Editorial
»Kann sich noch jemand an Kaizen und Kanban erinnern?«
wurde im letzten Zirkular gefragt (im Artikel »Weiterhin krank«). Das waren zu Beginn der 90er zwei zentrale Begriffe in der groß aufgemachten Debatte um das »japanische Modell« und die Einführung von Gruppenarbeit in den Fabriken hierzulande. Heute spricht kein Mensch mehr davon... Japan? Japan?, war das nicht das Land mit der längsten Rezession aller Zeiten?? Das gleiche gilt für die meisten Begriffe, mit denen die Kapitalisten uns nach dem Zusammenbruch des Ostblocks das »Ende der Geschichte« verkünden wollten: die »Transformations-Ökonomien« (sollte bedeuten: harter Schlag auf die Rübe für die Menschen in Osteuropa, aber in wenigen Jahren wird alles ganz toll), »die jungen Tiger« (das waren diese vielversprechenden Gegenden in Asien, von denen seit der Asienkrise niemand mehr so recht wissen will, wie es dort zugeht - aktuelle Infos übrigens immer unter www.umwaelzung.de) - die »blühenden Landschaften« (jaja, das kennt jede/r, weil es immer so gerne zitiert wird als Beispiel für die falschen Versprechungen, die Birne den Menschen in der DDR gemacht hatte!)...
Aber kennt jemand noch die New Economy? Das war in den 90er Jahren das Versprechen, wir könnten alle reich werden, wenn wir Telekom-Aktien kaufen, der Kapitalismus würde nie mehr in Rezession und Krise stürzen und die Arbeitslosigkeit würde irgendwie auch verschwinden - nicht daß wir dann hart malochen müßten oder so, nein-nein! ganz softe, kreative, immaterielle ... ich will nicht sagen »Arbeit«, irgendwiesowas wie »Beschäftigung« sollte das werden. - Auch irgendwie nix geworden! Die Telekom-Aktien sind abgeschmiert, die vielen dot.coms (auch so ein Wort! - was macht eigentlich Uwe Seeler?) haben massenhaft Leute entlassen, den meisten Stars der New Economy geht es schlecht bis miserabel - einigen geht es besser: es gibt sie nicht mehr.
Ein größerer Brocken ist der Zusammenbruch von Enron - gemessen am vernichteten Kapital ist es die größte Pleite in der Geschichte der USA, aber politisch ist die ganze chose noch gar nicht zu überblicken: die Renten der Beschäftigten sind futsch (gerade jetzt, wo sie uns die "Riester-Rente" schmackhaft machen wollen, peinlich-peinlich!), die halbe Bush-Regierung hängt drin, die besten aller Wirtschaftsprüfer ebenso usw. usw.; wie gesagt: die Sache ist noch überhaupt nicht zu überblicken; L. aus New York versucht es ab S. 13 trotzdem mal.
Die Pleite von Enron hängt mit der »Stromkrise« in Kalifornien zusammen - und mit der Pleite von Enron hängt es zusammen, daß die Banken dem Kirch Leo auf einmal kein Geld mehr geben wollen - es ist nämlich einfach so, daß sie nicht mehr soviel haben (Commerzbank hat Geld verloren, der Gewinn der Dresdner Bank ist um 90% gesunken usw.) und Enron hat nochmal Geld gekostet. Nun steht mit Kirch eine weitere Symbolfigur des dynamischen Kapitalismus in Medienzeitalter vor dem Aus ... wenn da nicht die »nationale Lösung« wäre - wenn es ernst wird und ans Eingemachte geht (BSE, Fußball im Fernsehen u.ä.), dann wissen alle - sogar der Kanzler Schröder! -, daß »der Markt« richtig scheiße ist und daß »wir das irgendwie gemeinsam«, also staatlich regeln müssen. (Außerdem hängt die Bayerische Landesbank mit 1,9 Mrd. drin!)
Möglicherweise hilft aber auch das nix mehr. Wir hatten im Zirkular 56/57 bereits herausgearbeitet, daß eine der größten Errungenschaften der New Economy die »kreative Buchführung« ist: hedonic price index und ähnliche Tricks haben jahrelang dabei geholfen, die ökonomische Situation schönzurechnen. Nun läßt der Fall Enron vermuten, daß weitere Riesenkonzerne marode sein könnten, Namen wie Xerox und General Electric werden gehandelt, die amerikanischen Pensionskassen insgesamt könnten in Gefahr geraten, die US-Kreditbanken werden für »gefährdet« gehalten. Der ganze schöne Aufschwung durch gewaltig erhöhte Militärausgaben ist bedroht durch »mangelnde Kredibilität«. Da hilft womöglich nur die Ausweitung des »Kriegs gegen den Terror«: »Wenn der Irak angegriffen wird, redet keiner mehr von Buchhaltung.« (Anlageexperte eines Schweizer Bankhauses - FR 14.2.2002)
Es sind aber auch schon schönere wenn-dann-Sätze formuliert worden, zum Beispiel folgender: »Wenn die Menschen eine Geschichte haben, dann 'weil sie ihr Leben produzieren müssen, und zwar müssen auf bestimmte Weise'«. Es gibt Geschichte, sie entwickelt sich darüber, was die Menschen tun, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Der Kapitalismus ist eine ganz spezielle Ausprägung davon: produzierte Produktivkraft; gesellschaftliche Zwänge als »zweite Natur«. Denn das Kapital hat ein Geheimnis: Mehrwert und produktive Kooperation; diese muß es immer wieder neu vor uns verstecken; Maschinerie, der sogenannte "technologische Fortschritt" entwickelt sich aus dieser politischen Notwendigkeit des Kapitals... Aber trotz dieser Verkehrungen gibt es einen Zusammenhang zwischen fixem und variablem Kapital, die Menschen, die CNC-Maschinen bedienen, sind anders und haben andere Vorstellungen von der Welt als z.B. die Pariser Kommunarden vor 130 Jahren. Marx hat dafür den Begriff Produktionsweise geprägt. Wenn wir uns also fragen, wie wir heute die Revolution machen können und wie sie aussehen wird, dann müssen wir als erstes gucken, wie diese Menschen, wie die Arbeiterklasse heute aussieht.
Im Dunstkreis deutscher Leitkultur diskutiert man natürlich andersrum: Hier wurden in den 90ern »wertkritisch« und »antideutsch« zu Eintrittskarten in die Salons der allerkritischsten Kritiker. Sie sind weniger das Ergebnis theoretischen Nachdenkens, sondern sie spiegeln die Reaktion der radikalen Linken in Deutschland auf den welthistorischen Einschnitt von 1989/91 wider (»Wiedervereinigung«, »Neue Weltordnung«, Zusammenbruch des Ostblocks, kanban, japanisches Modell, und ähnliche Schweinereien). Emotionale Grundlage dieser Wende war das verbreitete Gefühl, daß Praxis unmöglich und Revolution undenkbar geworden sind. Daß diese Linke sich nach dem 11.9. und der Bombardierung Afghanistans vor allem über Fragen wie »Zivilisation oder Barbarei« fetzt (also mal wieder die Stichworte aufschnappt, die ihnen der herrschende Diskurs wie abgekaute Knochen hinwirft), läßt ahnen, was aus der Ecke noch alles blühen (bzw. »landen«!) könnte; »US-amerikanische Militärschläge gegen islamische Zentren« und »Lang lebe Israel!« zu fordern, waren gewiß nur erste Kostproben.
Warum setzen wir uns mit solchem Schwachsinn auseinander? Uns interessieren ganz bestimmt nicht die ideologischen Versatzstücke einer politischen Gefühlswelt, aber wir müssen uns zwei Dinge klarmachen: erstens tauchen sie als Ideologieverschnitt in den Debatten der meisten Linken ständig auf; zweitens handelt es sich nicht einfach um Erfindungen linker Schreiber, sondern Ideologie sind sie gerade darin, daß sie verkehrte Vorstellungen und Mystifikationen transportieren, die der Kapitalismus tagtäglich hervorbringt: sei es der Glaube an die übernatürliche Macht der Ware und des Geldes, oder sei es die Betrachtung der Welt vom Standpunkt der Nationen und Volksseelen aus, wie sie an jedem Stammtisch gepflegt wird. Die Beiträge zur »Wertkritik« (S. 42), zu den Situationisten (S. 32-41), zur Diskussion um »Israel-Palästina« (Beilage) und zur antideutschen Ideologie in diesem und im nächsten Heft, sind daher nicht nur Kritik der Linken, sondern immer auch ein Stück allgemeiner Ideologiekritik.
»Die Errichtung des Staates Israel ist die direkte Folge des Scheiterns des proletarischen Internationalismus in Europa.« Zu diesem Resümee kommt ein Artikel von 1989, der sich mit der Entstehung des Zionismus und der Vorgeschichte des Staates Israel beschäftigt. Wir hatten ihn 1991 in TheKla 14 herausgegeben (Der Zionismus, Mißgeburt der Arbeiterbewegung). Wer sich mit dieser Vorgeschichte beschäftigen will, soll das nochmal lesen. Wer sich damit beschäftigen will, was seither in Palästina passiert ist, soll die Beilage in diesem Zirkular lesen.
Der anfangs zitierte Artikel im letzten Zirkular war im übrigen zu dem Resümee gekommen: »wenig Entwicklung in den Ausbeutungsverhältnissen«, das hat L. aus Magdeburg ganz anders erlebt - wie, das beschreibt er ab S. 6: Rettungsversuche auf der Intensivstation.
Ansonsten ist im Heft noch ein langer Artikel aus Spanien über Kämpfe von MigrantInnen und die Schwäche der antirassistischen Bewegung (S. 22 ff.), dazu haben wir aber eine ausführliche Einleitung geschrieben (S. 19 ff.), so daß ich mir an dieser Stelle jeden weiteren Kommentar sparen kann. In letzter Minute eingetrudelt sind zwei Berichte über Streiks bei McDonalds in Paris (S. 15 ff.) und der BahnreinigerInnen in Italien (S. 55)
Viel Spaß beim Lesen!
Potsdam, 14. Februar 2002