Wildcat-Zirkular Nr. 64 - Juli 2002 - S. 3-8 [z64edito.htm]


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Editorial

Die Berliner Massen in Bewegung?

Nach den linken Nebelkerzen diesmal wieder wirkliche, leibhaftige Bewegungen zum Anfassen und draus Lernen. Damit hat »Empire«, das von Berlin und Venedig über Vicenza bis Buenos Aires die Kassen klingeln läßt, nichts zu tun. Und deshalb kommt in diesem Heft keine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Buch, dessen Erscheinen in deutscher Sprache bei Kritikern wie bei Bewunderern wahre Fieberzustände ausgelöst hat - aber ein paar Anmerkungen zu diesem Fieber.

Globale Bewegung?

Was machen und vor allem was denken die von der Presse »Globalisierungsgegner« genannten AktivistInnen der neuen Bewegung, wenn sie gerade nicht zu einem Gipfel reisen? Kann man überhaupt von einer neuen weltweiten Bewegung sprechen? Der Artikel Zum Stand der Bewegung schaut sich die politischen Komponenten dieser Bewegung näher an. Im anschließenden Interview erzählen zwei junge AktivistInnen aus Deutschland und Frankreich, wie ihre Politisierung verlaufen ist und wo sie den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten sehen. Die Unterschiede zwischen beiden Ländern sind offensichtlich: in Frankreich gibt es seit dem Generalstreik im öffentlichen Dienst 1995 jedes Jahr große Mobilisierungen; in Deutschland ...

Nach Genua wurde viel über den nun notwendigen Übergang von einer politischen Bewegung auf der Straße zu sozialen Kämpfen diskutiert. Der Streik einer McDonald's-Filiale in Paris erreichte durch die Aktivitäten dieser Szene internationale Aufmerksamkeit. Ein Unterstützungskollektiv macht weiter und hilft nun einer Gruppe von Zimmerfrauen, die seit drei Monaten gegen ihre miserablen Arbeitsbedingungen in der weltweiten Hotelkette Accor kämpfen: Streik bei der Putzfirma Arcade.

In Italien könnten die Proteste gegen die Gesetzesvorhaben der Berlusconi-Regierung, die die Ausbeutungsverhältnisse komplett neu ordnen sollen, solch eine Möglichkeit des Zusammenkommens von Bewegungen sein. Das Gesetz Bossi-Fini greift den schwächsten Teil der Arbeiterklasse an - die MigrantInnen. Die geplante Abschaffung des Kündigungsschutzes von 1970 soll den Weg frei machen zur weiteren Prekarisierung der Verhältnisse. Die Wanderarbeit in all ihren Formen hat eine zentrale Bedeutung innerhalb der weltweiten Umstrukturierung der Arbeitsverhältnisse. Hier gilt es sich einzumischen - und zwar ohne sofort ein neues universelles politisches Subjekt auf den Schild zu heben. »Entweder entsteht die Bewegung neu in Initiativen gegen das Gesetz Bossi-Fini und überwindet die organisatorischen Schwierigkeiten, in denen sie heute debattiert, oder sie geht zugrunde«, fordert ultimativ der »Tavolo Nazionale Migranti«. Hier versuchen GenossInnen, ihre Aktivitäten zu und mit den MigrantInnen zu bündeln - mit ersten Erfolgen: In Vicenza (Region Venezien), in dessen diffuser Fabrik seit Jahren sehr viele Einwanderer aus Afrika und Osteuropa arbeiten, fand Mitte Mai zum ersten Mal ein provinzweiter Migrantenstreik statt. Es war die erste Aktion dieser Art in Italien, die schon ihre Fortsetzung gefunden hat. Doch um die Einheit muß ständig neu gerungen werden: Zum Migrantenstreik in Vicenza.

Auch die Bahnreiniger bei der italienischen Eisenbahn sind Einwanderer, zum großen Teil allerdings aus dem Süden des Landes und schon im mittleren Alter, aber von den Arbeitsbedingungen her geht es ihnen kaum besser. Wie auch in der BRD wurde die Bahnreinigung vor Jahren an Subunternehmer ausgelagert, um über die Konkurrenz bei Ausschreibungen die Kosten immer weiter zu drücken. Die BahnreinigerInnen haben mit selbständigen Aktionen und Gleisblockaden viel Wirbel gemacht, um wenigstens ihren Status quo zu erhalten - während die Gewerkschaft verhandelte und letztendlich ihre Initiative ins Leere laufen ließ: Lotta sporca - ein Dreck-Streik.

Die größten »sozialen Kämpfe«, an denen sich spontan und mit allem Risiko hunderttausende von Arbeitern und Bauern beteiligen, finden derzeit dort statt, wo die Entwicklung des Kapitalismus in dieser Form auf der Kippe steht: in Argentinien und in China.

Die breite Mobilisierung auf den Straßen in Argentinien seit Dezember war Thema unserer letzten Beilage. Während inzwischen schon die eine oder andere Bankfiliale in Flammen aufging, breitet sich die Krise auf die Nachbarländer aus. Staat und Kapital suchen nach der einzigen Möglichkeit, aus der Krise rauszukommen: den Schuldenberg der Bevölkerung aufzubürden, die ihn dann durch harte Arbeit abtragen kann. Die scheint allerdings nicht bereit zu sein, zehn Jahre auf ihren Lohn zu warten. Doch die Erinnerung an die angeblich besseren Zeiten unter Perón trüben auch heute noch manchen Blick, und die Strukturen von Selbstorganisation haben die Bereiche der Produktion fast noch nicht erreicht. Wir wollten mit eigenen Augen mitkriegen, was sich in Argentinien tut: den Reisebericht Argentinazo - Aufstand gegen die Politik findet Ihr in der Beilage.

China ist weltweit das letzte große Reservoir an Arbeitskraft im Übergang zur Proletarisierung - und deshalb die große Hoffnung des Kapitals. Der radikale Abbau der alten Industrie und das Bauernlegen im Zuge der Privatisierungspolitik führen zu einer drastischen Verschlechterung der Lebensbedingungen der »freigesetzten« Arbeiter, die sich mit zum Teil sehr drastischen Mitteln zur Wehr setzen. Derzeit finden in China die größten Arbeiterdemonstrationen seit 1949 statt.

Das Regime versucht die Kontrolle zu behalten und fälscht die Zahlen. Gefälschte Statistiken, um die Investoren zu täuschen, sind allerdings kein chinesisches, noch dem alten System geschuldetes Problem, sondern aktuelle Praxis der großen Konzerne in den USA: die Kette der Skandale über gefälschte Bilanzen, hochbezahlte Manager, die Millionen für sich auf die Seite schaffen, lassen da konservative Wirtschaftsfachleute inzwischen die ganze Shareholder-Value-Idee verdammen und sehnsüchtig an die alten Zeiten zurückdenken, als der Vorstand noch im Interesse des gesamten Betriebes handelte, wohlgemerkt auch der Beschäftigten ... Aber es gibt heute keinen Spielraum für einen neuen Keynesianismus, wie einige AktivistInnen an der Spitze von Attac u.a. meinen.

Die gefälschten Zahlen zeigen, daß die Finanzmanager Verwertung erfinden müssen, um ihre Aktien vor dem Absturz zu bewahren. Gleichzeitig wird immer offener über einen Angriffskrieg diskutiert. Krieg ist nie eine Lösung dieser Verwertungsprobleme, er kann höchstens der einzig mögliche Schritt heraus sein aus der völlig verfahrenen Situation, in der sich das Kapital heute befindet.

Der zweite Teils des Artikels Globaler Krieg um die Ordnung der Welt zeigt, welche realen Verbindungen es gibt zwischen der Bombardierung Afghanistans und der Enron-Pleite, die die Ebene des reinen »Skandals« längst verlassen hat. Enron ist kein böser Bube inmitten von ehrenwerten Geschäftsleuten: seit dem Schlußbegräbnis der WTC-Opfer läßt sich der Blick in die immer tiefer werdenden Abgründe der gesamten US-Ökonomie und ihre Verquickung mit der politischen Klasse an der Macht nicht mehr zudecken, die ihre Zuflucht im Krieg sucht.

* * *

Befinden wir uns damit auf dem Weg zu einem Imperium, englisch Empire? Das Anfang Juni vom US-Senat gebilligte Gesetz, das die Regierung zur Invasion in die Niederlande ermächtigt, sollte ein US-Bürger am internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt werden, und die gefälschten Zahlen der New Economy ziehen den analytischen und theoretischen Aussagen von Hardt und Negri jeden Boden weg. Aber Analyse und kohärente Theorie sind das letzte, worum es den Autoren geht.

Sicher, »Empire« wurde vor dem Absturz der »New Economy« geschrieben, die das Wertgesetz auszuhebeln schien. Aber wie abstrus wirkt angesichts der Wirklichkeit die im Buch enthaltene Huldigung der amerikanischen Verfassung, in der angeblich schon der Kommunismus enthalten ist! Das selbstverwaltete Bürgertum, das neue politische Unternehmertum als Keimzelle einer neuen Gesellschaft: das ist das Holland Spinozas, die Bürgerrepublik der Handwerker und Kaufleute (und nur diese begüterte und männliche Schicht war »multitudo« in seinem Sinne!). Aber wer spricht heute noch von den Unternehmern der »New Economy«?

Der große verlegerische Erfolg des Buches ist nicht mit tiefen analytischen Einsichten erklärbar. Diese Mischung aus philosophisch untermauertem Kitsch, religiöser Heilsgewißheit und Diskursen um Souveränität lädt nicht ernsthaft zur politischen Debatte ein. Offene Fragen, um die seit Jahren heftig gestritten wird wie: wie sieht die neue Klassenzusammensetzung aus, was ist heute die kapitalistische Fabrik, wie kann unsere Rolle als AktivistInnen in diesen Auseinandersetzungen sein, wie bauen wir ein Verhältnis zu den »MigrantInnen« auf, das nicht paternalistisch ist - all das wird einfach zugeschüttet mit dem schillernden Begriff der »Multitude« (in der deutschen Ausgabe weniger schillernd als »Menge« übersetzt), dem neuen politischen Subjekt, das das Imperium von innen her aushöhlt. Ist die Multitude nun die große weltweite Mehrheit der Ausgebeuteten, Entrechteten, Proletarisierten - oder ist sie die neue politisch-technische Mittelklasse, die antirassistische Diskurse pflegt und selbständigen, immateriellen Beschäftigungen nachgeht? »Multitude« ist das Versprechen an die Leser, daß sie sich solche Gedanken gar nicht mehr zu machen brauchen. Als die englischsprachige Ausgabe kurz nach den WTO-Protesten in Seattle erschien, konnte sie als Message an die neue Bewegung gelesen werden, die ihnen sagt: Ihr seid es! Macht einfach weiter so! Erster Referent des Buches ist eine Bewegung, eine soziale Schicht, eine politische Schicht, die nach ihrer gesellschaftlichen Rolle sucht. Eine Schicht, die nach den Niederlagen der 80er Jahre nach lösbaren Problemen gesucht hat und die Selbstverwirklichung in der immateriellen Arbeit, im Programmieren von Prozessen, gefunden hat, mit einem Rest an Unzufriedenheit. Und da ist »Empire« hilfreich: wie es ein amerikanischer Leser auf einer Mailing List treffend formulierte: »Indem wir das Buch lesen, werden wir selbst zur Multitude«. In seinen 33 Vorlesungen zu Lenin hatte Negri schon 1973 anhand des Begriffs Klassenzusammensetzung herausgearbeitet, wie die Theorie die Kader schafft und die Kader die Arbeiterklasse schaffen können: diese Umkehrung sei genau Lenins Ansatz und der Schlüssel zu seinem Erfolg gewesen. Den ersten Teil des Satzes hat Negri in den 70er Jahren in Italien bewiesen; glücklicherweise ist es bislang den Kadern nicht gelungen, die Klasse nach ihrem Bild zu schaffen. In »Empire« wird dieses Konzept wieder aufgelegt - diesmal im Spinoza-Kostüm: »Der Prophet schafft sich sein eigenes Volk«.

Negri war schon immer der große Abstauber, der unverfroren klaut und dann umdreht, wie es ihm reinpaßt. Theoretisch innovativ war er selbst an ganz wenigen Punkten, die sich schließlich als fatal erwiesen: seine Analyse des Keynesianismus als »Deal«; seine seit 1971 ständig wiederholte These, daß das Wertgesetz nicht mehr gilt - und folglich der bewaffnete Aufstand angesagt ist, weil die Fabriken nicht mehr wichtig sind. Ende der 70er Jahren stilisierte er die Reste der Jugendbewegung von '77, die er als »gesellschaftliche Arbeiter« die Nachfolge des Massenarbeiters der großen Fabriken antreten ließ, zur Avantgarde dieses Aufstandes. Eine ganze politische Generation verheizte sich im bewaffneten Kampf.

Die Belesenheit der Autoren, die alles erwähnen, was auf dem Markt linker Sozialwissenschaft Rang und Namen hat, vermittelt den Eindruck von Wissenschaftlichkeit, von Analyse der Weltlage. Aber man kann auch Hunderte von Fußnoten und Literaturnachweisen machen, ohne nur eine Aussage zu belegen. Viele Rezensenten haben inzwischen kopfschüttelnd nachgewiesen, daß die Autoren einen sehr eigenwilligen Umgang mit dem Material pflegen und Begriffe so umdeuten, daß sie in ihre Interpretation der Entwicklung passen. Die Fülle von Anspielungen und Andeutungen ist so nur Hintergrund für eine geheime Botschaft an die neuen Kader der »Bewegung«. Diese erhalten mit den neuen Begriffen Instrumente in die Hand, die sie direkt politisch anwenden können.

Das ganze Buch ist nach dem aus früheren Büchern bekannten Stufen-Modell aufgebaut (im Buch »Passagen«): wir befinden uns gerade im Übergang von der Moderne zur Postmoderne; was wir früher gesagt haben, war damals richtig; heute ist alles anders: nicht mehr Imperialismus, sondern »Empire«. Deshalb müssen wir auch nichts wegwerfen, was linke Theorie in den letzten Jahrhunderten produziert hat - bis auf die Nationalitätentheorie von Stalin vielleicht. So macht man sich wenig Feinde, denn alles hatte einmal seine Gültigkeit, jeder kann sich heute neu anschließen. Der einzige von ihm erwähnte Kontrahent, den er nicht einfach abtun kann, ist vielleicht Wallerstein - denn in dessen Untersuchungen werden viele Momente, die Hardt/Negri als den letzten Schrei ihrer eigenen Entdeckungen ausgeben wollen, als geradezu konstitutive Merkmale eines kapitalistischen Weltsystems herausgearbeitet.

Besonders hanebüchen sind die Kapitel, in denen sich die Autoren mit der Produktion beschäftigen. In krassem Gegensatz zu ihrem vorgeblichen Ansatz, aus der Veränderung der produktiven Kooperation die Möglichkeit des Kommunismus zu entwickeln, sind die diesbezüglichen Kapitel direkt aus hipper Management-Literatur abgeschrieben - die, Ironie der Geschichte, inzwischen völlig out ist und verramscht wird. Die Beschreibungen der Wirklichkeit sind eine Karikatur, aber an einer Stelle steht in dem Buch ja tatsächlich: »Begriffe schaffen die Wirklichkeit«.

Empire verbreitet also Nebelkerzen, und deshalb paßt kein Schwerpunkt-Artikel in dieses Heft. Grund zur Beunruhigung? Eher nicht, da hat der Rezensent in der Berliner Zeitung vom 22.3. recht, der anläßlich der Präsentation des Buchs in der Berliner Volksbühne schrieb: »Bevor hierzulande überhaupt jemand darin gelesen hat, hat sich Empire als der heißeste Scheiß auf dem Theoriesektor durchgesetzt; ein Popbuch, wie es dies in der Philosophie seit dem Anti-Ödipus (Vielheit! Kein Zentrum!) nicht gegeben hat. Es steht allerdings auch ähnlich viel Unsinn darin wie im Anti-Ödipus: das merkt man schnell, wenn man sich die Mühe macht, Empire zu lesen oder Michael Hardt einen Abend lang zuzuhören. Es ist 'heißer', also inspirierender Unsinn - insofern ist Empire wahrhaftig ein Manifest: ein Buch, das sich zur Bewunderung eignet, aber nicht zur Debatte. Die Berliner Massen, das spricht für sie, haben dies schnell erkannt. Kaum, daß Hardt sie zur Diskussion seiner Thesen einlud, da strömten sie ebenso hektisch aus der Volksbühne wieder hinaus, wie sie zuvor in diese hineingekommen waren.«


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