Wildcat-Zirkular Nr. 24 - Februar 1996 - S. 3-8 [z24edito.htm]


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] Zirkular: [Nr. 24] [Ausgaben] [Artikel]

Editorial

Vor genau zwei Jahren ist das erste Wildcat-Zirkular erschienen - ein guter und notwendiger Anlaß, um die Idee, die damals dahinter stand, mit der Wirklichkeit zu vergleichen.

Vor zwei Jahren wollten wir als Wildcat-Kollektive einen Sprung nach vorn wagen: wir wollten wieder raus aus der Zuschauer-Rolle, in die wir, bedingt durch die rasante und oft nicht verstehbare Entwicklung um uns herum, gekommen waren, und hielten die Zeit für reif für eine Organisierungs-Initiative. Wir meinten, dieses Bedürfnis auch um uns herum zu spüren: die Aufmerksamkeit, die Karl Heinz Roths Referat über die »Wiederkehr der Proletarität« erfahren hatte, nahmen wir als Beispiel für ein wieder gewachsenes Interesse an einem »Gesamtansatz«, d.h. über die Möglichkeit der Revolution zu diskutieren.

Unser Vorschlag war, im Juni 1994 ein größeres Treffen zu organisieren, um über all diese brennenden Fragen zu diskutieren und praktische Konsequenzen zu ziehen. Als inhaltliche Vorbereitung wollten wir bis dahin jeden Monat ein »Zirkular« erstellen, in dem alle TeilnehmerInnen ihre Texte veröffentlichen, andere kritisieren und/oder Vorschläge machen können sollten.

Die ersten Reaktionen auf die Einladung waren nicht gerade überwältigend. Die Antworten aus dem AbonnentInnenkreis der Wildcat, an die in erster Linie das erste Zirkular verschickt wurde, blieben sehr mager. Wir verschoben deshalb die Entscheidung, ob wir ein Treffen machen sollten. Am Ende beschlossen wir, auch mit nur ca. 60 TeilnehmerInnen ein solches Treffen durchzuführen.

Dessen Vorbereitung war eine ziemliche Kraftanstrengung für den kleinen Kreis. Zu den vorgeschlagenen Themenbereichen gab es Thesenpapiere, die in Arbeitsgruppen diskutiert wurden. Und am Ende sah es so aus, als hätte sich Wildcat »politisch geöffnet«. Neue Lokalredaktionen für die abwechselnde Herausgabe des Zirkulars wurden gegründet und Arbeitsprojekte vereinbart.

Selbstkritisch haben wir später festgestellt, daß es nicht hinhaut, wenn wir Thesen und Fragen formulieren, über deren Beantwortung wir uns selber noch unsicher sind. Viele haben gedacht, wir hätten auch Antworten.

Heute wissen wir, daß vor zwei Jahren noch nicht der Tiefpunkt der Krise der Linken und der autonomen Zusammenhänge erreicht war.

Das ein Jahr später geplante Folgetreffen haben wir mangels Anmeldungen abgesagt. Übriggeblieben von der damaligen Euphorie ist allein das Zirkular, das seither jeden Monat im Wechsel von kleinen Grüppchen bzw. Einzelpersonen aus eingegangenen Beiträgen zusammengestellt wird. Was nach außen hin wie »Kontinuität« aussieht, ist in Wirklichkeit ein Zeichen unserer Unorganisiertheit.

Die Zahl der Abonnenten stagniert bzw. ist leicht zurückgegangen. Einige haben ihr Abo einfach nicht mehr bezahlt. Das Zirkular erhalten jeden Monat ca. 120-150 Personen. Ob sie es noch alle regelmäßig lesen - ? Einige haben es inzwischen abbestellt, zum Teil, weil sie eine andere politische Position vertreten, zum größeren Teil aber wohl (so können wir nur vermuten, da inhaltliche Kritik kaum geäußert wurde), weil sie merken, daß sie das Blättchen gar nicht mehr lesen, das da monatlich zu ihnen ins Haus kommt.

Es gab innerhalb des Herstellerkreises des Zirkular von Beginn an eine Debatte darüber, wie »offen« dieses denn nun sein solle:

Die Beschlüsse dazu wurden regelmäßig wieder umgeworfen. D.h. die SchreiberInnen konnten nie sicher sein, ob nicht ihre mal so ins Unreine geschriebenen Thesen demnächst in einem Szeneblatt abgedruckt und gegebenfalls verrissen würden. Nicht gerade eine gute Voraussetzung für eine Diskussion, die mit alten Dogmatismen brechen will.

Der Abdruck eines Textes im Zirkular wurde andererseits auch von den LeserInnen als Veröffentlichung einer Meinungsäußerung der »Redaktion« betrachtet. Bestes Beispiel: nach dem Abdruck des Flugblattes der englischen Zeitschrift Wildcat (mit der »unsere« Wildcat nur den Namen teilt) hat die Autonome Gruppe 1. Mai Stuttgart ihr Abo abbestellt. Auf die damals angekündigte inhaltliche Kritik warten wir bis heute. D.h. das Zirkular wird gerade nicht zur Auseinandersetzung genutzt.

Der Fragebogen, den wir in der Nr. 11 abdruckten, wurde von niemandem beantwortet.

Daraus folgt:

Wir haben zwei Jahre ein Diskussionsorgan herausgegeben, das praktisch keinen Leserbrief bekommen hat. War die Schwelle also doch nicht niedrig genug - oder haben/hatten die Leser einfach das Gefühl, nichts beitragen zu können, weil sie mehr Fragen als Antworten haben?

Trotzdem sind im Zirkular natürlich ich eine ganze Menge sehr guter Beiträge erschienen, die durchaus eine höhere Auflage verdienen als die fast klandestine des Zirkulars. Es haben mehr Leute Artikel und Berichte geschrieben, als in den letzten Jahren in der Wildcat - auch wenn beim näherem Hinsehen eine eindeutige Konzentration bei den üblichen Vielschreibern zu erkennen ist. Die regelmäßgie Herausgabe des Zirkulars hat auch dazu geführt, daß in den letzten zwei Jahren nur eine einzige Wildcat erschienen ist - die war zwar schon dicker als ein Buch, aber damit auch so etwas wie ein Archiv des Arbeiterkampfs, das keine Diskussionen mehr provoziert, sondern eher als Nachschlagewerk verwendet wird.

Nach zwei Jahren halten wir es für richtig, Bilanz zu ziehen. Der erste Schritt dazu ist, mal genauer anzusehen, welche Artikel eigentlich erschienen sind, welche Debatten sich im Zirkular schriftlich niedergeschlagen haben. Zu diesem Zweck haben wir ein Verzeichnis aller bisher erschienenen Zirkular-Ausgaben mit den einzelnen Artikeln erstellt und im Anschluß daran thematisch geordnet. Dieses Verzeichnis ist sicher unvollständig, macht es aber möglich, die wichtigsten Diskussionsstränge zu erkennen.

Der nächste Schritt müßte jetzt sein, die Linien dieser Diskussionen herauszuarbeiten: welche Positionen wurden vertreten, wo gibt es unüberwindliche Gegensätze, wo theoretische Lücken?

Dann müßten wir uns darauf einigen, welche Auseinandersetzungen wir im Moment für so vorrangig halten, daß wir uns ganz darauf konzentrieren, statt allmonatlich ein buntes Allerlei von Theorie, Betriebsberichten, Kongreßprotokollen und Flugblättern zu präsentieren. Denn die jetzige Mischung überwindet das Auseinanderdriften von Diskussion und praktischem Handeln als Gruppe nur scheinbar. Sie zeigt zwar nach außen, daß wir nicht nur »rumlabern«, sondern auch praktisch eingreifen (wollen). Doch mit welcher Perspektive werden diese Flugis gemacht? Wie passen sie zu den theoretischen Diskussionen? Wo gibt es krasse Gegensätze, die nur nicht auffallen, weil die Texte zu leicht abgehakt werden? Es gab beispielsweise nicht eine Kritik an einem Flugblatt. Obwohl doch hier gerade die Gefahr groß ist, durch Vereinfachung in gewerkschaftlichen oder reformistischen Jargon zu verfallen.

Viele Artikel sind bisher nicht unbedingt so angelegt, die Diskussion zu beleben. Berichte über bestimmte Arbeitssituationen o.ä. sollten am Ende die wesentlichen Fragen benennen, die zu diskutieren wären. Der »Möbelum«-Serie hätte eigentlich eine Debatte über den Sinn und Unsinn von Betriebsräten folgen müssen, wenn wir uns selbst ernstnehmen.

Dieses Schema zieht sich durch alle Betriebsberichte: auch der Bericht über die Auseinandersetzung um die Verlagerung der Produktion in einer Fahrstuhlfabrik in diesem Heft geht kaum darüber hinaus. Er beschreibt eine Fabrik, in der die Verhältnisse der 70er Jahre noch nicht vollständig ausgerottet sind: noch erträgliche Arbeitsbedingungen, eine ungewöhnlich politisierte Belegschaft, ein Betriebsrat alter reformistischer Schule - und doch stehen die MalocherInnen ohne Ideen vor dem Unternehmerangriff: die Produktion soll nach Italien verlagert werden - welche Möglichkeiten gibt es, offensiv darauf zu reagieren?

Wir haben es bislang kaum geschafft, aus all diesen Berichten aus dem Innern der Ausbeutung verallgemeinerbare Aussagen, Thesen oder auch nur Fragestellungen zu ziehen darüber, wie heute Klassenkampf aussieht. So bleiben es Berichte, garniert mit zaghaften Aktiönchen, die wenig über das hinausgehen, was Linke immer im Betrieb machen. Die zwei Folgen von »Krise der Arbeiterklasse« in Zirkular 19 und 20 haben so etwas versucht; diese Diskussion wurde jedoch nicht aufgenommen bzw. war das Papier zu verschlüsselt.

Oder die vielen Berichte aus Leipzig im letzten Heft. Was sagen sie uns eigentlich? Daß in Leipzig die Arbeiter für sehr niedrige Löhne arbeiten, aber kapiert haben, daß der Kapitalismus beschissen ist. Daß die Individualisierung ganz gut gegriffen hat. Ist es da überhaupt gerechtfertigt, ständig von »Arbeiterklasse« zu reden?

Der Beitrag über Antirassismus in diesem Heft versucht immerhin, diese Fragen aufzuwerfen: was hat die Tatsache, daß Menschen ausgebeutet werden, mit der Möglichkeit der Revolution zu tun?

Den Berichten über Frankreich hätten Fragestellungen über Klassenkampf in Europa folgen müssen - denn deshalb interessieren wir uns doch dafür! Weshalb brechen unsere Berichte also immer vorher ab, als hätten wir nur eine Erfolgsstory für eine Tageszeitung schreiben wollen? Oder umgekehrt: wir veröffentlichen ein Flugblatt, erzählen aber die Geschichte nicht zuende...

Oder wir trauen uns im Moment nicht zu, irgendwelche Vorschläge daraus zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen?

Wie weiter?

Für das weitermachen sehe ich eigentlich nur zwei Möglichkeiten, die sich jedoch gegenseitig nicht ausschließen:

Wir führen die Diskussion wirklich: schriftlich und v.a. intensiver wieder auf Treffen. Das Zirkular bleibt exklusives Organ eines tatsächlich bestehenden Diskussionskreises aus Menschen, die sich alle daran beteiligen und ein gemeinsames Ziel im Auge haben.

Bei der bisherigen Herstellungsweise liegt schon im Ansatz ein Fehler: jeden Monat muß von einer »Redaktion«, die häufig nur aus ein oder zwei Menschen besteht, ein Heft zusammengeschustert werden. Es wird mit »interessanten« Artikeln gefüllt und ein Vorwort geschrieben. Wichtig ist das Produkt. Gefragt wäre aber das Gegenteil: eine »Redaktion«, die die Fäden weiterspinnt, die gezielt Beiträge kritisiert bzw. kritische Beiträge organisiert. Bei einem »internen« Organ wie dem Zirkular sollte der Diskussionsprozeß selbst im Vordergrund stehen.

Und/oder:

Wir überwinden unsere Borniertheit, mit der wir wichtige Texte, Thesenpapiere und Diskussionen nur in einem mehr oder wenig zufällig zusammengesetzten, sehr beschränkten Kreis verbreiten. Wir bleiben nicht auf unserem Material sitzen, sondern stellen das, was wir an Analyse, Berichten, Diskussionsbeiträgen haben, wieder mehr Leuten zur Verfügung. Die letzte Wildcat ist vor einem Jahr erschienen. Es gibt Nachfragen in Buchläden, wo denn die neue Nummer bleibt, in der dann was zu den Streiks in Frankreich stünde. Kürzlich machte ein ehedem Wildcat nahestehender Genosse den Vorschlag eines »Jahrbuchs des Klassenkampfs« herauszugeben, dessen Inhalt fast ausschließlich aus Zirkular bzw. Wildcat-Artikeln bestand. Wir könnten eine solche Veröffentlichung zu Anlaß nehmen, um unsere Thesen auf den Punkt zu bringen.

Die Texte in diesem Heft

Die ersten beiden Texte in diesem Heft sind direkte Beiträge und Vorschläge zur Weiterführung der Debatte unter uns. Der erste Text beschreibt die Mechanismen, die bisher die Debatte im Zirkularkreis verhindert haben. Die Kritik, die der Autor gegenüber bestimmten Beiträgen äußert, sollte nicht als persönliche Anmache begriffen werden, sondern als notwendige Polarisierung, die Fehler und Schwächen in der bisherigen Auseinandersetzung deutlich macht. Es geht nicht darum, einzelnen die »Schuld« zu zuweisen, sondern die Gründe herauszuarbeiten, die die Diskussion an verschiedenen Punkten zum Abbruch brachten.

Der darauf folgende Beitrag »Ist der Kapitalismus eine Marktwirtschaft?« versucht, den Bogen zu schlagen vom Text von Bellofiore in Zirkular Nr. 1 über den Unterschied von Marktwirtschaft und Planwirtschaft bis hin zu der Diskussion über Wallerstein, über die im vorletzten Heft berichtet wurde. Er kritisiert Vorstellungen, die die sozialen Beziehungen im Kapitalismus als Tauschvorgänge von mehr oder weniger autonomen Individuen oder Gruppen sehen statt als Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse. Er zeigt auf, wie die Vorstellungen vom »selbstbestimmten Leben« oder die Sichtweise des Arbeitsverhältnisses als »Deal« zwischen Unternehmern und ArbeiterInnen mit der herrschenden Ideologie einhergehen, die in den »Märkten« die letzlich bestimmende Macht im Kapitalismus sehen.

Zur Streikbewegung in Frankreich bringen wir zum einen eine unvollständige Chronologie von hier unbekannt gebliebenen Ereignissen, zum anderen eine ausführliche Analyse einer Genossin aus Paris.

Der Beitrag »Gegen die Schmerzsimulanten: Gedanken zu Rassismus und Revolution« weist auf Widersprüche in den zahlreichen Beiträgen zu Rassismus in den letzten beiden Zirkular-Jahren hin. Es ist sicher kein abschließender Beitrag zu der Debatte, aber er weist auf die offen gebliebenen Fragen hin, statt sie unter den Tisch zu kehren.

Der EZLN aus Chiapas hat einen Aufruf zu einer Internationale der Hoffnung verbreitet, den wir trotz seines Titels ernst nehmen sollten als Möglichkeit, über die traditionelle Soli-Arbeit hinauszugehen und zu einer gemeinsamen Diskussion zu kommen.

Was kann eine traditionell »kämpferische« Belegschaft gegen Gruppenarbeit und Auslagerung der Produktion ausrichten? Die Auseinandersetzungen in der Berliner Niederlassung eines Multis im Fahrstuhlbau schildert der Bericht »Warum streiken wir nicht?«

Den Schluß bilden Meldungen über Bauarbeiterstreiks in Hongkong.


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] Zirkular: [Nr. 24] [Ausgaben] [Artikel]