aus: Wildcat 104, Winter 2019/2020
Die Protestwelle Ende 2019 erfasste in Südamerika auch Bolivien. Momentan gibt es dort weiterhin (breitere) Kämpfe vor allem in Chile, in Kolumbien und beginnende Kämpfe gegen die Privatisierungspläne der Regierung Bolsonaro in Brasilien – während es in anderen lateinamerikanischen Ländern zunächst wieder ruhiger zu sein scheint. Eine sehr instabile Ruhe.
Als in Bolivien nach dem behaupteten Wahlbetrug die städtische Mittelklasse auf der Straße war und sich Teile der frustrierten alten MAS-Basis anschlossen, gelang es der Rechten, die Situation für einen Machtwechsel zu nutzen. Sowohl Morales als auch die politische Rechte scheinen um die Gunst der Militärs gebuhlt zu haben. Aber als Bergbaukooperativen und verschiedene andere, eigentlich »MAS-nahe« Kreisen, den Klerikalfaschisten Camacho unterstützten und sogar Teile des gewerkschaftlichen Dachverbandes COB für einen Rückzug von Morales eintraten, war die Entscheidung zugunsten der extremen Rechten gefallen. Auch ohne aufmarschierendes Militär war es ein Putsch der Rechten, die eine zunächst zentristische, später breitere Massenbewegung (nach den Wahlen soll teilweise ein Viertel der Bevölkerung auf der Straße gewesen sein) »kapern« konnten.
Für den 3. Mai sind nun Neuwahlen angesetzt. Inzwischen schafft die »De-facto-Regierung« unter Áñez Tatsachen: Austritt aus der Bolivarischen Allianz für Amerika (ALBA), Abbruch der Verbindungen zu Venezuela, im Außenministerium herrscht Anzug- und Krawattenzwang, traditionelle, »indigene« Kleidungsstücke verboten! In den Städten werden Indigenas wieder rassistisch angemacht. Und hunderte von MAS-Funktionären, auch »einfache« Mitglieder, werden mit scheinheiligen Prozessen überzogen.
Noch immer gibt es in den Großstädten Versammlungen, in denen über die weitere Perspektive diskutiert wird, aber es gibt keine breite Bewegung. Vieles dreht sich um die Wahlen. Von »rechts« gibt es mindestens vier Präsidentschaftskandidaten; von »links« wird ein Wahlboykott nur von einer Minderheit diskutiert: Einige wollen, dass die MAS nicht mehr antritt – für andere bleibt sie das einzig mögliche politische Instrument. Morales hatte nach Argentinien eingeladen, um die Wahlstrategie zu diskutieren – aber nur seine engere Gefolgschaft kam. Auch die »Übergangspräsidentin« hat nun ihre Kandidatur angekündigt, ihr werden sogar gute Chancen zugerechnet, während die Protagonisten des Putsches (Camacho und Pamari) inzwischen abgehängt zu sein scheinen.
Die MAS hatte sich aus einer Landarbeiter/Koka-Bauern-Gewerkschaft entwickelt; sie ist politisch und auch sozial keine »Indígena«-Organisation. In Abgrenzung zu den Altparteien war sie lange keine klassische Partei, die Machtübernahme änderte das. Im Vorfeld der Wahlen 2019 verabschiedete sie gar ein Wahlgesetz, das die Kandidatur von Bürgerinitiativen und indigenen Organisationen ausschloss.
»Soziale Bewegungen« waren in Bolivien – wie in anderen Ländern auch – immer mit sehr konkreten Partikularinteressen verbunden. Zu Beginn der 2000er Jahre waren sie vereint auf den Straßen; die Kämpfe gegen die Wasserprivatisierung und der sogenannte Krieg ums Gas hatten »alle« auf die Straße gebracht. Aber gerade sieht es so aus, als konfrontierten sich im Wahlgetümmel all die verschiedenen Interessen. Auch die »Indígena-Bewegung« ist gespalten, weniger zwischen Hoch- und Tiefland, als zwischen der Mehrheit der WanderarbeiterInnen in den Städten einerseits, für die »Indigena-sein« weniger eine kulturell-ethnische Identität als die Forderung an den »plurinationalen Staat« war, ihre Interessen durchzusetzen, und andererseits eher traditionellen Territorien, die sich auch gegen den (MAS-)Staat zu behaupten versuchen. Kollektive Organisierung gibt es weiterhin in den Barrios und Stadtteilen rund um die alltäglichen Bedürfnisse wie die Wasserversorgung. Es wäre nicht das erste Mal, dass solche Strukturen sprunghaft auf der politischen Agenda erscheinen.
Mitte November mobilisiert sich heftiger, militanter Widerstand gegen den Versuch der rechten Opposition um den Klerikalfaschisten Camacho, die Macht im Staat zu übernehmen. In der Nähe Cochabambas sind dabei am 15.11.2019 acht Cocaleros erschossen worden. Bereits am Tag, nachdem Evo Morales sich nach Mexiko abgesetzt hat, ist diese Mobilisierung breiter als alles, was die rechte Opposition auf die Beine stellen kann.
Die Regierung Morales setzte alles auf den vierten Wahlsieg. Die Arroganz der Macht, die die Realität im Land nur noch bei Eröffnungen von Megaprojekten oder der Übergabe klientelistischer Geschenke kennt, hat zu einer fatalen Fehleinschätzung geführt. Die Bewegungen, die den MAS 2005 an die Regierung gebracht haben, sind heute gespalten und/oder demobilisiert. Sei es aus Enttäuschung, weil statt der viel beschworenen »Bewahrung der Mutter Erde« Agrarbusiness dominierte (im September brannte der Wald auch in Bolivien; die Regierung hatte zuvor im Interesse der Agrarindustrie Brandrodungen erleichtert). Sei es, weil eine »Teile-und-herrsche-Politik« Zustimmung belohnte und kritische Stimmen ausschloss – diese demonstrierten gegen die Wiederwahl und Wahlbetrug. Große Teile der Jugend (die Hälfte der Einwohner ist unter 25) hatte keine Lust mehr, für halbwegs gute Jobs in die MAS eintreten zu müssen – und viele dieser Jugendlichen waren gegen die Wiederwahl und Wahlbetrug auf der Straße. Teilweise aber auch, weil Morales wirtschaftspolitisch durchaus »Erfolg« hatte: in La Paz gibt es inzwischen eine indigene Mittelschicht, die nicht mehr automatisch zu seinen Wählern gehört – und sich eher passiv verhielt.
»Der Golf Club durfte nur noch Geld verdienen – und Golf spielen« so beschreibt ein Kommentar die tiefe Unzufriedenheit der weißen Mittel- und Oberschicht. Den Ausschluss von der Macht haben sie nie akzeptiert. Gerade in den Städten, wo sich die neue indigene Mittelschicht zeigt: »Angesichts des Stolzes der ›neureichen Indios‹ bricht der rassistische Hass der Oligarchie und der weißen Mittelschicht, die ihre Privilegien gefährdet sehen, wieder hervor.« (Le Monde Diplomatique, 09/2019) Jetzt waren sie entschlossen, die Gelegenheit zu benutzen, um die alten Eliten wieder an die Macht zu bringen. 2008 war ein Staatsstreich gescheitert, seitdem war die Opposition zerstritten und hatte sich mit einer Regierung arrangiert, die ihren ökonomischen Status nicht angriff (die Regierung Morales paktierte z. B. mit den Vertretern der Agrarindustrie). Diese weiße Mittelschicht war in den Tagen um die Wahl auf den Straßen. Die alte Elite war bei den Mobilisierungen gegen die Wiederwahl von Morales stark präsent. Teilweise kam es zu absurden gemeinsamen Auftritten von Camacho mit regierungskritischen Teilen der Kleinbauernorganisationen – oder auch mit dem Bürgerkomitee aus Potosì. Die Stadt um den Cerro Rico war lange eine Basis des MAS gewesen; zuletzt aber häufte sich die Kritik, dass von den Profiten aus den ausgebeuteten Rohstoffen immer noch zu wenig in der Region verbleibe.1
Außerdem scheint es der Rechten gelungen zu sein, schon vor den Wahlen mittels fester Rednerlisten und breiter Präsenz gezielt die »Bürgerkomitees« zu dominieren. Historisch waren diese Komitees Zusammenschlüsse von Unternehmerverbänden, Kleinunternehmern, Lehrerverbänden, Frauenverbänden, Selbstständigen.… Instrumente der Mittel/Oberschicht und der Unternehmer. Aus diesen Bürgerkomitees heraus ist die rechte Opposition gegen Evo Morales nach 2005 organisiert worden. Ihre Zusammensetzung war in den letzten Jahren breiter und offener geworden. Sie konnten zu Sprachrohren einer Kritik werden, die sonst fast keinen Raum mehr fand, denn der MAS hat fast alle gesellschaftlichen Kanäle besetzt.
Die Präsenz auf der Straße zusammen mit dem Einfluss in den Bürgerkomitees konnte die Stimmung nach der »abgesagten Stichwahl« ausnutzen. Die Regierung Morales hatte diese Mischung aus sozialem Protest und der Vorbereitung eines Putsches unterschätzt. Um sich zu retten, versuchte die Regierung, den Rassismus der Rechten und die vor allem städtische Bewegung gegen die Wiederwahl als Stadt/Land Spaltung mit Zuspitzungen, Verallgemeinerungen und Polarisierungen für sich zu funktionalisieren.
Für ihren Rücktritt waren letztlich Meutereien bei der Polizei entscheidend. Es gibt Meldungen, sie seien gezielt von der Rechten gekauft worden. Nach Morales‘ Rückzug enterte Camacho den Palacio Quemado mit Wappen und Bibel und verkündete vor brennenden Whipalas – die Flagge der Indigenen in Lateinamerika – das »Ende des Kommunismus«. Unter militärischem Schutz ernennt sich eine Ultrarechte mit Bibel in der Hand zur Übergangspräsidentin.
Ob die Machtübernahme gelingt, ist Mitte November 2019 noch offen. Zwischen Bürgerkrieg und Neuwahlen scheint alles möglich. In den letzten Tagen mobilisiert sich die indigene Mehrheit. Dabei sind die Grenzen zwischen Masistas und Gegnern der selbsternannten neuen Regierung fließend.
Die vielen Parallelen im Handeln der linken Regierungen der Region – in ihren Errungenschaften wie in ihren Fehlern – lassen sich nicht allein mit patriarchalem Caudillismo erklären. An den strukturellen Ursachen – Rentenökonomien mit einem »Umverteilungstaat« in der globalisierten Weltökonomie – konnten sie wenig bis nichts ändern. Die Krise des kapitalistischen Weltsystems, der Handelsstreit zwischen China und den USA machen Verteilungsspielräume enger. Damit sind auch die Bewegungen in Chile und Ecuador konfrontiert. Es ist zu hoffen, dass sie breit und entschlossen genug bleiben, um zu widerstehen. Für den »Tod des Neoliberalismus«, wie sie es in den Straßen Chiles nennen, muss der Funke überspringen, braucht es eine Gleichzeitigkeit und Verbundenheit weltweiter Kämpfe. ■
[1] Kurz vor den Wahlen hatte die Regierung Morales die Verträge mit einem Konsortium aus Rottweil zur Ausbeutung der Lithium-Vorkommen gekündigt. Die vermutete Unterstützung des Staatsstreiches aus dem Ausland wird von einigen mit »dem Hunger« nach Lithium seitens internationaler Konzerne erklärt.