menschen, frei und selbstbestimmt zu leben. Der Ausdruck »historisch wirkliche Menschen« macht nur Sinn, wenn wir diese wirkliche historische Existenz als eine Existenz in Negation, eine Existenz in Spannung verstehen, wobei diese Spannung in die Richtung von Menschlichkeit und selbstbestimmter Praxis weist. Das Problem am Humanismus ist nicht, daß er einen Begriff der Menschlichkeit hat, sondern daß er diese Menschlichkeit positiv bestimmt, als etwas schon existierendes, statt von der Menschlichkeit als etwas nur in negativer Form existierendem auszugehen, als einem Traum, einem Kampf. Die zapatistische Parole »Menschlichkeit gegen Neoliberalismus« ist zweideutig: Menschlichkeit kann entweder positiv verstanden werden (auf sozialdemokratische Weise) oder negativ. In meinem Aufsatz plädiere ich dafür, sie im negativen Sinne zu verstehen.
Ihr wendet Euch gegen die Parole »Menschlichkeit gegen Neoliberalismus«, weil sie genausogut von Anhängern der Sozialistischen Internationale gebraucht werden könnte. Das stimmt, aber ich weiß nicht, ob das ein Problem ist. Alle Kategorien, die wir benutzen, sind umkämpft: hier in Mexiko reden die Politiker der PRI von der Bedeutung der revolutionären Tradition, die Ideologen der ehemaligen Sowjetunion sprachen von Klassenkampf, Clinton redet von Freiheit. Na und? Jede Situation eines revolutionären Aufstands ist eine Situation der Verwirrung, verwirrter Gedanken, verwirrter Begeisterung, von (weniger verwirrtem) Opportunismus, von zweideutigen Kategorien. Das ist kein Grund, sich abseits zu halten.
Was ich bisher gesagt habe, klingt zu negativ, zu defensiv. Es geht nicht darum, mich gegen Eure Kritik zu verteidigen, noch weniger um einen Gegenangriff. Euer Brief war für mich sehr hilfreich bei dem Versuch, die Sachen klarer zu durchdenken. Mit einigen Punkten stimme ich überein, über andere denke ich noch nach. Einer der Punkte, die mir im Kopf herumgehen, ist Eure Behauptung, daß mit einem Verständnis von Klasse als dem Widerspruch zwischen Entfremdung und Nichtentfremdung der Klassenbegriff jegliche Bedeutung verlieren würde: »Er kann auf alles mögliche angewendet werden« (S. 40). Aber geht es der marxistischen Theorie nicht gerade darum? Alle gesellschaftlichen Phänomene als Formen des Klassenkampfs zu verstehen und dabei den Reichtum des Klassenkampfs und die Zerbrechlichkeit aller gesellschaftlichen Phänomene zu erkennen? Wenn zum Beispiel das Geld als eine Form des Klassenkampfs untersucht wird, wie es in den Artikeln von Werner [Bonefeld] und mir geschieht, die Ihr veröffentlicht habt, können wir eine Menge über die gegenwärtige Entwicklung und die Zerbrechlichkeit des Kapitalismus lernen. Bei einer eingeschränkteren Sichtweise von Klassenkampf und der Betrachtung des Geldes als etwas dem Klassenkampf Äußerliches würden solche Einsichten ausgeklammert bleiben. Ich stimme zu, daß diese Überlegungen nicht ausreichend entwickelt sind, aber die beste Möglichkeit zu ihrer Ausführung besteht darin, sie im Zusammenhang mit bestimmten Kämpfen wie dem zapatistischen Aufstand zu sehen. Ich verstehe nicht, warum ein Begriff, der sich auf alles anwenden läßt, »damit für die Praxis bedeutungslos bleibt« (S. 40).
3. Die Arbeit ist zentral
Ich stimme vielen Bemerkungen in diesem Abschnitt Eures Briefs zu: zum Beispiel, daß die Frage des Verhältnisses zwischen kreativer Praxis und Arbeit in dem Aufsatz über die »Zentralität der Arbeit« genauer hätte entwickelt werden müssen. Die zentrale Frage ist aber auch hier wieder das Verständnis von Klasse. Ihr betont erneut die Sichtweise, das der Klassenkampf sein Zentrum im unmittelbaren Produktionsprozeß habe: »Diese materielle, dingliche Gestalt des Produktionsprozesses ist der harte Kern des kapitalistischen Kommandos über unser Leben« (S. 43). Und ganz am Ende schreibt Ihr: »Das Kapital flieht vor der »aufständischen Macht der Arbeit«, aber es kann nur in die Richtung ihrer weiteren Vergesellschaftung fliehen, die es den ArbeiterInnen gegenüber wieder als neue »soziale Mächte« aufbauen muß, so wie der River-Rouge-Komplex von Ford eine »soziale Macht« war (S. 44). Ich würde beiden Aussagen zustimmen, aber ich verstehe sie anders als Ihr. Für mich ist z.B. der zapatistische Aufstand genau ein Beispiel dafür, wie die Flucht des Kapitals zu neuen Formen der Vergesellschaftung führt (zur härteren Unterwerfung des Lebens von mexikanischen Bauern unter den Kreislauf des Kapitals). Wir sollten die Idee der Vergesellschaftung nicht auf die alte Vorstellung vom Anwachsen der (industriellen) proletarischen Armee (Schornstein nach Schornstein, wie Brecht irgendwo sagt) einschränken, was ich bei Euch herauslese. Es wäre meiner Ansicht nach gefährlich, den Klassenkampf in dieser Weise einzuschränken, denn er ist weitaus umfassender und entwickelt sich schneller, als dieser Auffassung zufolge.
Das Kapital beruht auf der Ausbeutung der Arbeit, aber ohne Unterwerfung, ohne die Umwandlung von nichtunterworfener Menschlichkeit (der »reinen Unruhe des Lebens«) in unterworfene Arbeit wäre Ausbeutung nicht möglich. Dieser Kampf findet ganz offensichtlich nicht nur in der Fabrik statt, sondern in jedem Aspekt der menschlichen Existenz. Die ursprüngliche Akkumulation, der gewaltsame Kampf des Kapitals um die Unterwerfung, ist keine Sache der Vergangenheit, sondern der tagtäglichen Existenz. Ich sehe keinen Grund, warum mit einer Betonung der Zentralität von Ausbeutung der Klassenkampf auf den unmittelbaren Produktionsprozeß beschränkt werden sollte.
Ich möchte aber mit einer etwas positiveren Bemerkung schließen. Der lange Artikel, den Ihr nicht veröffentlichen wolltet, (wie die kürzere Version, die Ihr veröffentlicht habt) ist ein Plädoyer an Marxisten (und andere), aufmerksam auf das zu hören, was die Zapatisten sagen und tun. Sie sagen sehr einmalige und insgesamt sehr gute Sachen. Nicht nur, daß sie die Idee der Revolution wiederbelebt haben (was allerdings wichtig ist), sie erfinden in neuer Weise, was Revolution bedeutet. Im Mittelpunkt steht dabei die Idee, die Welt ohne eine Machtübernahme zu verändern. Das hat meiner Ansicht nach enorme Konsequenzen für die Art, wie wir über Revolution und politische Praxis denken. Sicherlich, in Europa war die Antwort darauf teilweise ein tauber Romantizismus. Aber schlimmer als die Taubheit der Romantiker war die Taubheit der Dogmatiker, derjenigen aus der unabhängigen Linken, die einfach nicht hören wollen, was ihre gefestigten Ideen in Frage stellen könnte. Im Moment gibt es viele Anzeichen dafür, daß wir in den nächsten Monaten einen tragischen Ausgang in Mexiko erleben könnten: dies wäre gleichermaßen eine Tragödie für die Welt wie für Mexiko. Ich glaube, die Welt wird nicht mehr so viele Chancen haben. Wenn sich eine eröffnet, dann muß für sie gekämpft werden - kritisch, aber es muß gekämpft werden.
Nochmals vielen Dank für Euren Brief. Ich hoffe, daß wir unsere Differenzen weiterhin produktiv wenden können und daß ich bald von Euch höre. Ich weiß, daß ich auf viele Punkte in Eurem Brief nicht eingegangen bin. Ihr kritisiert, ich würde immer versuchen, zu glatten Lösungen zu kommen und dabei vereinfachende allgemeine Antworten geben, statt Probleme und Fragen offen zu lassen. Über diesen Punkt denke ich noch nach ... (hier bricht das Manuskript ab).
Fußnoten:
[1] Holloway antwortet auf den »Offenen Brief« an ihn im Wildcat-Zirkular Nr. 39, September 1997.
[2] Siehe den Text »Jenseits der Sturmhauben« in Wildcat-Zirkular Nr. 22 sowie die Debatte in diesem Heft.