Editorial - Wildcat-Zirkular 59/60
Migration, Antikapitalismus und Revolution
Sonntag abend, 22. Juli 2001
Fertiggestellt haben wir dieses Zirkular am Wochenende 21./22. Juli, als in Genua bei den Protesten gegen den G8-Gipfel ein Demonstrant von den Bullen erschossen und viele andere brutal zusammengeknüppelt wurden. Es ist zu früh, um aus der Zuspitzung der Situation in Genua schon Schlußfolgerungen zu ziehen. Aber soviel scheint klar - nach Genua wird auf allen Seiten ein intensiver Diskussionsprozeß darüber einsetzen, wie es weitergehen kann.
Den Herrschenden dämmert es, daß sie ihre »feierlichen« Gipfeltreffen dem Publikum nicht mehr verkaufen können, wenn sie sich nur noch mit Todesschüssen, Polizeibrutalität und militärischen Notstandsgebieten durchsetzen lassen. Eine bürgerliche Zeitung kommentierte hämisch, angesichts der Tatsache, daß bei diesen Gipfeln ohnehin nur die Unfähigkeit demonstriert werde, die Probleme der Welt - sprich: des Kapitalismus und seiner Barbarei - in den Griff zu bekommen, sei der Preis etwas zu hoch. Mit all ihrer Repression, die sie jetzt vor allem in Göteborg und Genua in aller Öffentlichkeit vorgeführt haben, gelingt es ihnen nicht mehr, der von ihnen verteidigten Gesellschaftsordnung irgendein Ansehen zu verschaffen. Wenn sie schon für ihre Gipfel-Shows Tote einkalkulieren müssen, wirft dies ein deutliches Licht auf ein Weltsystem, das täglich massenhaft tötet. Gleichzeitig bröckelt die Legitimation dieses Systems überall auf der Welt. Ausgehend von den USA rutscht die Weltwirtschaft nach dem Ende der Illusionen über Börsen- und Internet-Ökonomie immer rasanter in eine umfassende Krise - es war bezeichnend, daß sich die Staatschefs über diese Frage in Genua schon nicht mehr einigen konnten.
Im Gegensatz dazu hat sich in den letzten zwei Jahren eine Kette von Mobilisierungen entwickelt, die die Frage der revolutionären Veränderung wieder auf die Tagesordnung gesetzt hat. Sie beinhalten den Anspruch auf eine weltweite Veränderung, aber in ihrem Bezug auf die Repräsentation von Regierungsgewalt fehlt ihnen der Zusammenhang zu den materiellen Kräften, auf denen eine solche Umwälzung allein beruhen kann.
Um diesen Anspruch und die Widersprüche und Sackgassen innerhalb der Mobilisierungen geht es in den Texten dieses Zirkulars. Als wir es konzipierten, wollten wir Material und Thesen zusammenstellen für die aktuellen Diskussionen über eine neue Perspektive der sozialen Revolution, die in vielen bisherigen »Teilbereichen« aufgebrochen sind. Vor dem Hintergrund der Zuspitzung in Genua mag einiges davon überholt oder ergänzungsbedürftig erscheinen - wir denken aber, dass die Texte auch für die jetzt anstehende Debatte Material liefern können.
Die aktuelle Krise politischer Praxis hierzulande hat sich im Spannungsfeld zwischen zwei Verschiebungen entwickelt, die sich oberflächlich so beschreiben ließen: der Staat scheint nach »links« gerückt zu sein und Widerstand hat wieder einen »revolutionären« Klang bekommen. Vor dem Hintergrund eines staatlich verordneten »Antifaschismus« und »Antirassismus« in Verbindung mit dem sogenannten »Paradigmenwechsel« (Süssmuth) in der »Zuwanderungspolitik« sind die Hauptfelder linker und linksradikaler Politik der 90er Jahre in die Krise geraten. Was einstmals noch als mobilisierungsfähige Variante gesellschaftsverändernder Politik gedacht oder behauptet war, verlor seinen Biß. Auf der anderen Seite hatten sich aus den zunächst zahnlos-reformistischen Kampagnen gegen Freihandel und Neoliberalismus militante Gipfelstürme entwickelt, die wieder von »Antikapitalismus« und gelegentlich auf von »sozialer Revolution« sprachen. Dabei ist aber noch nicht ausgemacht, ob »Antikapitalismus« nur zu einem neuen oder weiteren Teilbereich des politischen Geschäfts werden wird, oder ob es tatsächlich wieder um Revolution geht. Auf drei Ebenen haben wir zu dieser Frage Texte zusammengestellt:
1. zur Bedeutung der Migration sowohl für die Zukunft des Kapitalismus als auch für die Perspektiven der Befreiung. In einem längeren Thesenpapier betonen wir den Zusammenhang zwischen der Wende in der Einwanderungspolitik und den sozialpolitischen Reformen, mit denen die rot-grüne Regierung der stockenden Akkumulation des Kapitals entgegensteuern will. Nur als Streit um die nationalen und regionalen Ausprägungen eines globalen Klassenverhältnisses lassen sich die tagespolitischen Wendungen in der Migrationspolitik begreifen, ohne uns selber in den Fallstricken dieser oft sehr oberflächlich geführten Debatte zu verstricken. Dem Thesenpapier haben wir daher ein paar Überlegungen zum aktuellen Streit um die Süssmuth-Kommission vorangestellt. Es folgen Artikel über einen Arbeitskampf von Flüchtlingen in einer Zulieferklitsche bei Euskirchen, über den Widerstand der EinwanderInnen in Spanien gegen die Verschärfung des Ausländerrechts und die Bedeutung der rassistischen Angriffe auf und die Gegenwehr von maghrebinischen Landarbeitern in El Ejido, sowie ein kurzer Bericht über einen Streik von Seeleuten im Hamburger Hafen, der einen Blick auf die Bedingungen dieser internationalen Transportarbeiter wirft.
2. zu den Entwicklungen und Debatten in den politische Mobilisierungen: wir drucken die zentralen Thesen zur Kritik der Antifa aus einem Flugi, das wir auf dem Göttinger Kongreß verteilt haben. Aus den mittlerweile umfangreichen Diskussionbeiträgen zur »Antiglobalisierungsbewegung« haben wir vier Texte ausgewählt, die sich kritisch mit bestimmten Tendenzen auseinandersetzen: einen Offenen Brief an den Gründungsvater von ATTAC aus Frankreich, zwei kritische Beiträge zu den »tute bianche« in Italien. Auf den Text Demaskiert die weißen Überzieher und einige andere kritische Beiträge sind die »tute bianche« mittlerweile in einer Erklärung (bei indymedia) eingegangen und weisen bestimmte Anschuldigungen zu ihrem praktischen Verhalten zurück. Wir können nicht beurteilen, wer hier recht hat - aber in ihren Aussagen zu ihrem Politikverständnis bestätigen sie nur den politischen Kern der Kritik. Und dann haben wir uns das fast schon zur Bibel der »Antiglobalisierer« erkorene Buch No Logo! mal genauer angesehen.
3. zur Realität der weltweiten Kämpfe: Das größte Problem der Mobilisierungen gegen »Globalisierung« und »Neoliberalismus« liegt nicht in ihren ideologischen Widersprüchen, sondern in der Getrenntheit von der Breite der proletarischen Kämpfe auf der ganzen Welt. Diese Getrenntheit reflektiert die entscheidende Schwäche dieser Kämpfe selbst: sie bleiben isoliert voneinander, gefangen in den Grenzen ihrer Nationalität, ihrer Branche, ihrer Lokalität oder ihres jeweiligen Bezugs auf die staatliche Gewährung von Rechten. Das Klassenverhältnis existiert seit der Existenz des Weltmarkts nur als globales Verhältnis, aber es wird tausendfach gebrochen durch Spaltungen, Konkurrenzbeziehungen und staatliche Regulierungen. So sehr in jedem einzelnen Konflikt oder Kampfzyklus das dahinter stehende proletarische Klassenverhältnis sichtbar wird, so sehr reproduzieren sich diese Spaltungen und Hierarchien zunächst in den Kämpfen und nehmen ihnen immer wieder ihre Sprengkraft. An die Wurzeln des verhaßten Systems zu gehen, kann aber nur bedeuten, sich auf diese Ausbrüche des Klassenantagonismus zu beziehen, sie ernstzunehmen, zu untersuchen und in ihnen präsent zu sein. Sonst läuft jede »Politik« Gefahr, sich am Geschäft der staatlichen Regulierungen gewollt oder ungewollt zu beteiligen.
Das gesamte Szenario von Krisenangriff, verschärfter Ausbeutung und Proletarisierung auf der einen, Rebellion, Streik und Widerstand auf der anderen Seite ist weit breiter als wir es hier darstellen können. Es lassen sich auch noch keine allgemeinen Linien oder Tendenzen dieser Kämpfe herausschälen. Zu so wichtigen Entwicklungen wie z.B. den jüngsten Riots im United Kingdom, zuletzt in Bradford, der aktuellen Streikwelle in Spanien, die die alten Gewerkschaften immer mehr in die Krise treibt, oder der weltweiten Entlassungswelle in den jüngst noch als Hoffnungsbranchen des Kapitalismus gefeierten IT-Branchen können wir hier noch nichts sagen. Zusammengetragen haben wir einige Facetten der Situation: die Aufstände in Algerien und Bolivien (die inzwischen den Stand der Artikel schon wieder überholt haben), die tatsächlich globale Streikwelle in der Luftfahrt, ein Rückblick auf die Entwicklung der Kämpfe in Indonesien seit der Asienkrise. Aus Brighton haben wir einen spannenden Bericht über einen kleinen lokalen Kampf bei der privatisierten Stadtreinigung bekommen, der international nicht bekannt geworden ist, aber beispielhaft für die Konflikte ist, die sich überall an der Umstruktierung der Dienste entzünden.
Zum Abschluß dokumentieren wir den Solidaritätsaufruf für einen Menschen, der sehr aktiv in der Erwerbslosenbewegung war und vor allem mit Gruppen in Frankreich in Kontakt stand. Er wird Anfang August angeklagt, weil er in purer Verzweiflung den Direktor des örtlichen Arbeitsamtes getötet hat. Als diese Meldung in Deutschland in den Kreisen herumging, die zumindest über Mailinglisten Kontakt zu ihm hatten, dominierte sofort die Angst vor eigener Kriminalisierung und vor der Benutzung dieser Tat zur Diffarmierung der Erwerbslosenbewegung die Szene. Es bedurfte erst der Anstöße aus der Bewegung in Frankreich, damit diese Haltung kippte und nun auch hier eine Reihe von Gruppen Werner Bräuner unterstützen und die billige Hetzkampagne in den Medien umdrehen zu einer Kampagne gegen dieses System.