Eine Schublade für die Zapatistas
Ein Kommentar zu Deneuve/Reeve
John Holloway
Ich muß zugeben, daß ich »Hinter den Sturmhauben des mexikanischen Südostens« von Deneuve und Reeve nach dem ersten Überfliegen recht schnell als zu blöd, um es ernstzunehmen, zur Seite gelegt habe. Die gemeinschaftliche Entscheidungsfindung in Chiapas damit zu kritisieren, daß die Maya- und Inkagesellschaften autoritär waren, ist einfach zu lächerlich. Das ist so ähnlich, als würde man die IRA damit kritisieren, daß Dschingis Khan undemokratisch war (die Entfernung in Raum und Zeit ist in etwa vergleichbar).
Zwei Sachen gaben den Ausschlag, daß ich den Text nochmal sorgfältiger las: erstens, weil er auf der aut-op-sy Mailing-Liste sorgfältig diskutiert wurde, und zweitens, weil Wildcat, der ich große Anerkennung zolle, mich dazu drängten, ihn ernsthaft zu lesen: im Editorial von Wildcat-Zirkular Nr. 45 (Juni 98) unterstreichen sie ganz dick, daß George Caffentzis (von dem in derselben Ausgabe auch ein Artikel veröffentlicht ist) und ich Reeve zuhören und von ihm etwas über emanzipatorische Prozesse lernen sollen.
Mit dieser Ermahnung im Hinterkopf machte ich mich nochmal an den Deneuve-Reeve-Artikel und gleichzeitig an die Diskussion auf der aut-op-sy-Liste, darunter auch eine Antwort von Reeve (20.04.98) auf in der Diskussion geäußerte Kritiken (auf deutsch veröffentlicht in Wildcat-Zirkular Nr.45). Als ich die Diskussionsbeiträge gelesen hatte, verabschiedete ich mich von meinem anfänglichen Vorhaben, auf die Kritik von Deneuve-Reeve zu antworten, da schon ausgezeichnete Erwiderungen auf der aut-op-sy-Liste zu finden sind, insbesondere die Beiträge von Monty Neill vom 29.03.98, von Christopher Day vom selben Datum und von Monty Neill vom 7.05.98.
Trotzdem finde ich den Deneuve-Reeve-Artikel weiterhin nicht nur inhaltlich schwach sondern zutiefst beunruhigend. Nachfolgend möchte ich erklären, weshalb.
Die wahrscheinlich wichtigste Anklage, die Deneuve/Reeve gegen die Zapatistas erheben, ist ihre Aussage am Anfang des Artikels, daß die zapatistische Bewegung »die identitätsstiftenden und patriotischen Werte transportiert, die heute der Kern der barbarischsten Abwege in der Welt sind«. Ich stimme zwar zu, daß Identitäten (und zwar nicht nur ethnische) den Kern der barbarischsten Tendenzen der Welt darstellen, beunruhigt mich am Artikel, daß es nicht die zapatistische Bewegung ist, sondern die Argumentation von Deneuve/Reeve, die identitätsstiftend wirkt.
Identität ist der Kern bürgerlichen Denkens. Bürgerliches Denken zeichnet sich durch die Annahme aus, daß die kapitalistischen Verhältnisse von Dauer sind, daß sie »sind«. Losgelöst von der historischen Bewegung erscheinen zusammenhängende Prozesse als lauter getrennte Dinge, die »sind«, jedes Ding mit seiner eigenen »Seinshaftigkeit«, Identität. Diese Identität ist natürlich nicht nur eine Frage der bloßen Erscheinung: Die materielle Durchsetzung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch den Warentausch und die darin enthaltene Spaltung des Verhältnisses von Objekt und Subjekt bedeutet, daß der Fluß der gesellschaftlichen Verhältnisse (die »reine Unruhe des Lebens«) tatsächlich in Form von Dingen, von Identitäten existiert. Das bürgerliche Denken, das wissenschaftliche wie das unwissenschaftliche, geht vor, indem es identifiziert, klassifiziert, definiert, etikettiert. Das Ding oder die Person wird vom Fluß der gesellschaftlichen Verhältnisse abstrahiert und identifiziert. Die Argumentation lautet dann folgendermaßen: »Es ist x, deshalb ...«
Identifizierung als Denk- (und Handlungs-) muster erhält ihren klarsten Ausdruck im Faschismus, Rassismus und Sexismus: »Er ist Jude, deshalb ...; sie ist eine frau, deshalb ...; sie sind langhaarig, deshalb ...; sie sind schwul ... usw.« Der Ausgangspunkt der Identifikation schließt jedes Verständnis von gesellschaftlicher Veränderung aus, da jede mögliche Bewegung in der Falle der Identifikation steckt, auf der die Argumentation beruht. Mit »naja, was willst du erwarten, sie sind Juden«, oder »Frauen sind nun mal so« läßt sich alles erklären: eine ewige Wiederkehr, in der es nichts Neues gibt. Über all solchen Argumentationen steht die düstere schreckliche Warnung Adornos: [»Auschwitz bestätigte das Philosophem der reinen Identität als Tod« (Negative Dialektik, p. 362)].
Identität ist das Markenzeichen der bürgerlichen Ideologie, aber sie durchdringt auch das pseudo-oppositionelle Denken. Die Antwort auf den Nazi-Faschismus lautet oft: »Sie sind Deutsche, deshalb ...«; oder auf die US-Vorherrschaft: »Sie sind Amerikaner, deshalb ...«. Oder das Argument wird einfach umgedreht: »Wir sind schwarz, deshalb ...; wir sind Frauen, wir sind Basken, wir sind Iren, wir sind schwul ...« In all diesen Fällen wird, solange die Behauptung von Identität nicht bewußt mit ihrer eigenen Negation einhergeht (»wir sind schwarz, aber außerdem usw.«), genau das Muster und die Gefahr des faschistischen Denkens reproduziert. Aus diesem Grund ist Deneuve/Reeves Satz, daß die Identität den »Kern der barbarischsten Abwege in der Welt« darstellt, ja auch so richtig.
Damit kehre ich zurück zur Kritik/Argumentation von Deneuve-Reeve. Im allgemeinen ist die zapatistische Bewegung, seit es sie gibt, betont und bewußt anti-identitär. Sie weigert sich konsequent, als ethnische Bewegung aufzutreten, auch wenn einige ihrer SympathisantInnen sie gern als solche darzustellen. So sind auch die meisten ihrer Aussagen, daß sie eine nationale Bewegung seien, gemeint: »Wir sind keine indigene Bewegung, sondern eine nationale Bewegung« usw. Gegen alle Versuche seitens des Staats und der etablierten Linken, sie in eine Schublade zu stecken, weigern sie sich, in irgendwelche Kategorien zu passen. In einem ihrer Kommuniqués sagt die Macht zu ihnen: »Ich bin die, die ich bin, die ewige Wiederholung ... Sei nicht seltsam, weigere dich nicht, klassifiziert zu werden. Alles, was nicht klassifiziert werden kann, zählt nicht, existiert nicht, ist nicht.« (La Jornada, 10.06.96). Sie reagieren natürlich mit Spott, Gelächter, Witzen und Tanzen. Und ihren UnterstützerInnen aus aller Welt sagen sie mit dem anti-identitären Statement von Ana Maria zum ersten Intergalaktischen Treffen: »Detras de nosotros estamos ustedes« (»Hinter uns stehen die wir, die ihr seid«). (In meinem Artikel »Dignity's Revolt« führe ich die Behauptung, daß die zapatistische Bewegung wesentlich anti-identitär ist, viel genauer aus.)
Deneuve und Reeve hingegen bestehen auf Identifizierung, auf Schubladen. Ihr Argument lautet: »Sie sind Maoisten, deshalb ...« Wie alle identitären Argumente ist dieses in einer ständig wiederkehrenden Gegenwart gefangen: »In den 70er Jahren waren sie Maoisten, als sie Anfang der 80er Jahre in den Dschungel gingen, waren sie Maoisten, deshalb sind sie auch jetzt Maoisten, deshalb ...« Und dann reproduzieren sie haargenau das Muster antisemitischer Argumentationsweisen: »Sie behaupten, daß ihre Entscheidungen in demokratischen Versammlungen getroffen werden, aber es ist klar, daß sie sowas behaupten, das tun Maoisten immer.«
In diesem Zusammenhang sieht es nicht nur lächerlich, sondern geradezu nach einer finsteren Logik aus, wenn sie die Behauptung, daß es in Chiapas es Gemeindedemokratie gebe, mit Verweis auf die (600 Jahre und tausende von Kilometern entfernten) Praktiken der Inkas kritisieren: »Die Indianer behaupten, sie hätten eine demokratische Tradition, aber seht euch die Mayas, die Azteken, die Inkas an, da zeigt sich doch, welche Tradition sie haben: einmal ein Indianer, immer ein Indianer.«
Und zu den lateinamerikanischen RevolutionärInnen: »nichts Neues, haben wir alles schon gehabt - Kuba, Nicaragua, El Salvador«. Und zu den EnthusiastInnen, die sie unterstützen: »Warum lernen sie nicht endlich, daß wir in einer ewigen Gegenwart leben, daß nichts sich ändert?«
Deshalb, liebe Wildcat, finde ich den Deneuve/Reeve-Artikel nicht nur schlecht informiert, sondern zutiefst beunruhigend.